Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Leere Welt

Die Echostube trug die Zeichen und Narben des Lebens an sich von der Bodenleiste bis zur Decke. Bereits die alten Ägypter hatten mit diesem Verfahren, die Wände zu beschreiben, gute Erfahrungen gemacht. Kortüms noch beträchtlich hinter Ägypten liegender Pamir mit seinen Märchenorten wahrscheinlich auch. Es gibt aber Wände mit schwer leserlicher oder für Neulinge ganz unsichtbarer Schrift, und Klaus Schart hatte Mut genug, sein Quartier bis auf weiteres in eine solche Wandschaft zu verlegen, statt auf Kortüms Rat nach Gilghit oder Taschkent; er folgte Utzenstorffs Rat und reiste nach Berlin, wo er die große Welt vermutete – Leistungsmöglichkeit, Ruf, Ellbogenfreiheit und am Ende Werk, Ruhm, Besitz und – Konstanze. Nun, man wird ja sehen. Die Behörde hatte jedenfalls sein Gesuch um Urlaub nach einigem Hin und Her auf Grund erwiesenen Talentes unter der Bezeichnung »Begrenzte Studienzeit« gewährt.

Klaus Scharts Vorbereitungen waren entsprechend seiner knappen Kasse nicht ungeschickt. Er bat Professor Holdermann um Auskunft, wo ein Mann mit möglichst wenig Geld möglichst lange in Berlin sein Leben fristen kann. Der Maler schrieb ihm, seine Schüler wohnten bei einer gewissen Frau Mollenhauer in der Benkestraße, nicht weit vom Vergnügungspark »Traumland«, ein oder zwei Haltestellen hinter Pankow Nordbahnhof. Frau Mollenhauer wäre die Mutter seines ehemaligen Modelles Kitty, das jetzt in Berlin tätig zu sein schiene. Holdermann hätte noch keine Klagen gehört, Klaus solle es versuchen und nicht vergessen, den Produktionschef der World, Herrn Utzenstorff, bestens von ihm zu grüßen.

Wo man in Berlin wohnen könne, war von Klaus sorgfältig erkundet worden. Wann ein Fremder aber am besten in Berlin eintrifft, das hatte er zu erfragen vergessen. In dem begreiflichen Wunsch, auch nicht einen einzigen Tag zu verlieren, fuhr Klaus in der ersten Urlaubsstunde ab nach Berlin. Das war ein Sonntagmorgen. Nachmittags traf 538 er auf dem Anhalter Bahnhof ein, bestieg die richtige elektrische Straßenbahn, verließ sie aber an der falschen Haltestelle und ging nun mit seinem leichten Koffer zu Fuße die Linienstraße entlang – man wolle es bedenken: an einem sonnigen Sonntagnachmittag zwischen vier und fünf Uhr ging Klaus Schart die Linienstraße entlang . . . Nicht Vulkanausbrüche oder Springfluten können die Seele des Menschen lähmen mit dem Gefühl der Sinnlosigkeit des Daseins, wohl aber der Anblick einer endlosen menschenleeren Vorortstraße im Fünfuhrlicht eines sogenannten schönen Riesenstadtsonntags. Die eine Häuserreihe der Linienstraße lag im Schatten, die andere beschien jene Sonne, die nur Sonntag nachmittags gegen Fünf scheint. Ein Fenster wie das andere, ein Balkon wie der andere, zehntausend Balkons, hunderttausend Fenster. Eine Haustür glich der anderen, ein Torweg dem anderen, und die Seitenstraßen waren nicht zu unterscheiden. Kein Mensch zu sehen – doch, da ging einer. Klaus wäre ihm fast nachgelaufen, um ihn zu begrüßen. Und dort an der Ecke stand ein Schutzmann, blickte in den blauen wolkenlosen Himmel hinauf und gähnte. Die Straßenbahn kam gerattert – sie war leer. Alles war leer, steinern, still und leblos. Nur ein Radio näselte irgendwo in der Ferne. Klaus stellte den Koffer hin und horchte: dort müßte nach menschlichem Ermessen ein lebender Berliner sein. Wo aber waren die anderen? Ob sie schliefen? Auf alles war der Mann aus Hörsel hinterm Wald hinter Eisenach gefaßt – auf das atemlose Hasten der Weltstadt, das Durcheinander der Millionen, aber nicht auf leere Bürgersteige, blank gefegte Fahrdämme, auf Öde und trostloses Nachmittagslicht. Er nahm seinen Koffer wieder auf – diese Linienstraße! Ohne Anhalten lief sie auf ein Etwas zu, das es in Wirklichkeit nicht gibt, aber im Zeichenunterricht Fluchtpunkt genannt wird. Klaus überkam das Gefühl, ins Garnichts zu wandern. Endlich schien sich etwas zu ändern: die Häuserreihe, obgleich sie gradlinig ins mathematisch Unendliche weiterfloh, hatte eine Lücke. Ein großer leerer Platz tat sich auf. Klaus zögerte, ihn zu überschreiten. Oh, wenn jetzt ein Milchwagen gekommen wäre, in der Mitte des Platzes ein Rad verloren und als Trümmerhaufen dem Auge einen Ruhepunkt gegönnt hätte! Linien ohne Ziel zwingen wenigstens zum Fortbewegen, aber dieser Platz ohne Mittelpunkt schien selbst ganz leise zu schwanken. Klaus ging an den Häusern hin. In einer Seitenstraße sah er eine Autotaxe stehen. Er weckte den schlafenden Chauffeur und nannte ihm die Wohnung der Frau Mollenhauer.

