Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kortümgeld

Das Gebirge lag tief im Schnee. Es war kalt, aber die Mittagssonne brachte die dicken Schneebehänge auf den Zweigen zum Tropfen. Bilmes stieg den Heidpfad herauf. Er trug sorgsam ein Päckchen mit Eiern, Speck und einem Pfund Schmalz unter dem Arme. Als er nahe vor seiner Waldhüterstelle am Heidstein war, wandte er sich um und sah unzufrieden hinter sich: die Wege hier oben gehörten ihm und dem Wild. Jetzt zogen Skibahnen durch den Schnee. Seit das Theater im Schottenhaus spielte, war auch der verborgenste Jägerpfad nicht sicher vor den Festgästen. Am Abend guckten sich die Stadtleute die Komödianten an, und am Tage rutschten sie wie Besessene die Schneebahnen im Wald hinunter. Diese Spuren der wilden Männer und Weiber kränkten Bilmes – trotzdem sah er sie noch einmal an. Seit dem Kriege mußte er immer zurückblicken. Er fühlte etwas hinter sich tappen. Was es war, konnte er nie feststellen. Als ob ihm jemand nachging. Er blickte kopfschüttelnd auf seinen kurzen Mittagsschatten im Schnee. Der Schatten war es nicht: nein, der tappt nicht.

Vielleicht war es sein Freund Mämpel. Ungeduldig tappte Mämpel in der Heidhütte herum und wartete auf die Eier und den Speck. Er hatte Heu in die Wildraufen gebracht und war hungrig. Die Vorarbeit zum Mittagessen war längst besorgt. Mämpel hatte Holz gespalten, Feuer in dem kleinen Herd gemacht, den Kaffeetopf aufgestellt, die Pfanne mit einer Speckschwarte ausgewischt – jetzt klappte er die obere Hälfte der Tür auf und lugte ins Freie: da stand dieser Evangeliste am Meilerschlag, den Speck unterm Arm, murmelte vor sich hin und fuchtelte mit den Armen.

»He! Nu komm doch un pred'ge nich!«

Bilmes sah zu ihm hin, besann sich und stapfte durch den Schnee heran. An der Holzstufe schlug er die Schneeklumpen von den Hacken und gab Mämpel die Eier: »Sachtchen. Zerbrich se nich.«

Er band sein Wolltuch ab, das er dreimal um den Hals geschlungen hatte, hing die Fellmütze an den Nagel und zog die Handschuhe aus: »Schöne warm hier.«

»Wo warste denn so lange?« fragte Mämpel und schnitt die gekochten Kartoffeln in Scheiben.

»Im Schottenhaus.«

»Hä, Kortümgeld?«

›Kortümgeld‹ war ein ganz neues Wort im oberen Ilmtale. Früher 97 verbanden die Leute mit dem Wort Kortüm die Vorstellung Ohnegeld. Jetzt gab es plötzlich Kortümgeld im Land. Vom Schottenhaus rieselten nach allen Seiten schmale feine Geldrinnsale in die Täler hinunter und verschwanden in den Taschen der Einwohner. Der Volksmund sprach wahr: Herr Kortüm hatte dieses Geld gezeugt. Nur der Herr Kortüm – der sah es bloß von hinten: es lief von ihm weg.

»Wieviel Fuhren Tannenzweige hast'n du eigentlich gemacht, Bilmes?«

»Fünfe nach Esperstedt un dreie nach Besenroda nunter.«

»Das sin achte. Ich habe bloß sechse.«

»Du hast dafür de Fahnen aufgezogen.«

Mämpel nickte: »Weißte, Herr Kortüm hat's doch in sich, verdammig nochämal. Der wird schöne verdient haben. Die schippen doch's Geld bloß so. Als ich meins holte, hatte er lauter solche kleine Rollen aufm Tische stehn, immer eine neben der andern. Un da knippst er so einem Ding einfach 'n Kopp ab, dreht's rum, un nu hähähä liefen de Taler raus. Wie wenn's gar nischt wäre. Du, un wenn er einen dann so auszahlt: peng peng peng schmeißt er de Taler auf'n Tisch, ganz weit von oben runter.«

Die Spiegeleier waren fertig, die Kartoffeln auch. Die Waldmänner zogen ihre Messer aus der Hose, klappten sie auf, wischten die Klingen am Rock ab und fingen an.

