Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Das offene Siegel

Lotte riß Monichs Türe auf: »Herr Kortüm!«

Langsam hob Monich die Hand, bewegte sie beschwichtigend – fast so gemessen wie einst sein Freund Kortüm. Monich hatte seinen schwarzen Anzug angelegt, eine schwarze Halsbinde um den Kragen gebunden. Er sprach: »Ruhe, Frau Wingen.«

»Aber mein Gott –«

»Setzen Se sich!« Auf thüringisch erklang hier wahrhaftig, was Herr Kortüm bei Lebzeiten so wunderbar hamburgisch zu sagen verstand. Lotte sank auf das Sofa. Ihre Hände zitterten. Sie faltete die Hände, entfaltete sie wieder, zog an der Bluse.

Monich schüttelte den Kopf: »Das ändert nu nischt. Un ich habe Kortüm je länger gekannt wie Sie un muß auch stille halten.«

»So reden Sie doch bloß, Herr Monich!«

»Gleich fang' ich an. Aber wenn einer redet, muß der andere auch zuhörn. Un zum Zuhörn gehört Ruhe. Unser lieber Kortüm sagte immer . . .« jetzt packte ihn wieder die Bewegung – »je ja, hat er gesagt, nu sagt er nischt mehr, nu is er tot.«

»Tot?« schrie Frau Wingen und sprang auf.

»Hat's Ihnen denn die Frau Doktern nich gesagt?«

»Ich habe sie gar nich gesehen. Ich habe doch –«

»Sie haben. Gut. Aber nu haben Sie mal eine Weile nischt un hörn Sie drauf. Nu habe ich's Ihnen gesagt. Wir haben hier wichtige Sachen zu verhandeln. Ruhe. Ich habe jetzt sozusagen amtlich zu sprechen. Sitzen Sie stille. Ich habe auch stille sitzen müssen. Wir müssen alle stille sitzen, un 's geht weg über unser Fell. Passen Sie auf. Was ich 714 hier habe, das is ein Brief. Der Brief war versiegelt. Ich habe 's Siegel aufgemacht. Sehn Sie's? Un ich habe den Brief gelesen. Den Brief hat Kortüm geschrieben. Eigenhändig. Sehn Sie's? Hörn Sie auf jedes Wort!« Nach diesen und anderen langwierigen Vorbereitungen fing Monich endlich an mit Vorlesen. Aber zunächst mit der Aufschrift des Umschlags: »Im Falle meines Todes sofort zu öffnen«, las Monich.

Aus trockenen rotgeränderten Augen starrte Lotte den schwarzgekleideten Leinwandhändler an, der mit Hilfe von Räuspern, Platzwechseln, Glattstreichen des Briefes immer neue Umstände machte.

»Tot«, flüsterte Lotte.

»Sagen Sie nischt. Seien Sie ruhig!« Plötzlich rief er laut: »Denken Sie vielleicht, mir is es jetzt zumute wie Geschäfte erledigen, he? Halt . . . Ruhe, Monich!« mahnte sich der trauernde alte Freund selbst und nahm umständlich im Plüschsessel Platz. »So. Nu genau zuhörn. Kortüm hat in den Umschlag hier zwei Briefe getan. Einen an mich. Der geht Sie nischt an. Aber der andere, das is sein Testament. Ich bin Testamentsvollstrecker. Hörn Sie auch, was ich sage? In dieser meiniger Eigenschaft als Testamentsvollstrecker habe ich für Auszahlung von Legaten zu sorgen, Möblemangbestimmungen un so was – das geht Sie jetzt auch nischt an. Bloß ein Satz geht Sie was an. Hier steht er. Sehn Sie's? Bleiben Sie sitzen. Ich les'n jetzt vor. Der Satz heißt folgendermaßen – na, nu hörn Sie recht schöne zu: ›Ich‹ – das heißt also so viel wie Kortüm, nich wahr? ›Ich habe weder nähere noch bedürftige Verwandtschaft und bestimme deshalb hiermit, abzüglich der unten genannten Legate, Frau Lotte Wingen, die Witwe des Organisten Friedrich Wingen, zu meiner Alleinerbin. Ich treffe diese Bestimmung nach langer Erwägung im Hinblick auf die glückliche Zukunft des Flügelhauses und des Schottengeländes. Kein anderer als Frau Wingen vermag meine hinterlassenen Betriebe gedeihlich weiterzuführen. Sie hat von mir gelernt und einen Blick bekommen, und in Einem ist sie mir über: Lotte Wingen ist geboren und beheimatet im Schottengelände.‹ So. Haben Sie alles gut verstanden? Hier steht's Datum. Sehn Sie's? Un hier steht der Name: Friedrich Joachim Kortüm. Haben Sie's gesehn?«