539 Nach wenigen Minuten stand Klaus vor einem Haus, das denen glich, die seinen Weg zum Fluchtpunkt seit einer Stunde begleitet hatten. Im Erdgeschoß wohnte links Becker, rechts Schmidt. Klaus stieg die Treppen hinauf und ging vorbei an den Türschildern Fischer, Vogel, Schwarz, Müller, Krause, Hofmann bis in den vierten Stock hinauf, wo gegenüber einem gewissen Richter endlich das Porzellanschild mit der Aufschrift »Mollenhauer« zu ihm sagte: »Hier erwartet dich jemand.

»Grade noch«, sagte Frau Mollenhauer. Sie wollte eben in die Nachmittagsvorstellung des Kinos gehen und konnte es bei ihrer Leibesfülle nicht auf die letzte Minute ankommen lassen. Grade noch den Flur- und Hausschlüssel vermochte sie Klaus einzuhändigen. »Eingewöhnen« mußte er sich selber. Es war eben Sonntagnachmittag. Der Untermieter Klaus Schart setzte sich auf einen Stuhl, einen sogenannten Wiener Rohrstuhl, und war bei sich zu Hause: ein Waschtisch, ein Salontisch, ein zweiter Rohrstuhl und das Bett. Über dem Bett ein Bild, das die Kahnfahrt eines Liebespaares auf einem Parkteich darstellte, vorn Schwäne, hinten ein Schloß. Klaus trat zum Fenster. Häuser mit gleichen Fenstern und gleichen Balkons. Je zwei Fensterpaare schienen zu einer Wohnung zu gehören; durch die einen Fenster sah Klaus die Kopfenden der Betten, hinter den anderen Fenstergläsern Blumentöpfe. Betten, Pelargonien, Betten – Klaus fing an zu zählen. Die einzige Abwechslung boten die Eimer, die auf den Balkons standen; einmal waren sie blau emailliert, einmal weiß. Manchmal lehnte auch eine Küchenleiter neben der Balkontür, und dort drüben hatte jemand seine Briketts aufgeschichtet. Über den Dächern der wolkenlose Himmel. Sonntagnachmittagsstille. Offenbar befand sich Klaus allein in Berlin. Die übrigen vierdreiviertel Millionen Berliner waren verschwunden – bis auf Frau Mollenhauer, einen Schutzmann, ein paar Chauffeure und Straßenbahner und zwei oder drei Dutzend sonntäglich gekleidete vergessene Passanten.