»Herr Kortüm«, sagte Bilmes und spießte eine Kartoffel an. Er steckte sie aber nicht in den Mund, sondern sah sie in Gedanken an: »Vielleicht hat er Geld verdient. Vielleicht. Aber was nützt'm das?«

»Du Ochse.«

»Wenn einer so alt is wie der?«

»Na, un du?«

»Ich! Dem sein Alter kannste in Jahren gar nich ausrechnen. Der kommt schon in der Bibel vor.«

»Hähä.«

»Im vorigen Winter, als so lange Schnee lag, hab ich'm immer de Fresserei naufgebracht. Weißte, als er so ganz alleine war un wo es ihm so dreckig ging. Haben Sie'n keine Angst hier oben so alleine? Sie sind das doch nich so gewöhnt wie unsereiner, hab' ich'n gefragt. Um mich? hat er da gesagt, um mich Angst? Um 'n lieben Gott habe ich manchmal Angst. Daß der's nich anders hat machen können, sagte er. Du, Mämpel, so einer wie Herr Kortüm war schon dabei, als der liebe Gott 98 de Ilm aus der Erde zog un laufen ließ. So einen solln sie mit Komödianterei ungeschoren lassen. Verstehste?«

»Ne«, sagte Mämpel und rieb mit einer Brotkante seine Hälfte der Pfanne aus.

»So einen, Mämpel, sollen se seine eigenen Wege laufen lassen. Wenn du dann genau aufpaßt, kannste von so einem nachher lernen, wie Straßen laufen, wenn du se alleine gehst, un wohin se gehn. Verstehste jetzt?«

»Nee.«

Bilmes seufzte: »Der Mensch muß es eben in sich haben, wenn 'r sich da was denken soll.«

Mämpel hatte es nicht in sich und konnte zwischen Maskenleben und Lebenleben keinen Unterschied entdecken. Mämpel lebte so durchaus, daß er die Maske für ein Ding aus Pappe und Gaze hielt, das sich der Mensch zum Spaße aufsetzt und dahinter derselbe bleibt, der er ohne Larve gewesen ist. Aber auch bei den anderen oberen Ilmtalern hätte die dunkle Weltweisheit des verrückten Evangelisten wenig Anklang gefunden. Kein Mensch hatte dazu Zeit. Sie arbeiteten alle im Schweiße ihres Angesichts, und wenn sie fertig waren, schwitzten sie erst recht: dann rechneten sie – bis auf einen: Klaus Schart rechnete nicht. Das neue Kontobuch hatte sich nicht bewährt. Er hatte stets weniger Gehalt, als Posten auf der Ausgabenseite des verdammten Liniennetzes gebucht waren. Da stimmte etwas im Prinzip nicht. Vielleicht hatte die Buchführungskunst doch nicht Schritt gehalten mit der Entwicklung der sonstigen Technik – Konstanze, sagte er, o Konstanze – und so was bucht sich schwer für einen weder dichtenden noch holzhackenden Menschen.

Die anderen aber buchten alle Kortümgeld. Der Dichter: Tantiemen. Kuffert: Erlös für Andenken an Esperstedt sowie für porzellanene Ausrüstungsgegenstände der Fremdenzimmer. Mickewitz: Kortümgeld für Fremdenbetten, Fremdenkammern, Fremdenappartements, dazu für Arznei und Verbandstoffe, Essenzen und Magenliköre. Sie hatten alle gegen bar produziert – Maskenmacher Albrecht: Girlanden, Fahnen und Transparente. Schuldiener Albrecht: Handreichungen aller Art. Hiebrich: Rostbratwürste. Alle buchten Kortümgeld: Schauspieler, Thermometermacher, Chorsänger, Musikanten, Glasbläser, die Wasserpumper der Feuerwehr, Lichthändler, Raketenmacher, die Reichspost, die Reichsbahn, der Eselverkehr, das Elektrizitätswerk, Bäcker, Schneider, Schuster, Totengräber, Stellmacher – alle!