Lotte Wingen sah über Monich weg ins Leere. Plötzlich preßte sie den Kopf in die Hände, ließ sich auf die Sofalehne fallen und fing an, bitterlich zu schluchzen.

Eine Weile sah ihr Monich zu. Das Schluchzen klang immer wilder. August Monich fing an, seine Nase zu schneuzen, auch immer 715 gewaltiger. Dann nickte er, immer wohlgefälliger nickte er, je herzlicher die Frau weinte: der erste Trost seit langen Stunden! Wie eine Osterglocke läutete den verwaisten Freund dieser jähe Ausbruch der sonst so gefaßten Frau an. In einem großen Halbbogen ging er immer von neuem um Lotte herum: »Je ja. Da haben Sie ihn. Das war er. So is er gewesen.«

Lotte richtete sich langsam hoch. Sie suchte nach einem Taschentuch, aber wo mochte das liegen? Sie war ja kaum richtig angezogen. Monich ging in den Laden, holte ein fabrikneues Tuch: »Rein Leinen noch.«

Lotte trocknete ihr Gesicht. Dann sagte sie leise: »Kann ich ihn einmal sehen?«

Monich klappte den Taschentuchkarton zu: »Wen?«

»Herrn Kortüm.«

»Wie meinten Sie?«

Lotte stand auf: »Ich möchte ihn sehen.«

»Wen?«

»Herrn Kortüm.«

»Sie kommen doch von oben.«

Lotte nickte.

Der Testamentsvollstrecker hatte eben noch Frau Wingen um mehr Fassung ersucht. Jetzt stotterte er: »Je . . .«

»Wo er liegt, hab' ich gefragt, Herr Monich.«

»Wovon reden Sie denn eigentlich?«

Jetzt sah ihn Lotte groß an: »Von Herrn Kortüm.«

»Wo, sagen Sie? Wo . . . na, oben doch.«

Lotte starrte Monich an: »Im Lohberghaus?« Sie schüttelte den Kopf: »Hier.«

»Wo?«

Ja . . . Herr Kortüm war verschwunden. Weg. Versunken. Oder in der Luft verhaucht. Trotz zweier Ärzte und eines Testamentsvollstreckers.

Monich setzte sich wieder in den Plüschsessel und faltete die Hände: »Frau Wingen . . .?«

Lotte stammelte: »Herr Monich . . .?«

Noch einmal versuchte Monich durch Zusammenfassung seiner Geisteskräfte der Vernunft zu dem Rechte zu verhelfen, welches sie bekanntlich ausübt in dieser Welt. »Frau Wingen, hörn Sie mal ganz ruhig zu. Eine Testamentseröffnung macht mannigmal den, der was kriegt, un den, der nischt kriegt, 'n bißchen konfus im Koppe. Seien Sie stille. 716 Ruhe. Passen Sie auf. Jetzt frage ich Sie was. Nich als Privatperson. In meiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker. Hörn Sie's? Also jetzt frag' ich: Frau Wingen, is Kortüm in seinem Bette oben, oder is Kortüm nich in seinem Bette oben?«

Lotte erzählte, was sich seit ihrer Suche nach dem Arzt und ihrer Rückkehr mit Doktor Langloff zugetragen hatte. Sie erzählte diese Vorgänge noch ein zweites Mal. Monich saß unbeweglich in seinem Plüsch. Kein Wort sagte er. Schließlich mußte Lotte fortgehen; das Haus oben stand offen, ihre Kinder waren ohne Aufsicht. Monich öffnete seinen Mund nicht. Er saß in dem Sessel und stierte vor sich hin. Gegen Mittag etwa stand er plötzlich auf und lief in großer Eile ohne Hut und Stock, ohne links oder rechts zu sehen, nach Esperstedt. Erhitzt und ächzend betrat er das Amtsgericht, klopfte an irgendeine Tür, brachte einige verwirrte und unglaubhafte Angaben vor und verlangte zu wissen, was für ein Rechtsfall hier wirksam geworden sei.

