Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Schattenspiel

Konstanze Schröter war nicht auf einem Berggipfel eingefroren. Sie spielte viele Rollen und mitten im Leben.

Aber auch für Kortüm kam der Tag, an dem er Hedchen auf die Südwiese hinunterschicken konnte: Veilchen möchte sie ihm pflücken, auch Veilchenknospen, wenn nur schon das Blaue hervorgucke. Er umhüllte den Strauß mit feuchtem Moos, legte ihn in die Pappschachtel, die er sich vom Weihnachtsabend her aufgehoben hatte, und schickte das Päckchen an die Absenderin zurück mit der Mitteilung: »Sie sehen, gnädige Frau: die gute Zeit ist auf dem Wege.«

Konstanze erhielt die Sendung nicht. Der Postbote händigte sie Herrn Kortüm nach ein paar Tagen wieder ein mit dem Vermerk: »Verreist, Aufenthaltsort unbekannt.«

Die Büros in großen Theatern können nicht immer wissen, wo ein Künstler, der als Gast bei ihnen auftrat, eben herumfährt.

In dem feuchten Moos hatten die Veilchen die Reise von Besenroda nach Berlin und zurück besser überstanden, als mancher Mensch sie aushält. Kortüm konnte sie in ein Wasserglas stellen, die hängenden Blumenköpfchen sich aufrichten sehen, ihren Duft einatmen und warten, bis sie wieder verwelkten.

Konstanze Schröter war aufgefordert worden, im Theatersaal des Schlosses in Ettersburg zur diesjährigen Tagung der Attischen Gesellschaft, welche mit einer Hippolytosaufführung enden sollte, die Artemis zu sprechen – wenig Verse, aber sie bewegten Konstanze: »Dichtung auf der Bühne – ohne Theater. Komm mit, Klaus. Du sagst mir unterwegs den Bericht des Boten vor, wenn ich die Strophen lerne, damit ich den Ton des ›Horch auf‹ finde. Schwer, Klaus. Ich habe nicht gewußt, daß es solche Stücke gibt.«

661 Klaus Schart konnte eigentlich nicht auf Reisen gehen. Er bedurfte jeder Stunde zur Erledigung eines befristeten Auftrages; den Text für ein Singspiel schrieb er. Klaus brauchte Geld. Aber man kann ja solches Handwerk auch unterwegs betreiben.

Das Tagelöhnern wurde ihm in Ettersburg sauer gemacht. Im Traume ging er herum auf dem verzauberten Berg, dessen Wege wie in einem Irrgarten plötzlich verwachsen waren und an einer schwer zu findenden Stelle mitten im Dickicht wieder begannen und in der alten Richtung weitergingen. Er kam immer wieder aus seinen Gedanken, denn diese bestellten Gedanken gingen flach, und die Wege im Walde gingen tief. »Wieviel Seiten muß ich noch schreiben?« – Klaus blätterte besorgt in seinen Papieren und – legte den Trödel weg.

Der Ettersberg spann ihn ein. Er ging auf diesem weichen Moosboden herum wie damals in den Wäldern von Hörsel, als er noch glaubte, die Welt wäre irgendwo draußen und er müsse sich aufmachen, sie zu suchen. Aber nicht nur Baum und Moos und Stille erinnerten Klaus an das Nest hinter den Wäldern von Eisenach. In dem weißgekalkten Gästezimmer des Schlosses knarrten die gescheuerten Holzdielen unter seinen Füßen nicht anders als in der weißgekalkten Schulstube von Hörsel. Er sah den Porzellanleuchter auf dem Tische in tiefen Gedanken an, nahm versonnen ein Streichholz aus der Schachtel, brannte die Kerze an.

»Es ist ja noch Tag!« lachte Konstanze.

»Tag . . .« Klaus blies das Licht wieder aus, drückte die klemmende Balkontür auf und trat auf die winzige Platte hinaus. Über der Erdfarbe des Landes schwebten grüne Pünktchen wie die Knoten eines Schleiers. Der Wald stand noch kahl. Langsam wurde es Abend. Die Luft wehte warm aus Südwesten.

Die Balkontüre blieb offen stehen. Auf dem Tisch brannte die Kerze, bewegte leise ihre Flamme. Klaus schrieb. Was ihm einkam, schrieb er schräg auf ein Stück Packpapier.

Konstanze lag auf dem Bett. Sie hatte ihre Strophen im Sinn. Hippolytos: Siehst du denn, Herrin, wie es um mich steht? – Artemis: Ich seh es wohl, und wär' ich sterblich, würd' ich weinen . . . »Du, Klaus –«

»Hm . . .«, sagte Klaus und hörte nicht.