Heute früh, als Klaus in Hörsel die Gartentüre aufschloß, hatte ein Zweig des Fliederbusches mit dicken Knospen sein Gesicht gestreift. Klaus öffnete das Fenster, sah in schwindelnde Tiefe hinunter, sah straßauf, straßab: Stein, Stein. Und Glas. Und der blaulackierte Himmel. Er starrte die beiden Schlüssel an, die er immer noch in der Hand hielt. Das also schließen die auf? Plötzlich horchte Klaus. Er riß die Tür auf. Der Gang war leer. Aber hinter der verglasten halboffenen Küchentüre klapperte Geschirr. Ein Mensch! Klaus klopfte an.

540 »Ja?«

Der Untermieter Schart stand auf der Schwelle still; auf dem Küchentisch saß eine geschmackvoll angezogene junge Dame, die eben kein Auge wenden konnte, weil sie aus einer Blechdose vorsichtig Kaffeebohnen in das Lot laufen ließ. Da fiel eine Bohne vorbei. »Guten Tag«, sagte Klaus.

»So.« Das Lot war voll. »Guten Tag.« Die Bohnen prasselten in die Mühle. »Der Professor Holdermann hat Ihnen unsre Adresse gegeben, ich weiß.« Klaus lehnte am Küchenherd. Die Tochter ihrer Mutter wäre sie, erklärte ihm das hübsche Kind, Kitty Mollenhauer, ja, und sie habe es sehr eilig, weil Sonntag wäre. Nur einen Schluck Kaffee noch rasch. Woher Klaus käme, wollte sie wissen.

»Hörsel, ach.« Kitty begann, dem Fremdling mit viel Sachkunde den Unterschied zwischen dem kleinen Ort Thüringen und dem großen Ort Berlin klarzumachen. Eine Weile hörte er zu. Dann sagte er:

»Eins möchte ich wissen, Fräulein Mollenhauer: wo sind Sie heute nachmittag gewesen?«

Kitty stellte ihre Tasse hin: »Das laß ich mir gefallen – der fragt einen doch mal grade ins Gesicht hinein!«

»Nein, ich meine das so: ich bin auf dem Bahnhof angekommen, habe mich verlaufen. Die Straßen sehen hier alle so ähnlich aus. Die Menschen übrigens Gott sei Dank nicht«, er verbeugte sich leicht vor Kitty. »Ja, aber wo sind die Leute? Die Stadt ist leer.«

»Frage! Bei so'n Wetter? Aufm Müggelsee und so. Ich muß auch gleich wieder fort.«

»Hoffentlich sind die Herrschaften Montag früh wieder zurück. Sonst steh ich morgen allein in der World.«

»Im Film?! Sie sind vom Film!« Als Kitty vernahm, daß dieser Untermieter morgen vom Chef der Produktion der World empfangen werden sollte, sprang sie vom Tisch. Klaus gab sich alle Mühe, Kitty zu überzeugen, daß er in der World vorläufig gar nichts zu bedeuten habe, jedenfalls noch keine Gäste mitbringen könne. Kitty hörte gar nicht zu. Das war einmal ein Untermieter! Sonst wohnten hier Amtsanwärter oder günstigenfalls Amtssekretäre mit Pensionsberechtigung, manchmal auch Kunstmaler ohne Pensionsberechtigung, dafür wieder mit anderen Vorzügen ausgestattet, aber ein netter junger Mann, der zum Chef der Produktion der World bestellt ist, der hatte noch nicht bei Kittys Mutter in der Benkestraße gewohnt! Es tat Kitty aufrichtig leid, daß sie jetzt fort mußte: »Aber Verabredungen halte ich 541 ein. Das ist mein Prinzip.« Sie versicherte ihm, daß ihr noch niemals eine Verabredung so leid getan hätte, aber daß sie sich morgen wiedersehen würden. Bis um sieben sei sie im Geschäft. »Bei Schmidt. Von der Haustür nach rechts, dann dritte Straße links, das große Eckhaus.«

