Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Das Landstreicherlied

Ein Thüringer kann singen von Natur. Singen und laufen, darin sind sie Meister. Aber laufen wie die Landstreicher – wenn sie im Takt marschieren sollen, denken sie immer, ihr Takt sei der Takt.

Genau so singen sie auch, wie die Vögel unterm Himmel und wie's ihnen einkommt – Wolfram hat gewußt, warum er den beschwerlichen Ritt aus Franken über die Schottenwiese zum Wartberg unternahm und den Parzifal vom sechsten Stück an lieber in Thüringen schrieb. Goethe, Schiller und andere Heroen sind ja auch beizeiten dahintergekommen, was es mit Thüringen auf sich hat, so sehr sie hinterher gelegentlich knurrten.

Klaus Schart kam auch langsam hinter Thüringen. Diesen beweglichen, gestaltvollen und musikalischen Leuten in Besenroda das Singen im Takt beizubringen, ist kein leichtes Stück Arbeit, und Klaus konnte sich nur an dem Anblick der Mühe aufrichten, welche der große Protestantenvater Luther mit den aufrührerischen Bauern hatte, als die hinter seinem wehenden schwarzen Habit ihren eigenen Takt zu probieren begannen.

Klaus dachte, daß er die singlichen Herzen für sein eins – zwei – drei – vier – eins und so weiter am ehesten gewönne mit Wanderliedern.

»Also das Landstreicherlied, Kinder. Und nun seid bei der Sache. Ich geige die zweite Stimme. Drei – vier –

›Der Mensch kann sich ein Haus erbaun,
Die Straße baut ihm Gott.
Du stolperst sie, dann lernst du gehn,
Zuletzt auf wunden Sohl'n.
Streckst deine Hand: Herr, Botenlohn!
Ich hab' das Laufen satt – 56
Auf Gottes Wegen findst nicht Ruh,
Geh weiter, Gotteskind!
Für Wandervolk schuf er die Welt
Und stellt' ein Zelt ans Ende.‹

So. Nun noch einmal: ›Ich hab' das Laufen satt‹ –«

Plötzlich hielt Klaus den Bogen über den Saiten in der Luft und starrte auf die Tür: die Tür bewegte sich, ging langsam auf, ganz langsam – an trüben Tagen gegen Ende Oktober ist es zur Zeit der ersten Schulstunde schummrig – da bewegte sich jemand. Ein paar Kinder starrten auch hin, hörten auf mit Singen: im Türgewände stand wie ein Bild in einem viel zu kleinen Rahmen Herr Kortüm –

Der große Herr Kortüm! Ein Kind nach dem anderen verstummte. »Satt« sang ganz allein zuletzt der Peter, dieser Lümmel, und sang's ganz falsch.

Klaus irrte doch wohl. »Ich hab' das Laufen satt«, wiederholte er mechanisch und machte mit dem Geigenbogen ein paar Taktwinke.

»Ich auch«, sagte Herr Kortüm.

»Sie sind's wirklich!« Klaus legte klappernd die Geige auf das Pult und eilte zur Tür.

»Setzen wir uns, Herr Schart. Der Weg vom Schottenhaus zur Schule ist weit. Aber diese Schandnachricht will ich von Ihnen selber hören.«

Herr Kortüm ging schwerfällig zu der Bank auf dem Korridor, die dort unter der großen Weltkarte steht. Klaus schloß die Klassentür.

»Was denn für eine Schandnachricht?«

»Also es gibt keine Musik! Also es gibt kein Maskenfest! Man will mich also zugrunde richten.«

»Wer hat denn sowas geredet!«

»Sie haben es diese Nacht, als Sie aus dem Weimarschen Zuge stiegen, dem Bahnwärter erzählt.«

»Ich habe doch –«

»Und der hat's heute früh der Liese gesagt.«

»Ich habe –«

»Und dieses Frauenzimmer hat es mir durch die Türe zugerufen beim Wecken. Kaffee habe ich noch nicht getrunken. Das sollen Sie mir erst selber in mein Gesicht hinein sagen, Herr. Also nichts?«

»Ein Maskenfest, nein, das nicht –«

Herr Kortüm ließ den Kopf auf die Brust sinken und saß wie ein Klumpen auf der schlechten Bank.