Er wurde an die richtige Stelle verwiesen und dort zunächst gefragt: »Haben Sie den Totenschein?«

Mit abwesendem Gesichtsausdruck sah Monich den Beamten an: »Ha?«

»Was haben Sie denn da für ein Papier?«

»'s Testament.«

Der Beamte las, nickte. »In Ordnung«, murmelte er, »hm, Sie haben es geöffnet?«

»Auf dem Umschlag stand: ›Sofort nach meinem Tode zu öffnen‹.«

»Ja – war er denn tot?«

»Ich habe doch, un Stannebein hat, wir haben doch, un die Wisseln hat die Hände gefaltet, un Kellert auch, wir haben –«

»Ruhe, Herr Monich«, mahnte der Beamte. »Setzen Sie sich erst einmal hin. So. Also Sie haben den Toten gesehen?«

»Un die Frau Doktern hat's gesehn, daß er tot war. Er war je schon vor drei Wochen so krank un beinah tot. Un wir haben's alle gesehn. Un die Frau Doktern hat ihm 'n Puls gefühlt un ans Herze gehorcht. Nischt. Aus. Tot. Un da haben wir alle die Hände gefaltet un um ihn rumgestanden.«

»Der Verstorbene liegt oben auf dem Lohberg?«

»Aber desdrwegen bin ich doch hier!« schrie Monich. »Er is doch weg!«

Nach einer längeren Pause fragte der Beamte: »Wer war der behandelnde Arzt?«

717 »Doktor Langloff. Un nachher is, glaub' ich, auch Herr Doktor Stemmler noch gekommen.«

Jetzt begann zwischen dem Beamten und Doktor Langloff und anschließend noch mit Doktor Stemmler ein Telephongespräch, das ganz ähnlich verlief wie der Versuch einer Verständigung zwischen Lotte und Monich über Kortüms Aufenthalt.

Nach Einbruch der Dunkelheit kam Monich in trostlosem Zustand nach Hause, schloß die Tür hinter sich zu und ging stracks ins Bett. Im Einschlafen murmelte der zu Tode erschöpfte Testamentsvollstrecker: »Hoffentlich kriege ich die Nacht auch 'n Schlag und bin morgen weg – schnuppe wohin. Bloß weg.«

Monich hatte Schweres erlebt. Von einem Amtszimmer ins andre war er gewandert. Zuletzt landete er im Polizeirevier, um ausgefragt zu werden. Nun, ausgefragt eigentlich nicht, man mußte schon sagen: verhört. Was Monich sagte, schrieb ein Beamter genau nach.

»Kortüm, Kortüm«, murmelte Monich halb im Traum schon.

Diese selben Worte und sonst nichts sagte Lotte den Tag über. Das ganze Lohberghaus hatte sie noch einmal abgesucht. Am späten Nachmittag kam ein Polizeibeamter und half ihr suchen. Kopfschüttelnd ging der Mann nach einer Stunde wieder. Lotte räumte auf. »Und morgen – kommen die Neugierigen. Aber als Gäste. Und ich muß sie bedienen.«

Sie schloß das Haus ab und ging zu ihren Kindern. Hedchen malte. Der kleine Fritz Wingen aber jubelte, endlich einmal mit seiner vielgeplagten Mutter spielen zu können. Eine Festung mußte sie mit ihm bauen, hohe Mauern drum. So hoch, daß die Bauklötze wackelten. »Nicht zu hoch«, flüsterte sie, nahm den Jungen auf den Schoß und drückte ihn an sich. Der kleine Wingen sperrte sich gewaltig gegen diese aufdringlichen Zärtlichkeiten. »Nicht zu hoch« – sie hielt ihn ab von sich und sah ihn an. Bist du nun reich geworden über Nacht? wollte sie fragen, aber gleich verbarg sie die Frage in ihrem Mutterherzen, so tief und so gut sie konnte.

