Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Ostersonnabend

Klaus öffnete sein Fenster – täuschte er sich nicht? Oben am Rande des Schottenhügels sah er ganz klein, aber deutlich und scharf in der Märzluft den Herrn Kortüm stehen. Seine Gestalt war nicht zu verkennen. Unter ihm, am Abhang, gingen zwei Knechte mit ihren Pflügen hinter den Pferden. Zwei Pflüge zogen Furchen in das Land, einer fing am oberen Rand des Ackers an, der andere ging unten. Sie 191 mußten es eilig haben mit dem Pflügen. Das wüste Flurstück war mit einem graugrünen Pflanzenfilz bezogen. Seit Jahren wuchs dort was wollte, welkte was alt wurde, wuchs wieder, verdorrte wieder. Aber nun rissen die Pflugscharen tiefe rotbraune feuchte Furchen in die Brache. Unbeweglich wie ein Standbild sah Herr Kortüm den Pflügern zu. Seine silberne Windfahne ragte neben ihm in den Himmel und drehte sich blitzend hin und her. Zwischen Westen und Süden schwankte sie.

Es wird Regen geben. Der ist gut für frischgepflügte Brache – oh, der Teufel soll sie alle holen samt Masken und Windfahnen!

Seit Tagen war Klaus kaum ins Freie gekommen. Ob die Leute etwas wußten von der Geschichte im Teich? Bilmes hatte ihn an jenem Nachmittag an der Ilmbrücke unten getroffen, auf seine Hosen gezeigt: »Häh? Sie sin wohl ins Wasser geraten? Wenn Se fischen wolln, müssen Se sich 'n paar Langschäfter anziehn. Aber jetzt fängt sich doch gar nischt?«

»Wasserpflanzen habe ich gesucht.«

»Ach, zum Lernen. Hä. Na, dann lernen Se schöne, aber erkälten Se sich nich dabei.« –

Klaus schämte sich. Nur dieser Konstanze Schröter nie, nie wieder begegnen! »Aber kennen lernen soll sie mich doch! Es gibt mehr schöne Mädchen«, sagte er trotzig. »Und was für schöne!« rief er und schlug das Fenster zu.

»Was meinten Sie?« fragte Frau Albrecht. Sie brachte ihm die Kragen von der Plätterin.

»Ich meinte – ja, Frau Albrecht, was ich fragen wollte: wie geht's eigentlich der Lotte in der Stadt?«

»Nu, die haben jetzt eine feine Wohnung. 'n bißchen verrückt, sagt meine Schwägerin. Aber schöne.«

»Wer – die?«

»Nu die Wingens.«

Klaus setzte sich an den Tisch und riß die Kragentüte auf: »Wer?!«

»Wingens!«

»Ich meine die Lotte, Frau Albrecht.«

»Lieber Gott, Sie wissen wohl gar nischt?! Die haben doch geheiratet alle beide! Die hat eine feine Partie gemacht. So 'n Organiste hat sein festes Brot. Is was an den Kragen? Sonst nehme ich sie wieder hin.«

Klaus besah einen Kragen so genau, daß Frau Albrecht besorgt 192 wurde. Er legte den Leinwandstreifen hin: »Lotte – wann hat Lotte – Sie sagten doch: geheiratet?«

»Vor drei Tagen war's grade. Aber sie haben gar nischt davon gemacht. Heute is je alles anders, nee. 's sollte keine Sache davon gemacht werden. Im Stilln, haben sie gesagt.«

»Den Kragen müssen Sie noch mal waschen lassen.«

Es war so: der schöne Kragen zeigte Stellen von einer schweißigen Hand.

»Nu aber so was. Die Dreckfinger hab ich gar nich gemerkt, als ich'n holte.« Frau Albrecht wunderte sich. Das kam bei der Plätterin sonst nicht vor.

»Im Stillen«, sagte Klaus.

»Ja. Ganz im Stilln. Der Organist is, glaub ich, überhaupt so'n bißchen anders. Wenzel, was sein Bälgetreter is, der hat zu meiner Schwägerin gesagt: ›Gut is er. Orgeln kann er auch. Aber er hat so'n bißchen eine plötzliche Natur. Un Verse macht er auch.‹ Na, das is 's schlimmste noch nich. Immer noch besser, als wenn er saufen täte. Un nach der Hochzeit, meint Wenzel, gäb sich das Versemachen manchmal auch von alleine. Wenn erst Kinder kommen –«

Klaus schlug auf den Tisch, daß die Kragentüte hochflog.

»Herrjes, was is denn? Nu, die kommen schon. Passen Se nur auf. Was die Lotte is, wissen Sie –«

»Frau Albrecht, bitte, lassen Sie den Kragen waschen. Sofort. Heute noch! Jetzt gleich!«

»Aber –«

»Ich brauche ihn im Augenblick!!«

Ärgerlich klinkte Frau Albrecht die Tür dieses ungehobelten Menschen zu: »So was. Der hat wohl auch plötzlich eine plötzliche Natur gekriegt.«

Klaus Schart ging im Kreise in seiner Amtswohnung herum. Er sprach nicht vor sich hin dabei, er murmelte nicht, sang auch nicht, pfiff nicht – wahrscheinlich dachte er nicht einmal vernünftig nach. Denn urplötzlich sprang er mit beiden Füßen auf das wankende Sofa, riß die Masken von der Wand, die lachende mitsamt der weinenden, warf sie auf den Boden und stampfte sie zu einer unförmlichen Masse – diesen sinnigen Wandschmuck, den er um eine silberne Mark vom Hersteller selbst bezogen hatte.

