Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Das Dankfest

Machen mußte was, sag ich!« rief Monich. Herr Kortüm hatte zwei Briefe von grünlicher Farbe in der Hand und saß auf einer Stuhlkante in der Hinterstube des Leinwandladens. Sein Kinn lag tief auf der Brust. Die Papiere zitterten in seiner Hand.

»Zu spät.« Herr Kortüm schüttelte langsam den Kopf.

»Nischt is zu spät!«

106 »Mein Pensionsgast, dieser Wingen, reist erst morgen abend ab. Aber morgen um zwölf« – er wies auf den einen Brief – »sperren sie mir den Fernsprecher. Gegen fünf wird's dunkel, aber um ein Uhr« – er schlug mit dem Handrücken auf den anderen Brief – »dreht mir das Elektrizitätswerk das Licht ab, wenn ich nicht bezahle.«

»Je, Kortüm, so geht's nich weiter –«

»Ich werde zu Kuffert gehen.«

»Nee, zu dem gehste nich.«

Herr Kortüm erhob sich: »Es ist ja nicht weit.«

»Aber der Quere is es! Gib mir mal die Lichtrechnung her. Die bezahl ich. Telefon is nich so wicht'g. Das stört meistens bloß.«

»Ich gehe ins Bette.«

»Nee, du bleibst auf.«

»Und ich werde mir die Decke über die Ohren ziehen.«

»Nich so aufgeregt, Kortüm. 'n Theater braucht viel Licht, das haben wir eben vergessen.«

»Und die Klingel werde ich abstellen.«

»Na, denn muß ich raus mit der Sprache. Aber 's sollte doch eine Überraschung sein.«

»Danke für Überraschungen.«

»Höre doch erst zu! Aber nich wahr: du tust so, als ob de nischt weißt. Du stellst dich so recht voll Freude hin un schüttelst immer mitm Kopp un sagst: aber nee, aber nee, meine Herrn. Un nach der Ansprache mußte auch 'n bißchen gerührt sein, am besten, wenn se singen.«

»Wer singt?«

»Nu, 's Ständchen.«

»Wo?«

»Vor deiner Türe.«

»Warum denn?«

»Damit de Deputation un de Kommission mit mehr Feierlichkeit auftritt, Kortüm!«

Herr Kortüm drehte sich mit unerwarteter Gewandtheit blitzschnell auf dem Absatz herum und rief: »Die Kommission kommt schon?!«

»Aber nu freilich.«

Mit elastischen Schritten ging Herr Kortüm auf und ab. Die Kaffeelöffel klirrten an den Tassen auf dem Tisch. »Hole Tinte und Feder, Monich. Ich will dir einen Schuldschein schreiben.«

»Also nu hör auf. Die Lichtrechnung bezahl ich. Du hast nischt verdient. Aber meine Esel haben sich rentiert.«

107 Herr Kortüm dachte nach: ja, diese furchtbar hohe Lichtrechnung hat den anderen zum Verdienen geholfen. Wenn nun sein Freund das Licht bezahlte oder wenigstens auslegte, fand eigentlich nur eine gerechte Verlagerung der Last statt. Übrigens nur auslegte: Herr Kortüm stand dicht vor einer großen Wendung. Die Kommission war ja schon unterwegs . . . seine Lage würde bald von Grund aus gefestigt sein. »Also du bezahlst«, sagte er.

»Is abgemacht. Kein Wort mehr.«

»Monich – ich werde dessen seinerzeit gedenken.«

»Hm, na –«

»Dein Eselverkehr wird noch ganz andere Dimensionen annehmen.«

»Wenn's nur so bleibt wie jetzt.«

»Nicht verdoppeln wirst du die Zahl deiner Esel, nicht verdreifachen, Monich: du sollst noch ganze Eselherden besitzen.«

»Na, weißte –«

»Wie Hiob, ehe ihn Gott schlug, fünfhundert Eselinnen auf die Weide trieb.«

»Hiob un ich! – nee, Kortüm, jetzt hörste auf!«

»Es wird eine bewegte Zeit kommen« – schwer legte Herr Kortüm seine beiden Hände dem kleinen dicken Feuerwehrhauptmann auf die runden Schultern – »eine große Zeit . . .« – Herr Kortüm blickte über Monich weg ins Wesenlose – »eine lebendige Zeit.«

Solche Worte kannte Monich, und den Kortümblick ins Ferne kannte er auch: »Gott steh mir bei – Kortüm! Kortüm!! Du hast wieder was vor!«

Herr Kortüm schüttelte den Kopf.