57 »Aber« – wollte Klaus fortfahren: inzwischen war das Summen in der Klasse zum Murmeln, das Murmeln zum Streiten, der Streit zum offenen Krach angeschwollen. Klaus riß die Tür auf: »Wollt ihr wohl! Fritze, du stellst dich aufs Pult und singst Zeile für Zeile vor, und die andern singen sie dann nach. Bis ich wieder reinkomme.«

Herr Kortüm saß reglos da. Im Haus war Stille. Nur Peters Singsang war zu hören. Klaus richtete sich auf: »Nein, ein Maskenfest nicht. Auf dem Schottenhaus des Herrn Kortüm wird etwas ganz anderes vor sich gehen, ein Überwältigendes, Großartiges –«

»Die Straße baut ihm Gott«, sang's in der Klasse –

Aus Herrn Kortüms Brust kam ein krächzender Laut.

»Nein, Besenrodaer Masken werden auf Ihrem Parkett nicht spielen –«

»Dann lernst du gehn«, sangen sie drinnen –

»Sie brauchen nicht zu erleben, daß Maskenmacher als Könige und Glasbläser als Teufel auftreten! Auch die Esperstedter Topfdreher werden nicht fremde Federn tragen in Ihrem Haus! Aber Meister des Spiels werden spielen! Künstler, Herr Kortüm! Weltberühmte Schauspieler werden im Geweihsaal stehen!! Das Land wird auf das Schottenhaus blicken als auf ein Festspielhaus! Das ganze Reich! Die Presse!!«

Klaus fuchtelte mit den Armen und hüpfte wie ein Irrlicht vor Kortüm auf dem Backsteinboden herum. Der alte Herr sah auf –

»Streckst deine Hand: Herr, Botenlohn!« sangen die Schulkinder, forte sangen sie, wie Klaus Schart das befohlen hatte. Doch es war furchtbar anzuhören, mindestens zwei Töne zu tief – diese Bande, diese Lümmel! Klaus wand sich, aber sollte er jetzt unterbrechen, jetzt: Herr Kortüm sah ihn groß an.

»Theater wird gespielt! Ja, nun wissen Sie's: Theater. So wahr ich vor Ihnen stehe, Herr Kortüm!«

»Geh weiter, Gotteskind« – jetzt rutschten sie regelrecht in Moll, grausig, eine Sterbekantate war aus dem Landstreicherlied geworden.

Klaus lief zur Tür, riß sie auf: »Fis! Fis! Fritze, ich hau dir eine hinter die Ohren. Greif's doch auf der Geige! Gleich bin ich wieder da – du – ihr –«

Er schmiß die Tür.

Herr Kortüm stand in der Mitte des Korridors, das rechte Bein wie zum Photographieren etwas vorgestellt:

»Theater?«

58 »Haha! Jawohl! Das Gastspiel des Staatstheaters kommt zu Ihnen! Ich soll den Grundriß des Saales schicken. In nächster Zeit. Der ›Blasebalg‹ wird gegeben. Mit Musik. Das Quintett der Staatsoper spielt. Ich – Sie – aber er – aber der Weg, o Gott, Sie haben doch gar keine Zugangsstraße!«

Herr Kortüm legte den Kopf schief nach hinten, kratzte sich in den Bartstoppeln und sah aus halbgeschlossenen Augen die Weltkarte an, die an der Wand hing. Diese Karte mit den unentwirrbar vielen roten Linien der Weltwirtschaftsstraßen. Nur eine einzige solche Straße, dachte Klaus, nur eine dünne gestrichelte von den Tausenden dort . . . Herr Kortüm lächelte: »Die Straße zu mir heraus? Junger Mann, diese Sorge überlassen Sie mir. Das Staatstheater, das Staatsquintett, die Staatsregierung sowie Universität, Kunsthochschule und Konservatorium samt Senaten und Konventen – alle werden von Besenroda zum Schottenhaus gelangen, ohne daß ihr Fuß an einen Stein stößt. Ich sage das: Kortüm. Aber jetzt setzen Sie sich, Herr Schart, und geben Sie mir einen geordneten Bericht. Erstens?«

»Für Wandervolk schuf ich die Welt«, klang es hinter der Wand mit der Weltkarte, und Klaus berichtete der Reihe nach.