Dann riß er ein Blatt Kanzleipapier aus dem Tischkasten, setzte sich hin und schrieb, ohne anzuhalten, in einem Guß, an seinen vorgesetzten 193 Bezirksschulrat: um seine Versetzung nach Hörsel bäte er. Ja, nach Hörsel, ans andere Ende von Thüringen. Bei der letzten Sitzung des Ausschusses für Volksmusik hätte man allgemein bedauert, daß in jenem Gebietsteil noch zu wenig für Volksgesang geschähe. Er brächte das Opfer. Um der Sache willen.

Am Ostersonnabend wanderte Klaus Schart mit leichtem Gepäck im Rucksack durch den Wald scharf nach Westen. Heute war der Wald kirchenstill. Die Leute mußten Kuchen backen.

Aber da kam jemand: der hatte eine Axt auf der Schulter und eine kienglänzige Jacke an – Kersch.

»Hä« – der kleine struppige Kerl stellte die Axt auf die Erde, wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und freute sich: »Heute wissen Sie 'n Weg von alleine, nich wahr? Je, wenn man so 'ne Zeitlang bei uns wohnt, lernt man sich auch ohne Wegweiser behelfen. Is es so? Nu sehn Se. 's is aber eigentlich schade, daß Se fortgehn. Se haben so schönes Leben in de Bude gebracht. Aber ausm Maskenfest is nu doch nischt geworden, hähä. Wo geht's denn hin?«

»Nach Hörsel.«

»Nu sehn Se. Nach Hörsel. Da is es auch nich schlecht. Da könn'n Se auf die Wartburg laufen.«

»Ich freue mich drauf.«

»Un hören Se, da gibts je auch Esel, wenn Se keine Lust zum Laufen ham! Hähähä. Wenn Se da mal naufreiten, da denken Se nur auch schön an uns, nich wahr?«

»Ich vergesse euch nicht, Kersch« – er gab ihm die Hand – »niemand von denen, die ich hier getroffen habe. Schade, daß ich so schnell fort muß. Ich habe gar nicht richtig Lebewohl sagen können. Grüßen Sie alle schön von mir.«

Nach zwei Stunden Wegs stand Klaus auf dem Heilbornhügel. Er blieb stehen, stützte sich auf seinen Stock und blickte zurück. Von hier aus sah er zum letztenmal das Ilmgelände.

Auf dem ockerfarbenen Gesteinkern des Hügels entspringt ein glasklarer, auch in den heißesten Sommern nie versagender Wasserfaden. Klaus ließ das kalte Wasser über die Hände laufen, trank eine hohle Hand voll Wasser. Beim Hinknien fühlte er, daß der Erdboden schon warm war von der Sonne. Beide Hände legte er auf die Erdbrust. Irgendwo läutete eine Osterglocke. Ein Dorf sah er nicht in der Runde, 194 auch keinen Turm. Rostrot ballten sich unter ihm die Wipfel der Erlen und Haseln, die am Fuß des Hügels wuchsen. Still und leer breiteten sich hinter dem Buschwäldchen die Felder aus. Rotbraun, manchmal mit einem Streifen hellgrüner Wintersaat dazwischen. Über alle Bodenwellen und Hügel hinweg zogen diese Feldstreifen. In der Ferne blaute das Gebirge. Aber zwischen dem dunstigen Bergrücken und den osterroten Ackerwellen streckte sich der Waldriegel aus, hinter dem die Ilm floß. In diesem schwarzgrünen Tannenband erspähte Klaus eine kleine Lichtung – zartgelb im Sonnenlicht. In der Mitte dieser Lichtung stand ein Hauswürfel. Das war das Schottenhaus.

Vom Erdboden stiegen die Schwaden der erwärmten Luft hoch und machten das ferne Bildchen ein wenig zittern. Hin und wieder aber blitzte das Licht – ein ganz feiner scharfer Punkt – wie in einem Spiegel auf. Klaus sah hin, bis ihm die Augen schmerzten. Spiegelte da die silberne Windfahne des Herrn Kortüm? Spiegelte der Teich des Herrn Kortüm? Zuviel Land lag schon zwischen ihm und der Lichtung, und die Luft zitterte zu unruhig: Klaus konnte es nicht für gewiß sagen, was er da zuletzt hatte blitzen sehen in der Sonne.

Aber er hatte noch einen langen Weg vor sich. Es wurde Zeit – was es auch war, das dort auf der fernen Lichtung blinkte. Klaus wandte sich und sah seine Straße an, die vor ihm lag. Durch Äcker ging sie, ein Stück an der Gera hin, dann zwischen Pappeln einen Hügel hinan, wieder zwischen Feldern – wir sehen Klaus wandern: durch Äcker, am Fluß hin – wie frisch er ausschreitet. Der Bursch kommt voran: immer kleiner wird er mit der Entfernung – am Ufer schaffen viele Menschen, laufen durcheinander, Klaus verschwindet in dem Menschenknäuel – nein, da kommt er wieder hervor, geht weiter auf seiner Straße, über den Hügel, zwischen den Pappeln hin – immer kleiner wird er – die vielen Menschen auf der Straße, die heute am Ostersonnabend beizeiten zu Haus sein wollen – jetzt gerät Klaus mitten in sie hinein, die wie Pünktchen auf der Straße hin und her rücken – welcher Punkt ist nun Klaus? . . . Wir haben ihn aus den Augen verloren. Die Menschen haben ihn geborgen unter sich.

Die silberne Windfahne des Herrn Kortüm aber blinkt noch von der zartgelben Lichtung herüber, und der Herr Kortüm unter ihr schlägt vielleicht eben seine braune Mappe auf, setzt sich tiefer in den Lederstuhl und macht eine ungeheure Armbewegung – es wird ihm ein großer Gedanke gekommen sein. 195 196 197

 


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