Am anderen Morgen gab Klaus in der World seine Karte ab und erhielt den Bescheid, Herr Utzenstorff befinde sich in einer Sitzung. Klaus wartete. Er trat zum Fenster. Die Einwohner waren wieder anwesend. Verkehrsschutzleute ordneten den Festzug der Arbeit und des Geldes. Selbstvergessen sah Klaus diesem gewaltigen Spiel um Tod und Leben zu, bis ihn ein Diener aus seiner Betrachtung riß: Herr Schart könne Herrn Utzenstorff erst übermorgen sprechen. Der Chef sei eben auf dem Wege zum Flugplatz. Ganz plötzlich. Er lasse grüßen.

Leider verhinderten auch am übernächsten Tage drei unerwartete Sitzungen, die zwischen vier festgelegte Konferenzen eingeschoben werden mußten, den Empfang. Aber an einem abermals übermorgigen Tage gelang es. Klaus wurde in ein holzgetäfeltes Sitzungszimmer geführt. An langem Tisch saß in der Mitte zwischen fünf oder sechs anderen Herren der Chef: »Mm . . . Klaus Schart.« Utzenstorff stellte den Untermieter aus der Benkestraße den Anwesenden vor, die sämtlich zweifellos keine Untermieter waren.

»Doktor Halske, die Lage. In drei Worten«, befahl Utzenstorff.

Klaus erfuhr folgendes: »Milieu Achtzehnhundertsiebzig. Zwei Männer lieben ein und dieselbe. Sie liebt A. A verschwindet aus der Handlung. B bekommt sie. Drehbuch brauchbar, aber die vertraglich feststehende Darstellerin findet den resignierenden Ton in den letzten hundert Metern nicht. Demnach die neue Aufgabe: Grundschema unverändert – zwei lieben dieselbe. Sie liebt A, muß sich aus zwingenden Gründen für B entscheiden. B ist jedoch der Freund des A. Er überwindet sich, Seelenkämpfe und so weiter. B sagt nein. Sie bekommt A.«

»Schart«, sprach Utzenstorff, »Sie bauen uns den Handlungsentwurf auf. Schlüssige Motivierung. Vor allem bitte: neuartig. Nicht so Sachen wie Armut contra Reichtum oder Kriegsausbruch oder der Vater will nicht: neu! Doktor Halske – die Einzelheiten.«

Der Assistent erhob sich. Klaus merkte, daß er entlassen war, und folgte Halske, der in einen erstbesten leeren Raum eintrat und Klaus die Termine, das Honorar und einige technische Bedingungen bekanntgab. »Kasse Erdgeschoß links, bitte.«

542 Ehe sich's Klaus versah, befand er sich in einem Menschenpaket, das die Verkehrsschutzleute von Kreuzung zu Kreuzung weiterbeförderten. »In zwanzig Tagen muß der Entwurf fertig sein«, murmelte er bei Rot. »Aber ich habe fünfhundert Mark Anzahlung in der Tasche«, sagte er bei Gelb. Und als der Strom bei Grün wieder floß, tat er einen Sprung seitwärts ans Ufer, landete in einer komfortablen Gaststätte und nahm die Speisekarte und Getränketafel entgegen, die man ihm höflich überreichte. Klaus speiste wie ein Mann, der mit Problemen im Gehirn, aber zehn Fünfzigmarkscheinen in der Tasche zu speisen pflegt. Dann fuhr er in die Benkestraße, kaufte tausend Blatt glattes Schreibpapier, legte den Papierstoß auf den achteckigen Salontisch und setzte sich auf den Wiener Stuhl mit dem Rücken gegen Schloß und Schwäne. Er hatte nun den Waschtisch vor sich. Wenn er den Kopf hob, sah er im Spiegel das Bild eines Mannes, der – durchaus nicht ohne Geldmittel – nunmehr zur Sache kommt.

Einen Tag schrieb Klaus, zwei Tage, auch am dritten versuchte er es noch, dann standen ihm die Gedanken still.