Auch Herr Kortüm buchte. Morgen war ja die letzte Aufführung. 99 Herr Kortüm hatte die meiste Buchungsarbeit. Bei ihm war das Geld zusammengeströmt, hatte sich gestaut, einen Talerstrudel gemacht und war dann wohlgeordnet und sanft in die Einzelkanäle abgeflossen. Diese Kanäle zerfielen in zwei Abteilungen: die gelbe Mappe enthielt die Belege für vorhergesehene Ausgaben, die blaue für unvorhergesehene. Gelb war dünn. Blau war dick. Herr Kortüm hatte nicht voraussehen können, daß außer den ordentlichen sehr viel blaue, ja himmelblaue Zahlungen nötig waren. Da hatte sich in Esperstedt zum Beispiel ein Mann aufgemacht, eine neue Deckenlampe auf den Schottenhügel hinaufgetragen und sorgfältig auf diesem Hügel niedergelegt. Daß diese Lampe in dem dort befindlichen Gebäude derart anzubringen sei, daß sie auch leuchtete – das hatte dem entrüsteten Mann kein Mensch gesagt! Nichtangenagelte Bretter, Klingeln ohne Batterien, Laternen ohne Lichte, Trommeln ohne Felle, Hüte ohne Krempen, Hosen ohne Knöpfe – ach, die Nebenkosten, das Sonstige sowie das Insgemein verunstalteten eine mildblökende Handwerkerrechnung urplötzlich in einen reißenden Leoparden. Herr Kortüm hätte nie gedacht, daß die Sachen in dieser Welt fast nichts wiegen, aber die Nebensachen astronomische Gewichte haben. Nun waren alle Unterlagen in den zwei Mappen beieinander, und Herr Kortüm zählte zusammen. Er blickte das Resultat längere Zeit an. Er hatte sich wohl versehen. Herr Kortüm zählte noch einmal und fing der Vorsicht halber von unten an. Kann das sein? Zahlen lügen nicht – nach dem in einer unseligen Menschheitsstunde der Hölle entsprungenen Vorurteil, welches die Zahl über das Wort gestellt hat. Herr Kortüm, seht ihn an, wie er dasitzt – dieser Mann ermittelte in diesem Augenblick an Hand seines Zahlenmaterials, daß er nichts verdient hatte an dem Festspiel auf dem Schottenhaus – er, der Herr Kortüm.

Kortümgeld . . .

Allerdings, völlig nichts durfte er nicht sagen. Auf Blatt zweiundzwanzig befand sich ein Plus. Da stand geschrieben: am zweiten November Ankunft der Esel. Hundertsieben Gäste, Einnahme hundertsechzig Mark. Herr Kortüm wurde nachdenklich: am Theater habe ich also nichts verdient. Nichts, ja. Es war zu gutes Schneewetter. Die Fremden blieben den ganzen Tag im Freien. Die Hiesigen aber betreiben Selbstversorgung. Die Ankunft der Esel hatte die Besenröder jedoch überrascht. Sie liefen ohne Butterbrote hinter den Eseln her, und Hiebrich konnte seine Kohlen unterm Rost nicht so schnell in Glut kriegen. An den Eseln hatte Herr Kortüm verdient. Zahlen lügen nicht: ich muß also 100 Esel in Gang setzen, wenn ich leben will. Schade. Je älter ich werde, desto mehr Mitleid fühle ich mit der Menschheit. Es ist ihr schwer zu helfen. Außerordentlich schwer. Man müßte tatsächlich in der Richtung des Streichelbaren, Niedlichen weiterarbeiten . . . ich muß also den Leuten etwas bieten, das sie angeht . . .

Herr Kortüm richtete sich hoch – nein, man muß nicht! Was ihnen am fernsten liegt, das, denken sie, geht sie am meisten an. Der weiße Stein auf dem Lohberg! Und die Esel . . . vielleicht lagen ihnen diese guten Tiere auch fern . . .

Liese ging auf den Zehen. Herr Kortüm arbeitete. Er war mitten im Schaffen. Drinnen im Saal hämmerten sie an den Kulissen – Herrn Kortüms Gedanken hatten sich schon hoch über die Kulissen und die blaue Mappe und den Theatersaal erhoben: ganz hoch muß er stehen, wie ein Monument; ein Stein, den sie noch draußen in der Goldenen Aue erkennen können. – »Liese! Die Tüte mit den Krumen! Es ist Zeit.«

Herr Kortüm, der einzige Bewohner des oberen Ilmtals, welcher nicht teil hatte am Kortümgeld, dieser Mann, der sein bißchen Eigen immer nur von hinten, im Fortgehen erblickte, der Lenker des Schottenspiels, welcher am Schottenspiel sein täglich Brot nicht finden konnte, dieser arme Bereicherer aller – Herr Kortüm erhob sich lächelnd. Sein Blick schweifte weit über den Lohberg und in die verschneite Goldene Aue. Er bewegte die Hände beschwichtigend: laß nur, laß nur, ich komme schon hin, wo ich hingehöre.

