Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Das erste Richtfest

Da haste's!« Monich legte die Liste der Spender auf den Tisch. Herr Specht aus Zittau hatte eine Mark gezeichnet. Die anderen Gäste erledigten ihre Zahlungen bargeldlos.

»Haben sie gesagt«, setzte Monich hinzu. »Un nu, Kortüm, wo sie abgefahren sin un wir sin unter uns, nu setze mal 'n Punsch an – viel Materie un wenig Wasser, verstehste?«

»Allein sind wir nicht, Monich. Was sollte aus dem Richtfest werden! Frau Schröter ist anwesend, Herr Professor Holdermann.«

Kortüm entwickelte die Richtfestpläne. In gemeinsamer Arbeit stellten beide ein gediegenes Programm auf, sahen aber zugleich ein, daß 304 infolge der letzten Ereignisse das Richtfest wiederum verschoben werden mußte: Liese hatte viel aufzuräumen, der Glaser sollte kommen – Herr Kortüm gab eine Woche zu.

Jeden Morgen überflog der heimgesuchte Gastgeber die Post vergeblich nach bargeldlosen Eingängen. Dafür bekam er ein Schreiben von dem zuletzt eingetroffenen Gast, jenem Herrn Specht aus Zittau, der mit Frau verwitweter Schlick entfernt verwandt war. Dieser arme Mann hatte die weite Reise von Zittau aufs Schottenhaus gemacht, bekam bei der Ankunft kein ordentliches Menü mehr, dann fiel nachts vor seinem Fenster das Gerüst um, und morgens trat er die Reise wieder zurück nach Zittau an. Und gerade dieser entfernte Verwandte hatte nicht nur eine Spende gezeichnet, sondern auch den lebhaftesten Anteil an dem geheimnisvollen Phänomen in jener Nacht genommen. Er habe noch nie ein Erdbeben mitgemacht, hatte er Monich versichert und ihn durch allerlei fachliche Fragen in so schwere Bedrängnis gebracht, daß Monich schließlich sagte: »In Erdbebensachen müssen Sie sich an Herrn Kortüm persönlich wenden.« Kortüm aber hatte seinerzeit auf der Weltreise mancherlei gehört und gesehen und war imstande, viele sonst wenig bekannte Einzelheiten farbig zu schildern. Herr Specht schrieb nun, er hoffe, bald wieder einmal aufs Schottenhaus zu kommen. Die Gegend müsse sehr schön sein. Gesehen habe er leider nichts. Desto mehr habe ihn der Erdstoß interessiert, und es sei ihm eine Freude gewesen, beiliegenden kleinen Bericht abzufassen, welcher Herrn Kortüm hoffentlich auch Freude bereiten werde.

Mit spitzen Fingern zog Herr Kortüm ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt aus dem Umschlag und begann zu lesen.

»Erdbeben in Thüringen« hieß die Überschrift. »Gelegentlich einer Verwandten-Tagung« – »Tagung!« rief Herr Kortüm empört – »wurden die Teilnehmer in der bekannten Luftkuranstalt des Herrn Kortüm Zeugen eines imposanten Naturschauspiels, das Gott sei Dank ohne Schaden für die Besucher abging und nur den Inhaber des Etablissements schädigte. Die Verluste des Herrn Kortüm wurden jedoch sofort durch eine Kollekte der Angehörigen gedeckt.« An dieser Stelle machte Herr Kortüm eine kleine Pause, schluckte mehrmals, sagte jedoch nichts und las weiter: »Schon am Abend vorher wurde heftiges Wetterleuchten festgestellt. In der vierten Morgenstunde erfolgte der erste Erdstoß. Als Berichterstatter entsetzt aus dem Schlafe hochfuhr und sich besann, bemerkte er noch deutlich, wie das Handtuch an der Wand hin und her schwankte. Dabei war ein heftiges Getöse wahrnehmbar, dem 305 einzelne kurze Schläge folgten, vermutlich jene von den Erdbebenforschern als Bodenknalle bezeichneten Geräusche, die besonders in Holland beobachtet und dort ›Mistpöffers‹ genannt werden. Erfreulicherweise folgte diesem Stoß kein weiterer. Es handelt sich hier also um ein sogenanntes Kurz- oder Einstoßbeben, welches im Gegensatz zu den Lang- oder Mehrstoßbeben nur einmal auftritt, aber dafür um so heftiger. Menschenleben sind nicht zu beklagen.«

