Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Stichling

Heute malte Holdermann nicht. Er ging armeschlenkernd, frei und unbeschwert in seiner Werkstatt herum und blies starken Zigarrenrauch aus seinem Munde. Das Werk war vollendet. Herr Kortüm war nun zweimal in der Welt: leiblich – für die Zeitlichkeit, bildlich – für die Ewigkeit. Und das Porträt würde sicher nicht nur seinen eigentlichen Zweck erfüllen, nämlich Hausgenossen einschüchtern, Neugierige 233 scheuchen – nein, das Werk war auch wertvolle Malerei geworden. Herr Kortüm, Arm in Arm mit Holdermann, setzte seinen Fuß auf die Schwelle der Kunstgeschichte. Holdermann war hochbefriedigt. Nur noch die vereinigten drei Wappen der Heydelofs, Torstensons und Kortüms waren in die obere rechte Ecke zu malen. Herr Kortüm wollte ihm die Vorlagen bringen.

Leider kam es vorläufig nicht zu dieser Bereicherung des Bildwerkes.

Herr Kortüm öffnete heute die Ateliertür nicht mit jenem vornehmen Schwung, der ihm eigen war, sondern er riß sie auf. Er hing nicht seinen Mantel ins Vorzimmer, stellte nicht den Stock mit dem Elfenbeingriff in den Ständer. Nicht einmal den Hut nahm er ab. Er zerteilte den schweren Vorhang wie ein nichtiges Gewölk und rief ins Atelier: »Meister, wir sind verloren!«

Holdermann hörte auf zu rauchen und sah erschrocken von dem ewigen Kortüm der Leinewand auf den zeitlichen Kortüm. Der Professor hatte lange genug gelebt, um zu wissen, daß einem Unfälle immer auf den Höhepunkten des Daseins zustoßen. Was war geschehen?

»Sie will mich verklagen!«

»Wer?!«

»Diese – jene – Sie nannten sie Kitty, Meister!«

Holdermann stand starr, dachte angestrengt nach, ob er eben recht gehört hätte, machte runde Augen, schritt auf den Zehen zu Kortüm hin, sah ihn ungläubig an: »Um Gottes willen – Sie?!«

»Mich!«

»Ja aber« – Holdermann flüsterte nur – »was haben Sie denn – wie konnten Sie nur – – nein!« rief er plötzlich laut.

»Wenn ich's Ihnen sage!«

»Nie hätte ich das für möglich gehalten.« Der Professor untersuchte forschend die gemalten Gesichtszüge des ewigen Kortüm. »Nie –«, wiederholte er leise. Dann wandte er sich halb um und sagte mit einer gewissen Zurückhaltung: »Hören Sie, dann nehmen Sie sich aber einen sehr gewitzten Rechtsanwalt.«

»Ich habe ja eben einen Juristen gesprochen, einen Freund: ein solcher Fall sei weder im Bürgerlichen noch sonst in einem Gesetzbuch vorgesehen, weder in unserem noch sonst in einem Lande, nicht in diesem und nicht in einem vergangenen Jahrhundert –«

»Aber mein Gott – die gute Kitty . . .«

Herr Kortüm sank in den geschnitzten Sessel, nahm den Hut ab und 234 sagte: »Nein. Nicht gut. Der Auftritt war furchtbar. Mitten in der großen Halle unten. Und es sammelte sich ein Volk um uns . . . lauter Menschen in beklexten Kitteln. Ein lärmender Chor, der immer ›ja!‹ schrie und ›Los, Kitty!‹ rief – Oh, Meister, ich begriff erst gar nichts –«

»Na, wissen Sie –«, warf Holdermann ärgerlich ein.