Die Leute im Haus gingen alle früh zur Arbeit. Nur ausnahmsweise schallte einmal Lärm oder Musik bis an seinen Salontisch. Aber fast auf den Schlag vier Uhr dreißig Minuten öffneten die Rundfunkgeräte im Haus, neben, unter und über dem Haus ihre Rachen. Manche Ärzte wollen bei uns Zeitgenossen eine merkbare Abstumpfung des Gehöres bemerken können, die sie aus Überbeanspruchung infolge gewaltsamen Einbruchs der Zivilisation zurückführen. Den Segen des Rundfunks verwandeln Schwerhörige bekanntlich nur zu leicht in Fluch; unglücklicherweise war das Haus Benkestraße offenbar nur von Schwerhörigen bewohnt. Klaus hatte es schlecht getroffen mit seiner ersten Berliner Wohnung. Selbst Kittys freundliche optische Erscheinung änderte nichts an dem akustischen Unglück. Alle Funkgeräte rings um Klaus gaben mit Gewalt von sich, was Europa bis gegen zehn oder elf Uhr nachts zu singen und zu sagen hatte – manchmal auch etwas länger, wenn bei Richters oder Hofmanns Geburtstag war.

Klaus packte seinen Koffer. Kitty half ihm dabei trotz ihrer Betrübnis und versprach fest, in der neuen Wohnung auch wieder auspacken zu helfen. Der Schriftsteller der World begab sich jetzt in eine sogenannte bessere Gegend. Er war ja nicht ohne Geldmittel. Im zweiten Stockwerk eines eleganten Hauses der Graf-Witt-Straße setzte er seinen Koffer nieder. Der Preis für das Graf-Witt-Zimmer war beträchtlich höher, aber statt des Rohrstuhles gab es hier Plüschsessel und statt des 543 Liebespaares mit Schwan und Schloß eine Heidelandschaft. Im übrigen erfüllte sich die Hoffnung des arbeit- und gedankenbedrängten Mannes nicht. Unter seinem Zimmer wohnten Herrschaften, die zwar auch Krause hießen, aber zur Zeit in Ägypten weilten und deren treue Hausgehilfin, einsam und nur mit dem Hüten der Wohnung beschäftigt, das Radio zum Morgenkaffee in Gang setzte und dann weiterlaufen ließ. Über Klaus wohnten Herrschaften, die Vogel hießen, vier Töchter zwischen zwanzig und dreißig besaßen und scheinbar einen Tag um den anderen ein kleines Tanzfest veranstalteten mit nicht nur schwerhörigen, sondern völlig mit Taubheit geschlagenen Gästen. Klaus verknäuelten und zerrissen die Gedanken. Er schwankte zwei Tage zwischen Weinkrämpfen und Wutanfällen und klagte am dritten abends Kitty seine Not. Das gescheite Mädchen nickte. Sie hatte schon einmal jemand gekannt, der so dumm war, daß sie ihm die Schnürsenkel in die Schuhösen ziehen mußte, und dabei so voll Gedanken gefüllt, daß die schon von ein bißchen bayrischer Biermusik in Unordnung gerieten; solche Männer tun besser, zum Beispiel in der Meisengasse zu wohnen.

»Wo??«

Kitty beschrieb die Siedlung: idyllisch im Grünen gelegen, wenige Minuten vom See und gar nicht teuer.

Die Manuskripte wurden abermals verpackt, und Klaus bezog ein sonniges reizendes Zimmer eines niedlichen Neubaus im Kuckucksgrund, nahe Meisengasse, nicht weit vom See. In dieser Gegend standen die Leute um Fünf des Morgens auf, gingen halb Neun zu Bett. Aber wenn sie ihre Gärten umgruben oder düngten, stellten sie das Radio an und öffneten die Fenster, damit sie bei ihrer Arbeit auch etwas von der Musik hatten. Die Häuser und die Gärten waren klein, die Nachbarn in allem wesentlichen einer Meinung, so daß die herrliche freie Landschaft widerhallte von der »lustigen Musik am Vormittag«, von der »fröhlichen Stunde nach Tisch« und von dem »heiteren Konzert am Nachmittag«. Jetzt geriet Klaus auf Selbstmordgedanken. Eines Tages ging er zu Doktor Halfke und gab offiziell folgende Erklärung in der World ab: »Ein Viertel des Entwurfs ist fertig. Ich selbst bin ganz fertig. Hier kann ich nicht arbeiten. Ich reise ab. Vorher wollte ich nur noch fragen: was ist dieses Berlin überhaupt? An einer Stelle ein Dorf. An einer anderen Chikago. Weimar gibt's auch hier – ist diese Stadt alles zugleich?«