Herr Kortüm schob das Blatt von sich: »So. Mistpöffers. Nun – man weiß ja, was manchmal berichtet wird . . .« Mit Recht gedachte er hier jener Pressestimmen, die ihn nach Eröffnung seines Museums so gekränkt hatten.

»Mistpöffers!« Leichtfertig schob er das Blatt noch weiter von sich. Bis an den jenseitigen Tischrand. Dort bewegte es sich eine Weile im Windzug wie ein ungeschickter Schmetterling und verschwand dann.

Wohl verstand Herr Kortüm eine Sache in Bewegung zu bringen, aber keine befremdende Erfahrung konnte ihn zu der Einsicht bringen, daß eine Bewegung nicht ein Stoß ist und ein Ende, sondern fernhin in Wellen weiterrollt.

Nicht alle Leute nahmen solche Erdbebennachrichten auf die leichte Schulter. Wer von Berufs wegen die Natur der Erdstöße, der Bodenknalle und dergleichen Unheimlichkeiten erforscht, kann sich über keine einschlägige Notiz wegsetzen.

Eines Tages erschien auf dem Schottenhaus ein Mann. Es war schönes sonniges Frühlingswetter. Liese legte gerade die Kaffeedecken auf die Gartentische und hatte viel zu tun. Am Abend sollte das Richtfest gefeiert werden. Sie musterte den Mann. Wie ein richtiger Gast sah er nicht aus. Er trug etwas zu kurze und stark verbeulte Hosen. Sein Rock, der überall mit aufgenähten und zugeknöpften Taschen versehen war, mußte ebenfalls schon manche Reise hinter sich haben. Liese hätte beinahe gesagt: wir brauchen nichts. Aber jetzt blickte sie der knochig ausgetrocknete Mann plötzlich mit zwei scharfen grauen Augen an.

»Ja?« sagte Liese schnell.

Er rückte an der Nickelbrille, deren Bügel nur lose oben auf den Ohrmuscheln lagen. »Ich möchte Herrn Kortüm sprechen.«

»Wen darf ich melden?«

»Doktor Windhebel.« Er fuhr sich über das kurz geschnittene eisgraue Haar. »Aber ich habe wenig Zeit.«

Herr Kortüm schritt zunächst eilig heran, dann begann er 306 langsamer zu gehen. Er schätzte den Mann auf Nordzimmer, ohne Bad. Höchstens. »Bitte?«

»Windhebel. Vom Seismographen am Landesobservatorium.«

»Aha«, sagte Herr Kortüm höflich – er hatte trotzdem keine Ahnung, wo der Mann herzukommen vorgab. Wenn er nur nicht mit mir verwandt sein will, dachte Kortüm. Fortlaufen und im Lexikon nachschlagen konnte er nicht, um zu begreifen, in welche geradezu verzweifelte Verwandtschaft er rettungslos zu geraten begann – ohne Übertreibung in die des lieben Gottes, der, als Herr der Erde, auch als Herr der Erdbeben zu gelten hat. Wenigstens der bisherigen: seit dem Kortümbeben wird man wohl eine neue Ära der Erdbeben rechnen müssen.

»Aha«, hatte Herr Kortüm gesagt, und der Mann antwortete: »Ich gehe zunächst durch Erdgeschoß und Kellerräume.«

»Verzeihung – in meinen Keller?«

Doktor Windhebel betrat bereits das Haus. Er stand in der Halle, ließ den Blick über das Mauerwerk schweifen. An einem Mauerriß blieb er stehen, bohrte mit einem Bleistiftende darin und sagte: »Alt?«

Gott bewahre mich, dachte Kortüm – der Kerl kommt von einem Bauamt. »Sehr alt«, versicherte er, »außerordentlich alt.« Ich brauche nur das Richtfest anzusetzen, fuhr er still für sich fort, und schon erscheinen Hindernisse. Windhebel streifte ihn mit einem Blick. Er ging weiter. Jetzt blieb der Gelehrte vor dem Kaminbild stehen: »Das sind Sie«, sagte er.