»Nischt haste vor? Gar nischt nich?«

»Ich? Nein.« Herr Kortüm reckte den Arm aus und zeigte auf den goldenen Turmhahn draußen, der sich über dem Kirchendach im Winde drehte: »Diesmal kommt's von oben. Von ganz oben. Hoch herab. Von den Behörden herunter. Diesmal steht's nicht in der Luft.«

»De Behörden«, murmelte Monich verstört.

»Der Staat«, berichtigte ihn Herr Kortüm und begann mit wunderbar wiegenden Schritten in der kleinen Stube herumzuwandeln.

»Na, nu rede doch wenigstens fert'g.«

»Vor zwei Wochen sind die Schriftstücke und Entwürfe an die staatlichen Stellen abgegangen. Ich bin angenehm berührt, zu hören, daß die Kommission heute bereits erscheint.«

108 »Was hat denn das aber mit unsrer Deputation zu tun, die wolln doch –«

»Schweige, Monich. Reden wir nicht von der Kommission, ehe sie da ist. Wir wollen uns beide nicht die Freude der Überraschung verderben.«

Herr Kortüm wandelte unentwegt im Kreise herum. Die Stube dröhnte. Hin und wieder ließ er Bruchstücke großer Sätze fallen: »und so werden wir denn, meine Herren, den großen Gedanken . . .« Monich wischte sich über die Stirn, sah dumpf in den leeren Sessel vor ihm und sprach: »Du hast aber doch eben noch hier drinne gesessen un niche mal Geld fürs Licht gehabt . . .«

»Jaja, Monich, das menschliche Leben« – Herr Kortüm winkte dem Turmhahn zu – »es dreht sich wie du, von Wind zu Wind, von Plan zu Plan, aber einmal kommt ein Hauptplan, einmal weht ein Grundwind –«

»Was denn für ein Hauptplan?«

»Du kennst ihn doch. Reden wir nicht darüber, ehe die Kommission sich geäußert hat.«

»Nischt weiß ich.«

Herr Kortüm schüttelte seinen Freund und sagte leise: »Unsern Plan! Auf dem Lohberg –«

»Etwa den Turm?«

»Vielleicht ein Turm. Es kann auch ein Thingstein sein, ein Dolmen, wenn es nur ein Wahrzeichen wird, eine Landmarke. Dann versammeln sich schon Menschen drum herum, genießen die Aussicht, erquicken sich – ich als Gastwirt muß auch daran denken – kurz, ein Punkt muß gesetzt werden. Im Menschen liegt ein geheimer Drang nach Punkten. Sieh das Land an von der Biskaya bis zum Pamir. Überall siehst du Punkte, an die sich dieses unstete Geschlecht anhalten kann.«

»Un gesetzt vom Staat?«

»Ja.«

»Das haben sie dir geschrieben?«

»Nein.«

»Na, woher weißt de denn –«

»Ich habe an den Staat geschrieben.«

»Aber – Kortüm!«

»Und zwar derart überzeugend, und die Entwürfe sind so zwingend, meine historischen Rückblicke so klar – jaja, du siehst's ja: die Kommission ist bereits aufgebrochen.«

109 »Halt, Kortüm! Ich habe doch unsre Kommission gemeint –«

»Schweige, Monich. Verdirb die Überraschung nicht.«

»Aber die Deputation un das Ständchen –«

»Schweige!« donnerte Herr Kortüm.

»Aber –«

Herr Kortüm ging zur Tür: »Kein Wort mehr! Ich weiß alles, aber ich will nichts wissen.«

Die Tür schloß sich hinter Herrn Kortüm.