Er zog seinen schwarzen Rock an, steckte die Perle ins Halstuch, nahm die Krumentüte und begab sich auf den Weg zu seinem Privatfriedhof. Im Wald war tiefe Stille. Wenn ein Kreuzschnabel von einem Zweig auf den anderen flog, sank langsam ein Flockenballen herab auf die Schneedecke. Es ging sich schön auf dem Schnee, der schmerzlindernd wie ein dicker Teppich zwischen den Sohlen des alten Mannes und dem steinigen Pfade lag. Manchmal kam ein Besenröder vorüber, machte Herrn Kortüm Platz, indem er in den knietiefen Schnee am Wegrande stieg und grüßte: »Morgen auch, Herr Kortüm.« Vor ihm ging eine Frau. Jetzt blieb sie stehen. Die Sonne blendete auf dem Schnee. Sie legte die Hand über die Augen.

»Sieh da, Konstanze Schröter«, murmelte Herr Kortüm. Diese gebrechliche zarte Menschenblume in der Schneewildnis war ein Labsal für seine alten Augen.

101 »Ah, Herr Kortüm!« Konstanze sah verwundert den festlichen Rock in dieser Winterlandschaft.

»Immenfeld ist das, gnädige Frau. Das Schloß kann man von hier aus nicht sehen. Aber nur fünf Minuten weiter, dann kommt ein Durchhau. Dort sehen Sie's.«

»Ich bummele nur ein wenig herum«, antwortete Konstanze. »Wo geht denn die Straße eigentlich hin? Man sieht nirgends einen Wegweiser.«

Herr Kortüm legte den Kopf schief nach hinten, kratzte sich in den Bartstoppeln und sprach: »Nach dem Pamir. Nach Taschkent ungefähr, Gnädigste.«

»Nach – wie?«

Herr Kortüm zuckte die Schultern: »Leider.«

Konstanze lachte: »Na, dann gute Reise, Herr Kortüm, falls Sie dorthin unterwegs sind.«

»Ich mache früher Station.«

Immer noch lachend sagte Konstanze: »Die Station zwischen dem Schottenhaus und Taschkent möchte ich kennen!«

»Möchten Sie? Gleich dort am zweiten Vorsprung, sehen Sie's? Ja, da ist sie. Dort liegt mein Privatfriedhof. Zwischen dem Schottenhaus und Taschkent, allerdings etwas mehr nach dem Schottenhaus zu – ich bin leider nicht mehr jung. Ja. Ich will eben hin.« Herr Kortüm öffnete seine Tüte. »Sehen Sie? Krumen. Ich füttere die Vögel jeden Mittag.«

Konstanze wurde verlegen: »Die armen Dinger. Jetzt im Winter. Schön, daß Sie sie füttern.«

»Die Krumen sind Honorar« – Herr Kortüm lächelte Konstanze mit spitzem Munde an – »für Schauspiel und Gesang.«

»Kann ich ein Stück mitkommen?«

»Aber liebe gnädige Frau« – Herr Kortüm schritt federnd neben ihr aus. »Gehen Sie lieber hier« – er wiegte sich in den Hüften – »bitte Vorsicht, eine Schneewehe. Darf ich Ihnen meinen Arm geben? Die Schmelze vereist so schnell. Ja. Wir sind ziemlich hoch hier.«

»Wie hoch liegt das Schottenhaus eigentlich?«

»Achthundert. Das heißt: Meereshöhe. Die wirkliche Höhe ist noch nicht ermittelt worden« – Konstanze sah ihn an – »ich meine, auf die Höhe überm Meer kommt's natürlich gar nicht an. Maßgebend für die Atmosphäre eines Ortes ist seine Höhe über der Schädeldecke des nächstgelegenen Bewohners.«

102 Herr Kortüm fühlte Konstanzes Blick, aber er verzog keine Miene: sie soll mich schon kennen lernen.

Der Friedhof war eine kleine kreisrunde Waldblöße, eingerahmt von dichtem Tannengebüsch und überwölbt von schneebedeckten Buchenzweigen. Herr Kortüm kehrte mit Tannenreisig eine Stelle von Schnee frei. Schon schwirrten die ersten Vögel herab, traten hin und her und sahen Herrn Kortüm an.

»Sie haben gar keine Angst vor Ihnen, gnädige Frau.«

»Ich sehe ja auch so gutartig aus.«

Herr Kortüm kratzte sich wieder in seinen Bartstoppeln: »Ja – woran soll das eine Drossel merken?«

»Wo's nicht einmal ein Mann merkt!« lachte Konstanze.