Die Reise hatte Konstanze müde gemacht. Sie dehnte sich, reckte die Arme – da sah sie an der weißen Wand ihr Schattenbild. Ruhig 662 brannte die Kerze in dem Leuchter. Nur zuweilen zuckte sie ein wenig und wehte, dann zuckte und wehte das Bild an der Wand. Konstanze hielt ihre Hand ins Licht – sie drehte den Kopf, daß sein Schattenriß scharf an der Wand erschien – sie fing schließlich an, Schattenbilder zu spielen. Erst verschränkte sie ihre zehn Finger, machte einen Vogelkopf. Zwei Köpfe, die sich hackten. Ein Rabe mit bösem Schnabel, eine flügelflatternde Taube. Lächelnd, dann lautlos lachend sah sie ihre Glieder alle Insassen der Arche Noä an der Wand spielen. Sie zog die Knie an, ließ auf dem runden Gipfelschatten, den ihre Beine ins Licht zauberten, ein Männlein spazieren, stehen, in die Luft gucken. Ein Stückchen Spitzenhäkelei wucherte im Schatten als ein Märchenwald hoch; das Männlein trat ein, sein Schatten bewegte sich hinter dem Gezweig. Der Lindwurm kroch heran, schlängelte den Hals, der Schattenmann wich zurück, der Urwald bebte – zierlich bog Konstanze Finger und Handgelenke.

Klaus hatte sein Papier weggeschoben und sah dem lautlosen Spiel zu.

Leise stand er auf. Da kam er ins Licht – die spielenden Figuren versanken in Finsternis.

»Ach«, sagte Konstanze.

Klaus setzte sich auf den Bettrand.

Sie zeigte auf seinen Schatten an der Wand: »So mußt du den Kopf halten« – an der Nase drehte sie ihn gewaltsam ins Schattenprofil. »Mund auf. Weiter auf! Jetzt kommen dir die gebratenen Tauben ins Maul geflogen« – ein Schattenvöglein, zwei –

Klaus schnappte nach ihnen, hielt Konstanzes Finger mit den Zähnen fest. Vorsichtig biß er zu, aber er hielt den Finger.

»Das tut doch weh!«

Klaus hielt fest.

»Da siehst du's« – Konstanze packte mit der freien Hand sein Ohr und drehte Klaus' Gesicht nach dem Schattenbild an der Wand – »Konstanze Schröter hat einem Mann den kleinen Finger gegeben!«

»Der nimmt« – im Sprechen mußte er ihre Finger loslassen – »der nimmt die ganze Hand«, flüsterte Klaus an ihrem Ohr, »den Kopf nimmt er, das Herz –«

»Das Herz?« Sie zeigte an die weiße Wand: »ein Herz siehst du nicht!«

Eine kleine Weile war Stille. »Es wirft nur keinen Schatten«^ sagte Klaus langsam.

663 Konstanze sah ihn lächelnd an, gebannt von dem Wort, richtete sich langsam auf – die Schattenbilder an der Wand näherten sich, Konstanzes Schatten ließ den Kopf zurücksinken.

Da wuchsen die Schatten riesengroß, zuckten . . . Nacht. Die Kerze war zu Ende. Noch glomm der Docht im heißen Wachs, flammte noch einmal hoch, verlöschte ganz.

In breitem Strome flutete das Mondlicht herein, grünsilbern rieselte es über die Dielen, von keinem Flammenlicht mehr gestört. Ein Luftzug atmete in den knospenden Büschen vor ihren Fenstern.

In der Ferne schlug eine Uhr.

»Hörst du's?«

»Die Kirchenuhr.«

»Ich dachte, die fingen an, Hochzeit zu läuten, Klaus.«

Euripideische Verse umhauchten diesen mondbeschienenen waldigen Berg. Aber Konstanze opferte nicht wie ihre attischen Schwestern das braune Haar in dieser Nacht dem Hippolytos. Wie durfte sie? Konstanze mußte morgen Artemis spielen: Schattenbilder, Schattenbilder.

Grünsilbern breitete sich das Licht des höhersteigenden Mondes aus an den Wänden der Stube und durchstrahlte den Raum von der Decke zu den Dielen, den Wänden, daß er, und was er barg, selber Licht aussendend über den märzlichen Wäldern des Berges zu schweben schien, schattenlos silbern wie ein neuer Planet, durch Stunden und Stunden sichtbar in dieser Nacht. Irdisches Licht kann den Schatten der Liebe nicht an die Wand malen, denn Liebe brennt innen, und Herzen werfen keine Schatten, wenn sie selber leuchtend geworden sind.

 


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