Sofort nach seiner Ankunft auf dem Schottenhaus entfaltete Herr Kortüm eine ungeheure Tätigkeit. Das Fensterbrett des Südfensters wurde abgeräumt. Er prüfte, ob sich die großen Fensterflügel leicht und lautlos öffnen ließen. Der Hausknecht mußte die Fensterangeln ölen und Liese den Schnee kehren. Im Saal ließ Herr Kortüm links und rechts vom Fenster zwei Lorbeerbäume aufstellen. Auf dem Dach wurde die große Fahne gehißt. Rotwein wurde warm, Weißwein kalt gestellt, ein Faß Bier angesteckt und ein umfangreicher Imbiß angerichtet. Schließlich konnte Herr Kortüm einen zufriedenen Blick auf seine Anstalten werfen. Er kleidete sich um und verwendete die Zeit bis zum Eintreffen der Kommission auf ein letztes Studium seiner Lohbergentwürfe.

Wingen wollte eigentlich schon in Besenroda unten sein. Als er aber hörte, daß sich in Kürze eine große Feierlichkeit mit Musik auf dem Schottenhaus entwickeln werde, wurde der Dichter neugierig und beschloß zu warten. Das war ein Opfer, denn er gab seinen letzten Nachmittag vor der Abreise her und hatte doch in Besenroda wichtige Arbeiten zu erledigen. Wingen trieb Maskenstudien. Zu seinem neuen Stück waren sie unerläßlich, und der Schriftsteller tat seine Arbeit gründlich – nicht wie der Schulmeister, der sich zwei Masken kaufte, übers Sofa hängte und dann dachte, er wüßte nun, was Larven sind. Klaus Scharts Kenntnisse waren auch danach. Nein, Wingen studierte von Grund aus: eigenhändig modellierte er beim Maskenmacher Albrecht aus Gaze und Pappmasse so ein geheimnisvolles Ding, und zwar gleich eine Kolossalmaske. Wer Gutes leisten will, muß so groß wie möglich anfangen.

Auf Albrechts Frage, was denn das Unding darstelle, hatte Wingen leichthin geantwortet: es wäre – ja, so eine Art Dämon wäre es. Schon nach ein paar Tagen erklärte Albrecht: »Nee, das geht nich. Für so'n Untier is die kleine Stube zu enge. Kommen Sie, wir tragen Ihrn 110 Dämon in die Kammer nauf. Da sind Sie mit'm alleine un können sich bewegen.«

Vergnügt bezog Wingen das neue Atelier. Sämtliche Mitglieder der Familie Albrecht halfen, Wingens Dämon zu ihrer Stube hinaus, über den Vorsaal und die enge Treppe hinauf in die Bodenkammer zu tragen. Das war kein leichter Transport. Schwer war der Dämon nicht, aber unhandlich und empfindlich: er war noch etwas feucht. Ihm fehlte der richtige Halt in sich, und er gab bei der Berührung nach. Aber es gelang schließlich, und der Dämon saß nun auf Albrechts Dachboden. Die Kammer hatte drei schräge Wände, an der vierten senkrechten Wand wurde die Larve aufgerichtet und wirkte in dem niedrigen Raum noch kolossaler. Furchtbar stand Wingens Maske und starrte: wie bei manchen Köpfen der Alten wußte man nicht, ob das ein Jünglings- oder ein Mädchenkopf sein sollte.

»Na«, sagte Albrecht, »die Maske paßt aber keinem lebendgen Menschen. Die kauft Ihnen niemand ab!«

Es war ein Glück für das unbeirrte Studium des Larventums, daß Wingen wenigstens seinen Gleichmut gegen den Klatsch wiedergefunden hatte. Er schien in seiner Einstellung zu schwanken: vor kaum sechs Tagen war er Konstanze gegenüber ängstlich empfindlich gegen Gerede gewesen – heute erforschte er gradlinig und unabhängig das Maskenwesen. Die Besenröder wußten gar nicht, wo sie zuerst anfangen sollten mit Reden: auf Albrechts Boden saß ein Komödiant aus Weimar, oder was der Kerl sonst war, und machte Masken. Das war doch einmal was! Zuletzt schien sich des Volkes Stimme auf die Tatsache festzulegen, daß Lotte ›zum Theater‹ wolle, und sie hätte schon Stunden bei dem Mann in der Bodenkammer. Auf der Schottenbühne hatte sie ja bereits einmal das Sprechen versucht.