Gelassen hörte Herr Kortüm den Vortrag des jungen Mannes an, überlegen ruhig, wie es dem Träger einer so außerordentlichen Last wohl ansteht. Zum Schluß sagte er auf hamburgisch: »Um vier Uhr sind Sie im Schottenhaus, Herr Schart. Es werden sogleich Boten abgehen an die Herren Monich, Mickewitz und Kuffert. Übermorgen zwölf Uhr werde ich die Organisation des Ganzen beendet haben und Sie dann mit festen Instruktionen nach Weimar senden.«

Er winkte Klaus zu und schritt zur Tür: »Danke, lassen Sie« – Klaus wollte ihm die Tür öffnen – »aber seien Sie pünktlich.«

Klaus klinkte nun seine Klassentür auf, und der Gesang schallte ihm entgegen: »Ein Zelt, ein Zelt, ein Zelt ans Ende.«

Die Kinder sahen ihn an. Er sah die Kinder an. »Ja, ach so: nehmt die Hefte heraus und schreibt das Landstreicherlied auf. Mir war's, als ob ihr noch nicht mal den Text genau auswendig könnt.«

Klaus ging zwischen den Bänken auf und ab, aber er sah nicht, daß Peter schamlos abschrieb und Grete auf ihr Löschblatt den Herrn Kortüm malte: groß, rund und prall wie einen Müllersack.

Höchst unzufrieden war Klaus. Wie war denn das? Er selber hatte doch diesen ungeheuren Theaterstrom ins Schottenhaus eingeschaltet – und nun war er neben Herrn Kortüm, dem Gastwirt jenes 59 Schottenhauses, kaum mehr als ein Knöpfchen am Schaltbrett . . . Wie geht es eigentlich zu in der Welt? . . . Das war ja alles ganz anders gekommen. Eigentlich hatte er aufs Schottenhaus gehen wollen, sich in den bequemen Stuhl ans Fenster setzen, zu Liese sagen, er wolle keinen Kaffee, nein, gar nichts. Aber sie solle mal Herrn Kortüm herschicken. Der arbeitet jetzt. Herrn Kortüm solle sie holen! Liese würde rennen, Klaus aber sich zurücklehnen – Ah, Herr Kortüm. Setzen Sie sich, Herr Kortüm – und dann sollte es losgehen. Dem Alten müßten ja wohl die Tränen vor Glück in die Augen steigen . . . Und nun wurde er bestellt und rumgeschickt und – zum Donnerwetter, verdankte denn dieser Herr Kortüm nicht ganz allein ihm, dem Klaus Schart, dieses unerhörte Gastspiel? Lediglich seiner gewinnenden und geschickten Art? Klaus dachte plötzlich an den Chambertin: aber das wußte Herr Kortüm ja gar nicht. Auch von der großen Konstanze Schröter wußte er nichts. Schade, ich hätte Sie gleich mit Frau Schröter bekanntmachen können – das hatte Wingen gesagt. Konstanze: ja, die ist das Zeichen in diesem Wunder.

Jedoch Konstanze würde kommen, sie würde sein Verdienst anerkennen, sie würde sagen: Dieser Klaus Schart! Das laß ich mir gefallen! Sagen Sie, lieber Schart, Sie speisen doch heute abend bei mir?