»Oh! Der merkt's – das heißt . . .« Herr Kortüm zog die Augenbrauen ganz hoch, er trat dicht an die Schauspielerin heran und hob den Zeigefinger: »Es gehört ein Blick dazu und viel Erleben. Im Alter haben das manche Leute: allerdings ist's dann zu spät.« Bei den letzten Worten machte Herr Kortüm sogar eine seiner seltenen Verbeugungen.

Konstanze lächelte ihn an: »Warum hat man uns diese Welt nicht bauen lassen. Wir hätten manches umgelegt.«

»Gnädigste – trotz allem: nein. Auch das kommt mit den Jahren.« Herr Kortüm bewegte mit großem Schwung seinen Arm von West nach Ost: »Sehen Sie das an. Man erblickt von hier kein bewohntes Haus – ist es nicht gut so, wie es gemacht ist?«

Der Wald hinter ihnen stand durchsichtig wie Glas bis tief hinein: die Schneedecke am Boden hob Stamm neben Stamm geschnitten scharf ab, nur die Schneedecke oben auf den Wipfeln zog einen Vorhang drüber und machte den Waldraum heimlich für das Wild und für die Eingeborenen, die hier allein etwas zu suchen haben. Aber vor ihnen breitete sich das offene Land aus, strahlend schneeweiß. Gar keine berühmte Aussicht lag vor ihnen, nicht Fels, nicht Strom, nicht sonst ein Punkt. Auf seiner Bodenwelle in der Mitte stand ein Gehölz, trug seine Schneedecke und rührte sich nicht. Zu der Welle hin senkte sich eine Mulde voll Schnee, hinter der Welle eine andere, größere, eine ungeheure Mulde voll Schnee. Und ganz draußen das graue Band eines Waldrückens. Nichts sonst – ein paar Krähen noch, ja . . . und der Himmel drüber: goldgrün wie oft an guten Wintertagen. Aber eine übermenschliche Stille, wahrlich die Gewißheit Gottes, erfüllte voller als das Sonnenlicht diese einfältige klare Bodenschale mit der grünen Luftglocke darüber.

103 »Hier bleibe ich«, sagte Konstanze leise.

»Es wird uns eine Freude und eine Ehre sein«, antwortete Herr Kortüm – zugleich im Namen Thüringens.

»Ich meine, den Urlaub verbringe ich hier. Zehn Tage habe ich noch, wenn das Festspiel vorbei ist.« –

Vor der Tür des Schottenhauses standen ein paar Schauspieler im Schnee und sonnten sich, auch Wingen und Schart unter ihnen.

Klaus lief Konstanze gleich entgegen: »Nach dem Nonnental zu sind Sie gegangen? Ach, wenn ich das gewußt hätte. Da führt ein prachtvoller Waldweg nach den Sachssteinen hin –«

»Guten Morgen, Herr Schart«, sagte Herr Kortüm. Klaus hatte ihn in der Eile ganz übersehen. »Na, Liese, was gibt's?«

»Ob der große Koffer von gnä' Frau nu runter soll vom Boden un der kleine nauf ins Zimmer zum Packen, wollte ich fragen.«

Herr Kortüm sah Konstanze an. »Ich – nein, Liese, ich weiß noch nicht. Vielleicht bleibe ich noch ein paar Tage hier.«

»Sie spielen weiter?« rief Klaus.

»Mäßigen Sie sich, Herr Schart«, sagte Herr Kortüm halblaut zu ihm. Wingen machte große Augen: »Was denn, Konstanze« – aber die Schauspielerin unterbrach: »Ich denke, es ist gut, wenn ich meinen Urlaub hier oben verbringe. Das Herumreisen erst – es ist so schön auf dem Schottenhaus.«

Wingen nahm Konstanze am Arm und führte sie ein paar Schritte weg: »Hier willst du bleiben, Konstanze?«

»Warum denn nicht?« Die Schauspielerin sah an ihm vorbei, nach dem Lohberg hinauf. Eine Schar Krähen jagte sich rund um ihm im Kreise.