Wingen vernahm nur das Murmeln der Masse, den untergelegten Text verstand er nicht. Murmeln störte ihn nicht. Er konnte recht gut arbeiten dabei. Wenig genug wußte er von der Praxis der Maske. Lotte mußte ihm immer wieder helfen.

Jetzt sah Lotte nach der Uhr. Er mußte gleich kommen. Sie kochte ihm ein Töpfchen Stärkewasser, schnitt Gazestreifen und Zwickel zurecht, rührte auch ein Glas voll Rosafarbe ein und trug das alles in die Dachstube. Da sah es liederlich aus. Lotte las die Zinkdrahtreste vom Fußboden auf, sie rückte einen Stuhl, stellte das Tischchen zurecht. Sie ordnete Scheren und Pinsel in eine gerade Reihe. Es fing schon an dämmrig zu werden. Ob sie Licht machte? Sie sah nach der Maske hin.

111 Riesengroß stand Wingens Dämon vor der bleigrauen, wolkig gestrichenen Wand, starrte und lächelte über Lotte weg – das Gespenst schien in Sturmwolken zu schweben. Lotte überkam das Grauen. Sie lief hinaus.

Sie kommen!« rief Liese.

Wingen wollte ans Fenster gehen. Herr Kortüm faßte ihn am Arm: »Nicht gleich. Lassen wir diese Leute erst eine Weile in Ruhe. Liese, du stellst dich hinter den Lorbeerbaum und sagst uns, was du siehst.«

Liese lugte um den Busch: »Sie haben Zylinder auf.«

»Kennst du jemand?«

»Ich kenne se alle.«

»Dummes Frauenzimmer«, murmelte Herr Kortüm und wandte sich an Wingen: »Es handelt sich nämlich um Bausachen. Öffentliche Bauten, wissen Sie? Die Behörden . . .« Herr Kortüm wies nach dem Fenster und stellte seinem Gast die noch nicht sichtbaren Herrschaften vor.

»Links stehn de Bässe«, rief Liese. »Um Hiebrichen rum. Da kommt Albrecht un trägt was in Papier gewickelt. Mickewitz stellt sich unter die Lampe un liest in'm Zettel. Jetzt kommt Herr Kuffert. Herrjes, da is auch der ganze Gemeinderat. Jetzt steigt der Schulmeister aufn Tuffstein. Jetzt –«

»Erhebe dein Haupt und juble mit uns«, hob der Männerchor draußen an. Herr Kortüm stand und rührte kein Glied. Langsam neigte er den Kopf auf die Schulter, ließ den Unterkiefer hängen und sank wie ein gefällter Baum auf die Wandbank. Keinen Laut gab er von sich. Wie den Mann das mitnimmt, dachte Wingen. Herr Kortüm sah beängstigend aus. »Fehlt Ihnen was?« fragte Wingen und rüttelte ihn leise an der Schulter. Herr Kortüm sah ihn aus leeren Augen an.

»Mir?« sagte er nach einer ganzen Weile und besann sich mühsam. Dann schüttelte er den Kopf.

Ihm war nicht gut. Er wischte immer noch den Schweiß. Dem Jubel vor seinem Fenster schien er nicht gewachsen zu sein. Ein Glück, daß er alle Einzelheiten vorher geregelt hatte. Liese wußte genau, was sie zu tun hatte. Bei Beginn des zweiten Verses öffnete sie den großen Fensterflügel. Herr Kortüm ließ sich einen Schluck Wasser geben. Er sah nicht mehr so grau im Gesicht aus wie vorhin.

»Jetzt sin se beim letzten Vers! Jetzt müssen Sie kommen!« rief Liese.

Herr Kortüm stand auf. Er wiegte sich ein wenig hin und her. Ja, 112 es ging. Er stand soweit wieder fest aus den Beinen. Er wandte sich zum Fenster.