Halfke nickte: »Ich habe auch jahrelang eine Wohnung gesucht. Es gibt hier keine. Nur Provisorien. Eines Tages glauben Sie, Ihr 544 Unterkommen gefunden zu haben. Und am andern Morgen erkennen Sie die Gegend nicht wieder. Provisorisch kann ich Ihnen vielleicht helfen. Mein Bruder ist wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am ägyptischen Museum. Er wohnt dort. Ich will mal hören.«

Kitty hatte in ihrem jungen Leben vielen Künstlern beim Umzug geholfen. Jetzt aber geschah, was auch Kitty noch nicht erlebt hatte. Klaus bezog ein gewölbtes kleines Gelaß in den Substruktionen des Staatsmuseums – eiserne Bettstelle, Holzstuhl, Tisch, nichts sonst. Hier hatte früher der Nachtwächter gewohnt, war jedoch im Laus der Jahre in Melancholie verfallen und in eine Stube im Dachgeschoß versetzt worden. Seitdem ging es ihm besser. Klaus Schart aber sah seine Kammer an, breitete die Arme aus, legte sie zärtlich an die graue Wand, streichelte den Beton und murmelte: »Zwei – ja, zwei Meter dick!« Er legte die Wange an den rauhen Stein und sagte: »Beton, du bist verkannt. Ein häßliches Pulver scheinst du zu sein, Zentner für Zentner verpackt in staubige Papiersäcke, und in Wahrheit bist du das schützende Element der zeitgenössischen Dichtung. In alten Zeiten hielten die Musen Blütenzweige über ihren Dichter, Hypnos bestreute den Müden mit Mohnkörnern und säte den schöpferischen Schlaf in seine Seele – heute aber, oh Muse, rührst du denen, die du lieb hast, zart grauen Beton mit köstlich klarem Wasser an, streust goldgelben Kies in die sanfte Mischung, baust Gemäuer um den Dichter, meterdick, und hältst ihm die Ohren zu mit deinen Fingerchen, du Gute!«

Endlich konnte Klaus arbeiten! Wenn er nachts mit der Taschenlampe an den Mumien vor seiner Kammertür hinging, sah er seine Nachbarn aus dunklen Augenhöhlen in die Ewigkeit starren. Ihre Teller, ihre Becher, Kämme und Nagelscheren lagen in Glaskästen, und ihre Papyrusrollen standen in langen Reihen daneben.

Heute kehrte er später als sonst zurück. Im Museum war es dunkel. Klaus öffnete seine Mappe, ließ jedoch die Papiere drin und holte einen walzenförmigen Gegenstand heraus, den er vorsichtig aus dem Seidenpapier auswickelte – eine Weinflasche! Eine volle Flasche – und mit Recht: Klaus Schart hatte seine Arbeit beendet. Er zog den Korken heraus, und da er kein Glas besaß, die Becher der ägyptischen Herrschaften jedoch unter Verschluß standen, nahm Klaus einen Schluck aus der Flasche, noch einen, mehrere – er setzte sich auf eine Treppenstufe, von der aus er die Mumie im Mondlicht sah, und sagte zu dem König von Theben: »Majestät! Fünftausend Jahre sahen Sie die Menschen vorübergehen. Sie sind Eurer Ewigkeit bekannter als meinen 545 achtundzwanzig Jahren, und Majestät wissen: der keimende Gedanke birgt den künftigen Geist. Warum wird das Verbrechen gegen das keimende Leben immer nur einseitig bestraft, warum gehen die Zerstörer der keimenden Idee straflos aus? Die Denker, Erfinder, Maler, Ingenieure, Dichter, Musiker sind heute nicht wohlhabender als zu Euer Majestät irdischer Regierungszeit. Vor fünftausend Jahren aber konnte noch niemand mit einem Fingerdruck frühmorgens ein Orchester anstellen und in Gang halten, bis die Sonne hinter der Sahara unterging. Gedankeninhaber sind nicht immer Parkinhaber. Oh König, ziehe die gedankenlosen Räuber des Schaffens zur Rechenschaft, beuge die harmlosen Mörder der Idee unter das Gesetz und rufe sechsmal am Tage von der Freitreppe des Alten Museums zu Berlin in die Welt hinaus: Schützt den keimenden Geist!«