»Das geht nicht!«

»Ja, höre mal – natürlich geht das!«

»Unmöglich.«

»Bist du bei Troste, Wingen?«

»Nein, Konstanze – es ist völlig undenkbar. Du weißt, ich gebe nichts auf das Geschwätz der Leute, aber wir beide zusammen, nach dem Festspiel, jeder kennt uns, hier oben, allein, ohne Grund, auf dem Lande, weithin vor aller Welt auf einen Berg gestellt –«

»Wir beide?«

»Ja, weißt du, ich habe Herrn Kortüm nämlich schon gesagt, daß ich mein Zimmer noch eine Woche behalte.«

104 »Herrn Kortüm hast du's gesagt? Ach –«

»Ich – wir sind über dem Gastspiel so wenig zusammengekommen. Ich wollte es dir eben auch erzählen.«

Konstanze kehrte mit dem Schuh eine kleine Schneepyramide zusammen. Dann sah sie Wingen plötzlich in die Augen. Sie wollte lächeln dabei, aber es sah wie Spott aus: »Über welchem Gastspiel, Wingen?«

Wingen rückte an seiner Halsbinde: »Konstanze –«

»Und wir hätten hier so schön den lebenden Menschen untersuchen können –«

»Ja, sieh mal –«

»Der an die Decke klopft, wenn du dichtest, weißt du?«

»Also Konstanze –«

»Wir fangen wohl an, uns allmählich vor unseresgleichen zu hüten.«

Ganz ruhig sprach sie. Konstanze Schröter war eine große Schauspielerin. Sie war ihren Ruhm wert. Nur um einen Schein blasser war ihr schmales Gesicht geworden: »Hol den Koffer, Liese«, sagte sie an der Tür, »ich fahre morgen.«

Herr Kortüm machte dieselbe Verbeugung, die er ihr eben, beim Blick in die einfältige Schneemulde, dargebracht hatte. Konstanze ging die Treppe hinauf. Man hörte sie von Stufe zu Stufe steigen, so zart sie auftrat. Die Männer an der Schottentür waren still.

»Sie bleibt da?« fragte Klaus und legte seine Hand auf Herrn Kortüms Arm. Das hatte er bisher noch nie gewagt. Die Frage mußte aber gar nicht bis zu Herrn Kortüm gedrungen sein, denn der kratzte sich in den Bartstoppeln und sah Wingen nach, der den Weg nach Besenroda hinunterging.

»Oder bleibt sie nicht da?« rief Klaus.

Langsam knüllte Herr Kortüm die leere Krumentüte zusammen, die er noch in der Hand hatte: »Lieber, tun Sie mir den Gefallen« – er gab Klaus das Knäuel – »in den Papierkorb dort – ich muß gleich ins Geschäftszimmer.« Er begab sich an seine Arbeit. Die Schauspieler waren ihrer Wege gegangen. Klaus stand allein da. Liese kam mit dem Koffer.

»Gib her«, sagte Klaus. Er nahm ihr den kleinen Koffer ab und händigte ihr dafür die weniger wertvolle Tüte ein. Liese war sehr erstaunt, als sie den Schulmeister mit dem Koffer die Treppe hinaufgehen sah und ihn an Frau Schröters Tür klopfen hörte.

»Herein«, sagte Konstanze.

105 »Hier ist der Koffer.«

»Aber Herr Schart!«

»Sie reisen nicht ab?«

»Was schleppen Sie sich denn mit dem Koffer!«

»Sie reisen doch ab?«

»Das Gastspiel ist zu Ende. Ich muß nach Weimar.«

»Ach, nach Weimar. Eine schöne Stadt.«

»Ein reizendes Stadtbild. Und der Park.«

»Und das Theater!« rief Klaus und glänzte vor ihr in der Sonne.

Konstanze nickte. Klaus bekam etwas Mut: »Die Julia habe ich dort gesehen – oh . . .«

»Ja?«

»Und die Verhandlungen wegen des Gastspiels auf dem Schottenhaus habe ich in Weimar geführt. Ja, ich selber. Eigentlich habe ich das Festspiel zustande gebracht.«

Kortümgeld, dachte Konstanze. Laut sagte sie: »Da haben Sie was Schönes zustande gebracht.«

»Siebenmal habe ich die Julia gesehen.«

»Romeo heißt das Stück, Herr Schart!« – In Konstanzes Augen blitzte es. »Aber im Februar spiele ich das Käthchen im Staatstheater.«

»Nein!« rief Klaus.

Konstanze dachte: sieh mal, jetzt ruft auch dieser schüchterne Mann schon nein! – »Gefällt Ihnen denn die Rolle nicht?« fragte sie.

»Gott, gefallen – die Rolle paßt doch nicht für Sie!«

»Was fällt Ihnen denn ein, Herr Schart!«

Klaus sah sie erschrocken an. Aber Konstanze fuhr fort: »Wir werden wetten, ob die Rolle paßt. Zur Erstaufführung schicke ich Ihnen eine Karte.«

 


 << zurück weiter >>