»Unsre Liebe, teurer Greis, trägt dich fürder durch das Leben« – Herr Kortüm ging langsam auf das Fenster zu. Als die Bässe sich mit Gewalt in die Zeile »bis an dein kühles Gra–a–ab« hinabstürzten, schritt er etwas rascher, so daß er pünktlich bei »Gra–a–ab« am Fenster zwischen den beiden Lorbeerbäumen erschien.

Nun bestieg Mickewitz den Tuffstein. Monich hatte offenbar die Lichtrechnung bezahlt, denn die Hauslampe strahlte verschwenderisches Licht auf das Manuskript des Apothekers. Er vermochte, ohne zu stocken, eine zu Herzen gehende Ansprache zu halten. Mickewitz entwarf zunächst ein Gemälde von Not und Armut im Gebirge. Er, der doch mitten unter dem Volke wohnte und in engster Berührung mit ihm stand – Mickewitz, an den von Berufs wegen so viel Jammer und Elend herantrat, er war dazu der rechte Mann: das Echo des Lohberges warf seine Worte schaurig zurück. Liese fuhr mit dem Schürzenzipfel an die Augen, aber der Hausknecht zog ihr den Arm herunter: »Nach der Rede erst, Dunnerwetter.« Herr Kortüm hörte das Echo von seinem alten Berg – er trat ganz nahe an die Fensterbank und sah nach rechts: da lag er und hielt seinen kahlen Gipfel wie einen Bauplatz in die Nacht hinaus. Das Sternbild des großen Wagens stand schräg darüber. Der vordere Deichselstern berührte fast den Scheitel des Lohberges. Herr Kortüm suchte den Polarstern. Mickewitz auf seinem Tuffstein ging eben zu freundlicheren Tönen über: wie dann dieser verehrte Mann vor ihnen nach tiefem Nachdenken auf den Gedanken gefallen sei –

»Da ist der Polarstern.« Herr Kortüm maß seine Entfernung zum Lohberggipfel: wenn die Landmarke schon da oben stände, berührte sie mit der Spitze den Polarstern. Konstanze würde ihm zunicken, wenn sie das sähe.

»Und so danken wir dir denn aus vollstem Herzen, Friedrich Joachim Kortüm, denn du –«

Herr Kortüm nickte, machte eine kleine Handbewegung gegen den Tuffstein: o bitte, und starrte wieder den Polarstern an. In dem Männerkreis entstand eine Bewegung. Der Gemeindevorstand entfaltete ein kunstvoll geschriebenes und verziertes Dokument, in dem für alle Zeiten niedergelegt war, wie außerordentlich ergiebig die Festspielunternehmung des Schottenhauses nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in kultureller Beziehung gewesen sei, und ohne Knausern wurde in dem Schriftstück Herrn Kortüm das Seinige zuerkannt. 113 Bestand dieses Seinige doch nicht in Vergänglichem, sondern in der Arbeit für – Unvergängliches . . .

Es war eine große Ehrung. Herr Kortüm fühlte es. Sein Blick glitt vom leeren Scheitel des Lohberges hinab auf die Köpfe seiner Nachbarn. Er sprach: »Da steht ihr nun. Seht dort hinauf! Auf den Lohberg! Dort oben wird einst ein Punkt sein. Ich werde den Punkt setzen. Aber was ist der Punkt? Ein Stück Stein. Toter Stein. Leben hat er erst, wenn ihr euch um ihn versammelt. Darum dankt nicht mir, dem Schöpfer des Punktes, dankt euch selbst, drückt euch die eignen Hände.« Die Kommission hörte erstaunt die wunderbaren Worte, mit denen sich Herr Kortüm für ihren Dank bedankte. Ein wenig verwirrt stimmten sie das Schlußlied an: »Der Mensch kann sich ein Haus erbaun, die Straße baut ihm Gott.« Dann schritt alles der Würdenfolge nach in den Geweihsaal.