Herr Kortüm richtete sich auf, nahm die Stellung des Porträts an, um den Vergleich zu erleichtern.

»Lohnt das?« fragte der Doktor. Erstarrt sah ihn Kortüm an. Aber der Mann sagte nur »na«, rückte an der Nickelbrille und schritt weiter. Den Vorratskeller durchwanderte er in Kortüms Gesellschaft, den Kohlenkeller, den Weinkeller. Er betrachtete das Mauerwerk. Da kann er gucken, wie er will, dachte Kortüm stolz – die Mauern sind gut. Er hatte recht. Wohlgefügt und wohlerhalten standen sie da. Durchs ganze Haus ging Doktor Windhebel, bis ins Museum hinauf. Hier verweilte er etwas länger, suchte nicht mehr nach Mauerrissen und sah Herrn Kortüm öfter von der Seite an. Schließlich wanderte er durch den Garten, warf gelegentlich einen Blick in die seltsame Landkarte, die er bei sich trug, und wandte sich zum Hofe. Hier aber blieb der Gelehrte stehen. Erschrocken starrte er den Püsterich an – schritt langsam um ihn herum – dann faltete er seine Karte zusammen, steckte das Merkbüchlein ein und sah Herrn Kortüm nunmehr von vorne an.

307 »Ja –«, begann er.

»Bitte?« sagte Herr Kortüm.

»Wir gehen besser auf die andre Seite. Da haben wir Sonne.«

Herr Kortüm folgte ihm. Windhebel setzte sich an einen Gartentisch, machte ein Gesicht wie ein Arzt, der sich klar geworden ist, rückte die Brille und sagte mit einer Behaglichkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte: »So. Nun erzählen Sie mir genau der Reihe nach Ihre Wahrnehmungen.«

Aber Herr Kortüm hatte jetzt das Benehmen dieses Mannes satt und sprach: »Wollen Sie mir bitte sagen, was Sie hierherführt?«

»Ich sagte es doch. Haben Sie es nicht gehört?« Windhebel nahm die Brille ab und rieb sich langsam und gründlich die Augen. Dabei sprach er: »Unsere Apparate haben keine Spur von einem Erdbeben am achtzehnten dieses Monats verzeichnet.«

Herr Kortüm setzte sich schnell und lächelte: »Hm. Jawohl.«

»Es liegt also eine Störung vor« – Windhebel zog das Zeitungsblatt heraus –

»Natürlich«, sagte Herr Kortüm höflich.

»Das nimmt uns wunder«, fuhr Windhebel fort.

Herr Kortüm nickte verständnisvoll.

»Und deshalb komme ich selbst.«

»Sehr angenehm.«

Plötzlich setzte Doktor Windhebel die Nickelbrille auf und sah Herrn Kortüm an: »Diesen Bericht haben Sie abgefaßt?«

»Ich fasse nie Berichte ab.«

»Aber Sie kennen den Schreiber?«

»Flüchtig.«

»Also bitte, Herr Kortüm.«

Nun begann eine Schilderung auf Leben und Tod. Klar konnte man Kortüms Darstellung nicht nennen. Das hätte Monich besser gemacht. Kortüm ließ wichtige Dinge weg, weniger wichtige, zum Beispiel das Rosafundobjekt, schilderte er mit einer Treue, die einer wissenschaftlicheren Sache würdig war. Und Monichs Erlebnisse mit den Witwen legte er dar, daß Windhebel den Wunsch äußerte, jenen Herrn Monich möchte er auch noch kennenlernen. Wodtkes Glasscherben spielten keine kleine Rolle, und zuletzt handelte es sich nur noch darum, ob sechs oder acht Bretter heruntergefallen waren.