»Ich sage ja: 'n unjesundes Jewölbe. Nu hat's den auch. Un so 'n junger Mensch noch!«

Schreckhaft war Klaus sonst nicht, aber als es hinter ihm mit Menschenstimme murmelte, drehte er sich entsetzt herum.

»Sie, Herr Doktor –«

Klaus atmete auf: das Wesen da zwischen den Mumien trug eine Amtsmütze und hatte blanke Wappenknöpfe am Rock.

»Ob hier Privatpersonen Ansprachen halten dürfen, das frage ich mir. Ob aber Privatpersonen hier 'n Jelage halten dürfen, das frage ich mir nich: das is unter allen Umständen verboten.«

»Ich wohne doch hier. Sie wissen doch, ich habe Erlaubnis –«

»Entschuldigen Sie: aber Sie wohnen dort. Hinter der Tür. Was haben Sie denn da?«

»Das ist bloß eine Flasche, Herr Aufseher.«

»Seh ich – aber was für 'ne Flasche?«

Klaus hielt sie ins Licht der Taschenlampe. Der Nachtwächter las das Schild, er roch hinein.

»Da ist nur Wein drin«, sagte Klaus beruhigend.

»Anjeblich.« Der Nachtwächter nahm einen Schluck. »Hm. So was führen wir hier nich. Ägyptisch schmeckt sie nich. Jestohlen ist sie nich.« Er nahm einen Schluck: »Nee, janz zeitjenössisch.« Er reichte Klaus die Flasche zurück und sprach väterlich: »Und wenn ich Ihnen raten darf, Herr Doktor, jehn Sie jetzt ins Bette und ziehn Sie morgenden Tages hier aus.«

Klaus schüttelte den Kopf: »Es ist so schön still hier.«

»Das eben ist das Jift. Wenn's in Zossen stille is, is das jut so. 546 Wenn's aber in Berlin wo stille is, hat da was nich seine Richtigkeit. Wer sich mang die abjelebten Zeiten hier nich jrault, bei dem jeht schon so 'n bißchen 'n Sprung durchs Porzellan. Nehm' Sie juten Rat an un denken Sie an Ihre jeistige Jesundheit.«

Der Nachtwächter ging seinen Amtsweg weiter. Klaus sah ihm nach. Im Mondlicht tauchte die Uniformmütze neben dem thronenden König Echnaton auf, der seine Frau in den Armen hält und auf den Mund küßt, nun schon im dreitausendunddreihundertachten Jahr. Jetzt zieht der wandelnde Schatten über die bunten Holzsärge an der Wand hin. Die Lampe blitzt auf. Ihr Schein huscht über das zarte Köpfchen einer mondänen Fürstin. Der Wächter verschwindet zwischen den Granitsäulen. Seine Schritte verhallen. Es ist totenstill. Schaffensstill. Klaus hält seine Flasche ins Mondlicht: etwas ist noch drin. Er sucht seine Tür. Das Türschloß knackt ein.

Stumm wie die Funktürme rundum auf dem Erdball, so stumm wie diese Türme, die schweigend zu reden vermögen, stehn die Jahrtausende in diesem Saal und sehn sich an.

 


 << zurück weiter >>