Herr Kortüm hieß jeden seiner Nachbarn willkommen, drückte jedem die Hand und ließ den Imbiß auftragen sowie Getränke verschiedener Art, je nach Wunsch. Es hatte ja alles bereitgestanden, wenn auch für eine andere Kommission. Herr Kortüm saß in der Mitte seiner Nachbarn, die ihm immer von neuem freudig zutranken. Es war ein schöner Abend, und manches Lied erschallte aus treuen Nachbarskehlen in diesem Saal, in dem vor kurzen Tagen Konstanze gespielt hatte – schade, dachte Herr Kortüm. Aber die viele Dankbarkeit um ihn herum ließ ihn nicht ins Grübeln kommen. Die Besenröder und die Esperstedter munterten ihn auf: »Wenn's Ihnen keinen Spaß gemacht hätte, hätten Se doch die Geschichte nich aufgezogen. Keine Gesichter schneiden! Heute soll Frohsinn unter Ihrem Dache wohn'n! Haben wir doch nu endlich einmal für'n paar Wochen richtigen Verdienst gehabt.«

Geben ist seliger denn nehmen: die Nachbarn verhalfen Herrn Kortüm zu einem erklecklichen Ende Seligkeit in dieser Nacht, nahmen, was dastand, und was nicht dastand, ließen sie holen.

Als tief in der Nacht die Mitglieder der Kommission und das Ständchen Abschied nahmen, Herrn Kortüm die Hände schüttelten, ihm auch fernerhin alles erdenkliche Gute wünschten und endlich mit Gesang in ihre Täler hinabstiegen, zog Herr Kortüm gedankenvoll seinen Kasten auf und legte die Dankadresse auf die beiden in diesem Kasten bereits befindlichen Pfändungsdrohungen des Fernsprechamtes und des Lichtwerkes. Er seufzte: »Nun, die Lichtrechnung ist wenigstens bezahlt. Meine Nachbarn konnten erkennen, was sie zu sich nahmen.« Er warf einen Blick in den verrauchten öden großen Saal: ein paar zerbrochene 114 Gläser, Weinflecken aus dem Tischtuch, umgefallene Flaschen, halbabgegessene Teller, zertretenes Brot am Fußboden: »Ja, die Feindschaft meiner Nachbarn hat mich viel Geld gekostet. Aber ihre Freundschaft ist noch kostspieliger.«

Wingen hatte dem Imbiß leider nicht beiwohnen können. Gleich nach Herrn Kortüms etwas sinnloser Dankrede war er gegangen: seine Rede ist doch nicht zu überbieten, sagte er unterwegs zu sich. Der Mann ist verrückt. Denn wenn er nicht verrückt wäre, müßte er ein Dichter sein. Aber der Kerl kann ja nicht einmal zwei Briefseiten lang klar schreiben.

Wingen eilte. Er mußte mit seiner Zeit haushalten. Die letzten Stunden vor der Abreise widmete er dem Maskenwesen.

Lotte räumte in der Bodenkammer auf.

»Nun geben Sie gut acht, Lotte, daß meiner Maske nichts zustößt, während ich fort bin. Sobald ich kann, komme ich wieder und bringe die Arbeit zu Ende.«

»Ich schließe die Kammer gleich zu, wenn Sie abgereist sind.«

Wingen ging bis ans Ende des kleinen Raumes, hielt den Kopf schief und besah blinzelnd sein Werk: »Die Maske ist doch eigentlich recht gut für den Anfang. Gefällt sie Ihnen?«

Lotte stützte sich auf den Besen, sah den Dämon, sah Wingen an und lächelte.

»Na?«

»Ähnlich ist sie aber doch nicht geworden.«

»Sie dachten wohl, das sollten Sie sein, Lotte?«

»Nein, Sie, dachte ich.«

Wingen lachte: »Vielleicht steckt von jedem von uns beiden was drin.« Er faßte Lotte an den Händen. Sie ließ sie ihm und lächelte ruhig: »Andere Leute haben gesagt, wenn die Haare nicht so wären, könnte sie mir schon ein bißchen ähnlich sein.«