»Ausgezeichnet«, sagte Windhebel. »Es wird richtig sein, erst ein wenig zu frühstücken. Was haben Sie?«

308 Einen vorzüglichen Schinken in Burgunder mit Perlzwiebeln empfahl ihm Herr Kortüm. »Ich werde ihn selbst zubereiten«, sagte er und eilte, ohne weiteres abzuwarten, in die Küche.

Windhebel sah ihm über die Nickelbrille nach: »Da läuft er. Ist das dagewesen? Ein Erdbeben simulieren?«

Fachlich war sein Auftrag hier oben erledigt. Nach Tisch konnte Windhebel guten Gewissens zum Bahnhof gehen, und Herr Kortüm wünschte nichts sehnlicher. Aber trotz der Menschenverachtung, in die Leute seines Berufes nur zu leicht verfallen, ärgerte sich der Erdbebenforscher: immerhin war er doch ein weltbekannter Fachmann, und ihm hier eine solche Geschichte aufzutischen . . . an der aber zum Teufel irgendwo was Wahres sein mußte . . . Windhebel steckte achtlos die erste Gabel Essen in den Mund. Dann aß er langsam. Zuletzt ließ er Bissen um Bissen auf der Zunge zergehen. Nein – kein Wort gegen diesen Schinken! Herr Kortüm mußte ihn mit unendlicher Sorgfalt gekocht haben – ja: diesen Schinken hat also ein Erdbebensimulant gekocht – vortrefflich gekocht in gutem französischem Burgunder. Wer aber so kochen kann – wer ein solches Anwesen besitzt – Windhebel sah sich um – und in einer so friedsamen Landschaft wohnt – – und dann lügt, diese Landschaft stehe nicht mehr fest – ein solcher Mann muß seine Gründe haben.

»Und solche Gründe gehen noch über den Schinken und über das Erdbeben«, sagte Windhebel und klopfte an den Tellerrand. Liese brachte die Rechnung. Aber der Gast sprach: »Ich bleibe heute hier. Ein Zimmer.«

Er schlenderte durch den Garten, durch die Halle. Herrn Kortüm traf er leider nirgends.

»Der arbeitet jetzt«, sagte Liese.

»Arbeitet. So.« Windhebel blickte zu Kortüms Bildnis auf. Holdermann war ein großer Porträtmaler und verstand, die Seele eines Menschen zu offenbaren. Aber die letzten Dinge in Sachen Kortüm blieben trotz des guten Bildes dem Doktor Windhebel, dessen Augenmerk beruflich ja vor allem auf die Probleme des Zugrundegehens gerichtet war, vorläufig noch dunkel. Er sah nach der Uhr: »Ich werde mir das Museum dieses Mannes etwas näher ansehen.« Museen waren sonst seine Sache nicht: Sammeln lohnt nicht, pflegte er zu sagen. Windhebel wußte besser als andre um den Unbestand der Dinge – auch derjenigen Dinge, die sogar der Jurist unverfroren als Immobilien bezeichnet. Ach, es war ja alles so mobil . . . in Anschauung der 309 wandelbaren Ewigkeitswerte rings um ihn herum im Weltall glaubte Windhebel nur noch an eines: an das Erdbeben. Er sah das Glas nicht an, aus dem er trank; aber was er trank und was er aß, das wußte der Gelehrte gut – im Augenblick hielt ja die Kruste noch über dem feuerflüssigen Innern dieses Erdballes.

Stück für Stück des Kortümmuseums besah er, und so wenig ihm sonst gefiel auf Erden – dieses Museum war nach seinem Sinn! Hier war alles zerbrochen, nichts mehr ganz und bei Kräften und in Form – eine lehrreiche Sammlung!

»Ich werde diesen Herrn Kortüm öfter besuchen«, beschloß Doktor Windhebel.