Nein, Herr Kortüm war doch ganz gut. Und wenn er im Bette lag und schlief – wenn er nur da war. Es gab Gewaltiges zu tun, Unwahrscheinliches zu bewirken, Besenroda mußte doch reineweg umgestülpt werden – nein, da war ein Mann wie Herr Kortüm schon der richtige – eine Persönlichkeit, ein Kapitän im Sturm, ein Herr, der bloß dazustehn braucht, und die Leute kriechen vor ihm ins Mauseloch.

Heute pfiff der Herbstwind über den Schottenpaß. Die feuchte kalte Luft saugte sich in die Kleider. Heute übergoldete keine Sonne die Jämmerlichkeit dieser erbärmlichen Straße.

Mit Grausen betrachtete Klaus die ausgewaschene Geröllstraße: wie will er das bloß so rasch ändern können? Wo nimmt er die Unsumme her, die das kosten wird? Konstanze hatte als Julia weißseidene Schuhe an – lieber Gott, wie soll sie bloß hier heraufkommen?

Der Nordwind blies Wolkenfetzen herab. Im Wald saß der Nebel: »Wenn es nun noch regnet«, sagte Klaus, »oh, und wenn Glatteis auf der Steigung liegt? Oder Schlackerschnee?« – Klaus besah ratlos die Straße – »Konstanze hat so wenig an. Was haben Damen wie Konstanze überhaupt an: Beinah nichts! Ein dünnes Fähnchen, 60 weißseidne Schuhe, seidne Strümpfe, dann so eine Art Florschlüpfer – viel mehr sicher nicht . . .«

»Das hätte ich Ihnen nich zugetraut, Schulmeister.«

»Oh! Ach! Herr Bilmes.«

»Sie haben einen Blick – un das is die Hauptsache.«

Klaus wischte sich übers Gesicht wie in jener verhexten Burgunderstunde: kann der verfluchte Kerl Gedanken lesen?

Ein Nebelschwaden quirlte naßkalt aus der Tiefe des Tals und faßte die beiden Männer auf der gottverlassenen Straße.

»Wovon reden Sie denn, Herr Bilmes?«

»Sie gucken durch den ganzen Schwindel durch un sehn das, worauf's ankommt. Sie sind endlich 'nmal einer, der hinter die Masken guckt un der Schluß macht mit der Maskenwirtschaft.«

Klaus hatte erzählen hören, daß Bilmes im Kriege verschüttet worden war: sicher, der Kerl ist verrückt.

»Na, nu kommt's Ihnen. Aber nur keine Angst.«

»Wovor denn?«

»Haben Sie noch nischt abgekriegt? Jetzt geht's Steineschmeißen los nach Ihnen.«

Klaus lachte.

»So is recht. Lachen Sie nur. Bloß keine Angst vor Menschen. Treffen werden sie je. Aber bloß Sie, Schulmeister. Nicht 'n lieben Gott, der Sie am Drahte zieht. Wissen Sie, eigentlich sin wir auch bloß Masken, die sich der liebe Gott aufsetzt. Hähä.«

»Ich muß nun weiter, Herr Bilmes.«

»Ich auch. Nur das eine noch, so ganz unter uns« – der Evangelist sprach so leise, daß Klaus in dem fauchenden Paßwind bloß Brocken verstand – »Sie haben das Deiwelsfest mit den Masken in Weimar drinne hintertrieben. So eine Tat trägt ihren Lohn. Freilich, die Maskenmacher unten in Besenroda toben über Sie. Lassen Sie se schrein. Die solln dem alten Mann da oben nich die Ruhe nehmen. Der Mann is, wie er is. Der hat sein Leben lang keine Maske aufgesetzt. Aber so einer läßt sich natürlich nu auch die Totenmaske schwer ins Gesichte drücken. So einer stirbt schwer. An einen Narren kann der liebe Gott nich so leichte ran mitm Tod, nee nee, Narrheit liegt wie ein Panzer ums Herze« – Bilmes seufzte – »der liebe Gott hat viel Not mit Kortüm.«

Ehe Klaus die wirren Reden begriffen hatte, war der Evangelist im ziehenden Nebel verschwunden.

Den Schulmeister fröstelte. Er ging schneller. 61

 


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