»Schließlich kam es heraus. Ich hätte gelogen, behauptete sie. Ich hätte sie heimtückisch in einen falschen Ruf gebracht, in einen sogenannten guten Ruf –«

Holdermann legte die Zigarre hin: »Ach so«, sagte er vor sich hin, »na, und?«

»Und?!« Herr Kortüm schlug mit der Elfenbeinkrücke seines Stockes auf das Farbentischchen. »Und? Nun soll ich dieser Dame ihren alten Ruf wieder beibringen! Er wäre ihr Eigentum! rief sie. Sauer genug verdient! schrie sie. Sonst will sie mich verklagen! Auf Schadenersatz! Sie könne nicht mehr existieren! Ich soll das tun! Meister – ich!! In meinen Jahren!!«

Holdermann legte andächtig die Hände auf die Brust, blickte zur Decke: »Das wurde nie erlebt.«

»Nein«, sprach Herr Kortüm dumpf. »Und dabei baue ich. Brauche jeden Groschen. Was mag das kosten, bis man hier, in einer Stadt, einen schlechten Ruf bekommt?«

»Allmächtiger . . .«, sagte Holdermann leise.

»Und wie lange dauert das? Ich habe keine Zeit! Ich baue!!«

»Herr Kortüm, ich bin sonst immer für Vergleiche in Rechtssachen, aber den Prozeß, den sollte man durchführen. Eine solche Verhandlung sollte man der Welt nicht vorenthalten. Dieses Urteil und diese Urteilsbegründung samt dem letzten Wort des Angeklagten – das sollte man dem Gerichtshof nicht ersparen.«

»Auf meine Kosten!«

»Vielleicht bekommen Sie recht.«

»Recht! Vielleicht! Ich weiß, wie es damit steht! Schon einmal habe ich einen Unfall gehabt . . . einen ungewöhnlichen Unfall . . . wie's so geht – es kann einem allerlei zustoßen. Ich habe da – – aus Versehen, wissen Sie? – ja, ich habe seinerzeit einen Sarkophag beschädigt –«

»Was haben Sie beschädigt??«

»Einen Sarkophag. Aber nur von einem Verwandten, Meister. Ja. Jedenfalls nahm ich mir damals einfach einen Fachmann. Der hat ihn wiederhergestellt. Aber –«

235 »Aber Kitty ist kein Sarkophag«, sagte Holdermann und wiegte lächelnd den Kopf.

»Bei Gott! Wer stellt einen schlechten Ruf wieder her! Schon ein guter Ruf ist mühsam ausgebessert. Aber ein schlechter, Meister! Wer hat da hinlängliche Erfahrung!«

Der Maler war still. Nach einer Weile sah er lächelnd auf und sagte: »Ich.«

»Wie?«

»Ich bin Maler. Ich habe viele Menschen gemalt in meinem Leben. Und wenn das Bild gut war, kam der Mann, kam die Frau, nahm einen Spiegel, blickte hinein, verglich und sagte: das bin ich nicht. Wies auf das Spiegelbild: so bin ich – und wollte mir das Honorar verweigern. Ich habe das Porträtmalen erst nach langer Mühe gelernt. Gutes Bild, guter Ruf, schlechtes Bild, schlechter Ruf – solche Sachen taxieren die Leute nach dem Marktwert.«

»Und was muß ich dabei tun?«

»Abreisen, Herr Kortüm. Überlassen Sie mir das gute Kind. Sie haben es ganz falsch angefaßt.«