Da ertönte Musik. Dorfmusik. Er trat ans Fenster. Im Hofe unten standen Männer, die auf Trompeten bliesen, trommelten und Geigen strichen. Rostbratwürste dampften auf einem Herd. Ein bekränztes Bierfaß wurde auf einer Schubkarre herangefahren. Und da stand er ja auch selber, mitten unter den Leuten, dieser Herr Kortüm. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah in die Höhe. Hoch auf dem Dachgebälk des Neubaues leuchtete ein bunter Kranz mit meterlangen wehenden Bändern. Die Musikanten setzten ihre Instrumente ab. Ein Zimmermann erschien zwischen den Dachbalken, hielt ein Weinglas in der Hand und begann zu sprechen. Windhebel öffnete das Fenster. Viel verstand er nicht. Aber als der Zimmermann plötzlich das Weinglas austrank und an den Balken warf, daß es zersplitterte, nickte der Gelehrte.

Neben der Feier mit den Bauleuten wollte Herr Kortüm am Abend ein kleines Essen im engsten Kreise geben. Da Wingens Gedicht nicht fertig geworden war, hatte er selbst eine Rede ausgearbeitet. »Kein Fest«, seufzte er, »scheint so vielen Zwischenfällen ausgesetzt zu sein wie ein Richtfest – je weniger Teilnehmer, desto sicherer.« Konstanze sollte mitfeiern, Holdermann und Monich. Niemand sonst. Drei Paten sollten mit ihm zusammen das Flügelhaus aus der Taufe heben, und da eine ernste und einschneidende Feier zu begehen war, hatte er festlich und mit allem Aufwand gedeckt: Silber, altes Porzellan und Damast. Auf einem Seitentischchen standen einige Rotweine und im Eiskübel mehrere Rheinweine. Prüfend überflog er die Vorbereitungen. Etwas fehlte noch . . . »Die Blumen«, murmelte er und eilte aus dem Saal.

Der Gedanke an Kortüms Schinken und an Kortüms Erdbeben hatte 310 den Doktor Windhebel veranlaßt, nach einem kurzen Spaziergang die Nähe der Menschen eher aufzusuchen, als dies sonst seine Gewohnheit war. Der Gelehrte kam in den Kaminsaal, sah den gedeckten Tisch und trat näher. Für Aufmachung fehlte ihm der Sinn. Er bemerkte die festlichen Anstalten gar nicht. Aber die Flaschen zog er eine nach der andern aus dem Kübel und las sorgfältig die Schilder. Da trat Herr Kortüm ein. Er trug in beiden Händen lose Veilchen, die er diesmal nicht in ein Glas setzen, sondern über den Tisch verstreuen wollte. Das hatte er sich sehr hübsch gedacht. Nun aber stand er, die beiden veilchengefüllten Hände vor den Leib gedrückt, erschrocken vor dem Doktor Windhebel.

Der klopfte an die alte Flasche Pfalzwein, die er eben in der Hand hielt: »Zu theologisch.«

Der Gelehrte trank nur Mosel, bevorzugte die zuckerlosesten Jahrgänge und vertilgte sie mit dem Worte ›Ubi sunt‹ rasch von dem unzuverlässigen Erdboden. Das konnte Herr Kortüm noch nicht wissen. Auch ließ er sich nicht gerne in Sachen hineinreden, die er besser verstehen mußte. Gerne wäre er grob geworden, aber diesen Mann mußte er wie ein rohes Ei anfassen. Jeden Augenblick konnte der Kerl wieder um Näheres hinsichtlich des Achtzehnten dieses Monats bitten. Zu theologisch? Soweit er wüßte, begann Kortüm höflich, teilte man Gewächse nicht nach den Berufen der Trinker ein, sondern –

»– sondern nach den Trägheitsmomenten ihrer Abkunft, ich weiß«, unterbrach ihn Windhebel, rückte einen Stuhl, setzte sich und ersuchte Herrn Kortüm mit einer Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen.