»Das reden die Leute, Lotte?«

»Die Maske wäre der Anfang, sagen sie.«

Wingen nahm ihre Hände fester und sah sie erwartungsvoll an: »Wovon der Anfang?«

»Vom Theater, sagen sie.«

Jäh ließ Wingen ihre Hände los: »Du, Lotte? Sie? Sie und Theater?«

»Ich habe doch auf dem Theater sprechen müssen. Wissen Sie noch? Auf der Probe, als Sie hören wollten, wie's klingt. Und da haben Sie 115 gesagt, so war's gut. Und nun hat Mickewitz überall erzählt, ich wollte zur Bühne.«

»Aber« – Wingen zeigte entsetzt auf die Riesenmaske an der Wand, die aus leeren Augen starrte – »Sie wollten . . . Wer soll das gesagt haben? Ich soll daran schuld sein? Ich? Ich bin doch nicht wahnsinnig! Ich bin doch kein ausgewachsener Ochse! Ich bin doch ein vernünftiger Mensch – und Sie sind doch auch ein richtiges geradegewachsenes Menschenkind!«

»So reden Sie über Ihr Theater?« fragte Lotte erschrocken.

»Theater. Theater ist eine Sache, Lotte. Und Leben ist eine andere Sache. Ich habe mit der Maske da zu tun. Von Zeit zu Zeit. Ganz genau merke ich, wenn's losgeht, wenn's trägt und mir die Beine wegzieht wie im tiefen Wasser. Dann muß ich mich anhalten!« Er packte Lotte und hielt sich fest an ihr: »Woran kann sich der Mensch denn anhalten?!«

Die Larve über ihnen starrte ins Leere.

»Daran etwa?« Wingen zeigte auf das Ding aus Pappe und Farbbrei. »Lotte, sieh die Larve nicht an. Dreh dich rum. So. Immer weniger Menschen gibt's, die auf ihren eignen Füßen stehen und die mit ihrem eigenen Gesicht auskommen. Siebzig Jahre hält's, auch achtzig. Behalt dein Gesicht, Lotte. Nicht auf gehobelte Bretter, auf Erde sollst du dich stellen.« Wingen zeigte wieder auf den Dämon, den man kaum noch erkennen konnte in der Dämmerung der Kammer. »Es ist Schwindel, Lotte. Laß dir nichts vormachen. In den Brettern keimt nichts und geht nichts auf. Das Wachsen ist wo anders. Hier ist's.«

Wingen hielt Lotte im Arm. Sie dachte über seine Rede nicht nach. Lotte fühlte seine Hände, seine Arme, seinen Leib – wie schön das ist . . . sie ließ ihren Kopf da liegen, wo er lag, an Wingens Brust. Der Dämon war kaum noch zu erkennen in der Dunkelheit. Larven sind nur da, wenn sie beleuchtet sind. Aber Wingen und Lotte hatten kein Licht. Sie brauchten auch kein Licht, um dazusein, und der Dämon verschwand in den Schatten der Kammer.

Auf dem Schottenhaus war großes Reinemachen. Die Spuren des Festspiels und die Spuren des Kortümfestes wurden ausgetilgt. Es roch nach Schmierseife. Herr Kortüm hatte unendlich viel zu tun und war keineswegs erfreut, als er den Apotheker Mickewitz eintreten sah.

»Höchst wichtig, Herr Kortüm. Höchst!«

Herr Kortüm verzog den Mund.

116 »Doch. Hören Sie. Ich war in Weimar. Alle Welt spricht von einem geplanten Bau auf dem Lohberg. Da steht doch schon Ihr kleines Berghaus mit dem Kaffeeausschank. Aber man sagt, Sie hätten den Behörden Pläne eingereicht. Sie wollten einen Denkstein bauen. Oder einen Turm. Man weiß, welche Erfolge das Festspiel auf dem Schottenhaus gehabt hat. Man nimmt Sie ernst.«

»Soso. Es wird also davon gesprochen.«

»Es hat bereits eine Notiz in der Zeitung gestanden. Die Sache ist wichtig für unsere Gegend. Wir alle haben Vertrauen zu Ihnen. Was Sie in die Hand nehmen, Herr Kortüm, alle Achtung –«