Es klopfte unten an die Haustür. Heute mochten Gäste kommen, wie sie wollten, Lotte öffnete niemandem das Lohberghaus.

»Heh!« Es klopfte lauter. Gröblich schlug es an die Tür.

Halb ärgerlich, halb ängstlich ging sie hinunter und öffnete – Lotte schrie laut auf. Die Kinder trappten auf dem Flur oben. »Gleich geht in die Stube und macht zu.« rief sie und wollte die Haustüre zudrücken.

718 »Na na«, knurrten die Männer draußen, und der vordere stellte den Fuß zwischen Tür und Schwelle, »man muß sich nich gleich so haben.«

Die Männer brachten den Sarg.

»Von Meister Hanken kommen wir. Aber wir haben 'n Sarg erst vom Lager in Esperstedt geholt. Drei Mark fuffzig kriegen wir. Na nu! Na zum Himmelbombenelement nochmal – he!!«

Lotte hatte, als der Mann seinen Fuß von der Schwelle nahm und den Sarggriff fassen wollte, die Türe zugeworfen und den Schlüssel umgedreht.

»Verdammig! Was sagst'n nu, Karl? Sin die Weiber nich immer gleich oben naus? He! Aufmachen!«

Lotte stemmte sich gegen die verschlossene Tür. »Nein, nein, nein«, flüsterte sie.

Aber die zwei braven Männer vor der Türe draußen hatten keine Lust, Kortüms Sarg den Lohberg wieder hinunter zu tragen und morgen noch einmal hinauf, bloß weil so ein Weibsbild Angst hat vor dem schwarzsilbernen Ding. Sie hämmerten so lange an die Türe, bis die Kinder oben schrien und weinten und Lotte nachgab.

»Aber nu hört sich doch alles auf, Frau Wingen. Wenn's noch Ihr eigner wäre. Nee, sowas haben wir in unserm Leben noch nich erlebt. Hier is der Lieferzettel. Na, nehm' Sie'n nur, er beißt nich. Faß an, Karl. Soll er die Treppe nauf?«

»Stellen Sie'n« – Lotte sah sich scheu um – »daher.«

»Was? Einfach so hier aufn Flur?«

Eine weitere Antwort bekamen sie nicht. Lotte lief einfach die Treppe hinauf, huschte ins Zimmer, schloß zu, nahm ihre Kinder in die Arme und preßte sie an sich.

»Waren die Männer böse?«

»Die Männer nicht, Hedchen.«

»Haben die uns was gebracht?«

Lotte schauerte zusammen: »Komm, Hedchen, nimm das Häkelzeug. Ich mache 's dir vor. Erst nimmst du rotes Garn. Nein, faß mal die Nadel selber an.«

Über den Schwierigkeiten der Häkelkunst vergaß Hedchen ihre Fragen.

Als Lotte die Kinder zu Bett brachte, betete sie mit ihnen. Hedchen konnte ihren Vers auswendig. Fritz zog die Strophen wie allabendlich in den bündigen Spruch zusammen: »Lieber Gott, betrete dich über mich kleines Kind« – und fügte heute hinzu: »Ich will was zu trinken.«

719 »Morgen, Fritz.«

»Jetzt! Jetzt gleich!«

Aber Lotte, der vielleicht Haus und Hof und Land und Wald ringsum gehörte, Lotte Wingen getraute sich nicht die Treppe hinunter. Im Flur, neben der Küchentür, stand Kortüms leerer Sarg.

»Ich kann dir nichts zu trinken geben. Sei lieb. Sei gut. Nicht weinen. Hab deine Mutter lieb. So. Gute Nacht.«

»Ich hab so'n Doorst!«

»Ein Zuckerplätzchen geb ich dir. Das schmeckt fein. Ja? Nun geht der Durst weg. Da ist er schon fort, mein süßer kleiner Jung, mein Flügelkind . . .«

 


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