Der Gastgeber stand sprachlos da: glaubt dieser Mann, daß ein solcher Tisch ein gewöhnliches Abendgedeck ist? Er legte seine Veilchen auf einen Haufen neben seinen Teller und setzte sich, kochend vor Grimm, aber nur innerlich. Nach außen durfte seine wahre Meinung nicht dringen. Die Folgen konnten unabsehbar sein. Windhebel schenkte sich ein, schmeckte: »Gut. Selbstverständlich gut.« Aber nun begann er eingehender vom Wein zu reden. Seine Ansichten waren so revolutionär, daß Herr Kortüm immer in Angst schwebte, der Mensch könne jeden Augenblick und ganz zwanglos von seinem Mosel auf Erdbeben zu sprechen kommen. Er war froh, als Liese hereinkam. Kortüm konnte jetzt die Rede des Forschers unterbrechen. Er gab dem Mädchen den ausführlichen Auftrag, ein weiteres Gedeck aufzulegen.

Windhebel kam auch so bald nicht wieder zu Worte, denn Konstanze erschien nun, nach ihr Holdermann. Sie hatten kein Erdbeben auf dem Gewissen, wollten vielmehr Herrn Kortüm heute gründlich zur Rede 311 stellen über die Ereignisse in jener Nacht, über die kein Mensch klare Auskunft geben konnte. Kortüms neuen Gast empfanden sie wohl als eine Überraschung, aber nicht als eine unheimliche. Sie bemerkten nur einen etwas nachlässig gekleideten Herrn, dessen Name ihnen unbekannt war. Monich kam als letzter, wußte auch nichts von der Gefahr, saß ahnungslos auf dem Vulkan und fühlte sich unendlich wohl. Konstanze merkte bald das Salz in Windhebels Worten. Sie wurde immer heiterer. Draußen im Hof hatte die richtige Feier erst begonnen. Die Kapelle war durch eine Pauke ergänzt worden und ging unter lautem Beifall in Tanzmusik über. Mädchen hatten sich eingefunden. Lachen und Fröhlichkeit schallte in den Saal. Riesige Wolken wälzten sich vom Bratwurstrost über den Hof hinaus durchs offene Gebälk des Flügelhauses in den Nachthimmel. Kortüms Sorge ließ etwas nach. Er suchte schon den Zettel mit der Festrede in seiner Rocktasche, zog ihn hervor, strich ihn glatt.

»Jetzt kommt de Richtfestrede«, sagte Monich halblaut zu seinem Nachbar Windhebel.

»Richtfest feiern?« fragte der Gelehrte, »ich würde mir das überlegen, Herr Kortüm. Diese Gegend scheint ein Erdbebenherd zu sein.«

Herr Kortüm erschrak bis ins Mark. Aber Konstanze lachte harmlos: »Jede Gegend ist ein Erdbebenherd – fand ich wenigstens bis jetzt, Herr Doktor!«

Windhebel sah sie durch die Nickelbrille an, und wenn er lächeln gelernt hätte, so würde er jetzt gelächelt haben. Er zog nur die Luft durch die Nase und sagte: »In Ihrem Sinne genauer gesagt: jede bewohnte Gegend, gnädige Frau.«

»Langt auch noch nicht!« rief Holdermann. »Jede von Menschen bewohnte Gegend!«

Herr Kortüm knitterte jetzt hörbar mit seinem Zettel und wollte mit der Rede beginnen, um die gefährliche Richtung des Gesprächs abzubiegen: »Und da nun, meine Verehrten, der Mensch zum Wohnen ein Haus braucht –«

»In Ihrem Museum stellen Sie aber das Gegenteil fest«, sagte Windhebel.

Zornig mußte Herr Kortüm zusehen, wie der Gelehrte nach dieser offenbar feindseligen Unterbrechung seiner Rede ein volles Glas des Weines hinuntergoß, den er noch kurz vorher als zu theologisch bezeichnet hatte.

»Mein Museum enthält Gegenstände aus vergangenen Zeiten«, begann er, »wir aber sind am Leben –«

312 »– und wir machen nach Kräften Erdbeben und feiern dann Richtfeste . . .«, sagte Windhebel gelassen.