»Liese, jag doch den Hund naus!« Wütend bellte das Tier den Apotheker an. »Verzeihung, Herr Apotheker, also – ja: bei ›alle Achtung‹ blieben Sie stehen.«

»Alle Hochachtung. Aber, hochverehrter Herr Kortüm –«

»Aber?«

»Aber es gibt Leute, welche sagen, Sie wären doch kein Hiesiger, und wie gerade Sie dazu kämen –«

»Ich kein Hiesiger? Ich bin durch meine Vorfahren, die von Heydelofs, einen Nebenzweig der Torstensons – der Torstenson, der Marschall, wissen Sie, der in der Kranichstedter Gruft steht – durchaus ein Hiesiger.«

»So? Wenn dies der Fall sein sollte –«

»Gar nicht wenn. Ich werde euch das beweisen, schwarz auf weiß.«

»Nun, das wäre ja hocherfreulich. Aber es ist da noch ein Punkt. Sehen Sie, fürs Gelingen kommt alles darauf an, daß die Angelegenheit in der Öffentlichkeit als das erscheint, was sie ist, als eine ideale Sache. Hm, wie soll ich das sagen – man darf keinesfalls andeuten können, daß etwa Geschäft dahinterstecke. Geschäfte werden gemacht, aber davon reden ist unbeliebt. Ja, und nun beachten Sie gütigst, daß Sie Gastwirt sind.«

»Wie?«

»Wir kennen Sie, Verehrter! Wir wissen, daß Sie der selbstlose Vorkämpfer segenbringender Ideen sind. Aber wer Sie zu kennen nicht die Freude hat, stößt sich leicht an der Berufsbezeichnung Gastwirt, wenn es sich um die Errichtung eines Denksteines in einem Versammlungshain handelt.«

»Worum?«

»So stand es in der Zeitung.«

»In der Zeitung. Schön. Sagen Sie mal, wissen Sie eigentlich, aus was für einer Familie ich stamme?«

117 »Um Gottes willen! Hochverehrter Herr Kortüm! Sie! Ich! Wer redet von uns! Die Fremden meine ich. Was wissen solche Leute, wenn von einem Gastwirt die Rede ist. Sehen Sie, ich bin Apotheker. Ich habe meine Apotheke. Mir kann das ja alles ganz gleich sein. Nur das eine wollte ich sagen, im Interesse unserer ganzen Gegend: wenn Sie das Komitee, den Ausschuß, die Kommission und die Deputation zusammenstellen – auf meine Hilfe können Sie rechnen. Tag und Nacht. Nur das wollte ich sagen.«

Mickewitz überreichte Herrn Kortüm eine Liste derjenigen Arbeitsgebiete, die er als ein Mann, der mitten im Volke steht, besser als Unbewanderte bearbeiten würde: Fremdenwerbung, Unterkunft, Drucksachen und dies und das noch.

Als Herr Kortüm wieder allein war, legte er diese Liste in den Kasten auf die Dankadresse – die Pfändungsdrohungen kamen immer weiter unten zu liegen. »Ich werde diesen Leuten stecken, wer ich bin«, murmelte Herr Kortüm. »Die Heydelofs, die Torstensons, die gräflich Borckewiker Linie – ich werde erst mal herausstellen, was ein Kortüm überhaupt bedeutet. Ein Artikel muß eingerückt werden in das ›Esperstedter Tageblatt‹. Gastwirt! Gastwirt!! Mit dem Torstenson-Ast werde ich beginnen. Der liegt nahebei, in der Kranichstedter Gruft. Gastwirt! Die Inschriften und Wappen wollte ich mir schon immer besorgen. Ich werde sie abzeichnen und hier im Geweihsaal aufhängen« – Herr Kortüm prüfte die Wände – »über den Kamin sollen sie kommen. Farbig ausgeführt. Unter Glas. Ich werde nach Kranichstedt fahren. So was macht Monich immer gerne mit. Wir werden fahren. Liese!« schrie Herr Kortüm.

»Lauf doch mal zu Herrn Hauptmann Monich. Ich ließe ihn bitten. Es ist aber eilig.«

 


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