»Sie haben wohl schon eins mitgemacht?« fragte Monich vorsichtig.

Windhebel nickte.

»Erzählen Sie!« sagte Konstanze. Kortüms heimliches Zuwinken hatte sie nicht rechtzeitig bemerkt.

Während Holdermann Windhebels Kopf auf das Tischtuch zeichnete, begann Kortüms neuer Gast: die Herrschaften müssen sich vorstellen, daß die Erde in Wellen gehe. Etwa ellenhoch. Die Gebäude ruckten eine Bruchsekunde mit und brächen dann auseinander. Der blitzdurchzuckte Himmel sei schwarz. Nichts würde man sehen, wenn nicht hier, dort, überall Feuer aufspränge. Die Herrschaften ständen auf dem Pflaster, und unter ihnen bewege sich die Erde krachend aufwärts. Die Kirche am Abhang drüben stehe plötzlich unter ihnen, sie blickten auf das Schieferdach der Kirche, das Dach reiße auf, der Altar steige aufwärts. Sie sprängen zurück, aber hinter ihnen sei die Erde gespalten, eben verschwände ein Eisenbahnzug in dem Spalt – und es sei vorbei. Der Himmel helle sich auf, die Wolken verwehten, die Sonne scheine, und friedsam läge die Erde wieder da. Wissenschaftlich betrachtet, sei wenig verändert. Die Baulichkeiten natürlich, die seien weg . . .

»Weg«, sagte Monich verdutzt.

Herr Kortüm sah nach dem Fenster hin. Draußen feierten sie, tranken, lachten. Der gelbe Schein der Windlichter erhellte das Gebälk des Flügelhauses ein wenig und mit ihm den Richtkranz, der wie ein Schimmer des Regenbogens im nächtlichen Himmel stand. Musik klang herein . . .

Langsam faltete Kortüm mit zitternden Fingern den Zettel zusammen, auf dem seine Festrede stand. »Das war ein freundlicher Richtspruch«, sagte er und blickte den Doktor Windhebel unter hochgezogenen Augenbrauen an.

»Schade, daß ich Ihren Spruch nicht mehr höre – ich muß morgen zeitig fort« – der Gelehrte stand auf und verabschiedete sich – »aber ich bin bald wieder bei Ihnen zu Gaste. Es gefällt mir hier. Weiterhin ein gesegnetes Richtfest, meine Herrschaften.«

Da stehn einem je die Haare zu Berge«, sagte Monich und sah immer noch auf die Tür, die sich hinter Windhebel geschlossen hatte. »Wer war denn der Kerl?«

313 »Ob der Mann die Nacht ein Auge zutun kann?« fragte der Professor und blickte gleichfalls die Tür an. »Was wollte der denn?«

Konstanze schüttelte den Kopf: »Ins Schottenhaus kommen absonderliche Leute, Herr Kortüm.«

Der Herr des Hauses nickte: »Ich weiß den Grund: weil's noch nicht fertig ist.«

»Und wenn die Gerüste weg sind?«

»Dann kommen endlich die regelrechten Gäste.«

Holdermann sah auf: »Die regelrechten – so. Nun sagen Sie aber, was sich in den letzten Tagen hier oben eigentlich begibt.«

Herr Kortüm schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Wo Gras wuchs, Herr Professor, da entsteht jetzt eine Menschenwohnung. Das wirbelt Staub auf. Aber Gott sei Dank, daß dieses Richtfest nun vorüber ist!«

»Es hat noch nicht begonnen!« rief Konstanze.

Herr Kortüm zeigte auf die Uhr.

»Ich meine nicht heute.« Konstanze drehte eine Tischkarte um, erbat von Holdermann den Bleistift und fuhr fort: »Wer also soll das Richtfest feiern?«

»Aber wir wollen doch froh sein, liebe gnädige Frau, daß wir es überstanden haben.«

»Wer – sage ich!« und sie schrieb ein »Erstens« hin.

»Kortüm«, schlug Monich vor.

»Einverstanden!« lachte sie und schrieb. »Zweitens!«

Die Tischrunde wählte zunächst einmal sich.

»Weiter!«

Schweigen.

Dann meinte Holdermann: »Kapitän Langloff.«

Herr Kortüm warf einen entsetzten Blick auf Konstanze: »Niemals!«

»Der schien aber doch ein ganz umgänglicher Herr –«

»Dann komm ich nicht!« rief Herr Kortüm.

Monich nickte: »Ich auch nich.«

»Schade«, sagte Holdermann, »wenn er so von seinen Fahrten erzählte –«

»Wenn das auch so gelogen war wie das, was er von andern Leuten ihren Fahrten erzählte, die gar nich fahrn wollten, wäre er besser zu Hause geblieben.«

Der Maler versuchte Herrn Kortüm zuzureden: »Ich möchte nämlich ein Bild malen, auf dem Sie beide stehen, Kortüm und Langloff nebeneinander –«

314 »Mit dem Mann in einem Rahmen!« rief Herr Kortüm entrüstet.

»Also Herr Langloff nicht«, entschied Konstanze. »Nummer fünf, bitte.«

»Lotte«, sagte Monich.

Jetzt stockte Konstanze, obgleich niemand dagegen war. Holdermann nickte sogar: »Frau Lotte Wingen.«

Zögernd schrieb Konstanze diesen Namen, aber sie schrieb gleich weiter. Holdermann sah ihr über die Schulter und buchstabierte: »Klaus Schart – wer ist das?«

Herr Kortüm sah auf und sagte: »Nun, Gnädigste, Sie haben ihn ja schon hingeschrieben.«

»Ja«, sagte Konstanze. Herr Kortüm blickte auf ihre Hand, die mit dem Bleistift trotzig einen Punkt hinter das Wort »Schart« machte.

»Wer das is?« rief Monich. »Das is 'n Schulmeister un 'n guter Gedanke!«

»Ob er aber einfach so weg kann aus seiner Schule?« gab Herr Kortüm zu bedenken.

Da malte Konstanze noch einen Punkt hinter Schart. Nun war es ein Doppelpunkt. Und sie schrieb: Anfrage, wann er kann. »Wir richten uns nach ihm«, sagte sie.

»Über Sonnabend und Sonntag kann jeder«, sagte Monich.

»Wenn er nicht verheiratet ist«, ergänzte Holdermann.

»Vor drei Wochen hab ich ihn in Besenroda getroffen. Da war er noch led'g. Darum hat er auch Zeit genug, un darum kann er auch 'n Richtspruch machen un sagen.«

»Macht er Verse?« fragte der Maler.

Herr Kortüm schwieg beharrlich.

»Als Schulmeister muß er doch 'n Vers fertig kriegen.«

»Gut«, sagte Konstanze, »er soll den Richtspruch machen. Und wenn er keine Verse machen will, ist der Spruch eben nicht gereimt.«

»Gut«, sprach jetzt Herr Kortüm und blies eine Dampfwolke aus der Zigarre. »Der junge Mann spricht ungereimt.«

Es war Konstanze nicht anzusehen, ob sie sich ärgerte: »Gereimt oder nicht – wenn er Lust hat, braucht er bloß einen Aufsatz zu machen. Wie jemand zu seinem Hause kommt. Oder so ähnlich. Das paßt, und das kann er.«

Herr Kortüm wiegte den Kopf hin und her: »Wenn nur nicht der Doktor Windhebel wiederkommt und –«

»Ach was«, sagte Konstanze, »wenn nur nicht wieder das Haus einfällt in der Nacht.«

315 »Jawohl, Kortüm«, meinte Monich, »der Schulmeister soll kommen un seinen Vers hier aufsagen.«

»Das getraut er sich nicht, Monich.«

»Dann lese ich ihn«, sagte Konstanze.

»Halt!« rief Kortüm, »wenn Sie das Gedicht lesen wollen, mach ich's selber!«

Konstanze lachte: »Nein, Herr Kortüm – Sie dichten nicht, Sie leben, was Sie sind!«

 


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