Herr Kortüm reichte dem Professor beide Hände: »Meister! Sie wollen mir helfen?«

»Was tut man nicht für zwei solche Objekte.«

Plötzlich legte Herr Kortüm die Hand auf den Mund: »Ich kann ja gar nicht fort.«

»Nanu.«

»Ich muß aufs Amt – Bausachen.«

Holdermann lachte: »Dort sind Sie für uns über alle Berge.«

Herr Kortüm verließ eilig die Akademie. Die Luft war klar und erfrischend. Er sog sie befriedigt in tiefen Zügen ein und ging beschwingten Schrittes dahin. Nur die Hauptstraße, in der sich zu dieser sonnigen Mittagsstunde die jugendliche Welt auf und ab bewegte, mied er sorgfältig. Wer weiß, was ihm da zustoßen konnte. Ämter liebte er wahrlich nicht. Als er jetzt die langen grauen Flure des festungsartigen Gebäudes betrat, klopfte er lächelnd an die dicken Mauern. Beruhigt sah er zuverlässige Amtsdiener reich beladene Aktenwäglein auf Gummirädern wie Kinderwagen liebevoll vor sich herschieben. Hier war er geborgen vor den unheimlichen Äußerungen der rohen Wirklichkeit; er verzog den Mund, als ihm unversehens der bittere Gedanke an Kitty kam, und betrachtete doppelt zutraulich die Diener, die Wäglein 236 und die sauber gehefteten Papierbündel. Herr Kortüm kannte Akten noch nicht. Frauen haben ein Herz im Leibe, Mädchen erst recht, Kitty ganz sicher. Aber in Aktenbündeln atmet es nicht nach der Menschen Weise, denn sie haben nie unrecht, bedürfen darum der Herzen nicht und können gähnend die Rachen aufreißen wie Sarkophage; ohne eigene Eingeweide liegen sie und lauern, denn die sie schufen, müssen sie eines Tages auch füllen mit sich. Herr Kortüm ahnte nichts vom Wesen dieser blauen Bündel, gab ohne Bedenken seine Karte im Anmeldezimmer ab und nahm die kurze Aufforderung entgegen: »Warten, bis Sie aufgerufen werden.«

Gegenüber dem Fahrstuhl, einem unablässig laufenden Paternosteraufzug, stand eine Holzbank. Herr Kortüm setzte sich. Wenn er an seine alte braune Ledermappe mit den Entwürfen und Plänen dachte und sie verglich mit diesen Mappen hier, mit diesen Wagen voll Mappen, dann begriff er leicht, daß der Mensch zu warten hat, bis er dran kommt. Geduldig lehnte er sich zurück und benutzte die Zeit, um sich seinen Fall noch einmal ins Gedächtnis zu rufen und zu einem klar aufgebauten Vortrag zu ordnen.

So war es: vor einigen Monaten hatte ihn hier im Amt ein Herr Stichling empfangen. Immer vergaß Herr Kortüm den Titel dieses Mannes, und schließlich benannte er ihn für sich selbst einfach mit der Bezeichnung, die solche Leute in seiner Jugend trugen: »Amtsschösser« nannte ihn Herr Kortüm. Jene Plauderstunde mit dem Amtsschösser Stichling gehörte zu Kortüms angenehmen Erinnerungen. Seine Kämpfe um den Erweiterungsbau des Schottenhauses waren schwer. Überall fand er Widerstände. Nur Herr Stichling nötigte ihn auf das Sofa in seiner Amtsstube, behandelte ihn ausgesucht höflich, und hilfsbereit erspähte der gewitzte Amtsschösser im Gewirr der Vorschriften eine Fülle von Möglichkeiten des schon fast aufgegebenen Erfolges. Dabei scherzte Stichling so überlegen witzig über Paragraphenkram und Aktentum, daß Herrn Kortüm das Herz aufging. »Sie sitzen an der falschen Stelle, mein lieber Amtsschösser«, rief er bewundernd.

Herr Stichling wehrte ab: »Man hilft an seiner bescheidenen Stelle, wie man kann. Ich bin nur ein kleiner Mann. Aber Sie mit Ihrer Weltkenntnis, Herr Kortüm!«

Die beiden Herren verstanden sich, wie wenigstens Herr Kortüm meinte, von Grund aus: »Also wir machen es wie besprochen – ich stelle eine genaue Abrechnung auf, sammle die Unterlagen, Belege, 237 Quittungen, Rechnungen und sonstigen Papiere und warte bis zum geeigneten Zeitpunkt –«

»Dann schreiben wir Ihnen«, unterbrach Stichling, da die Frühstücksstunde herangerückt war.

»Gut – Sie schreiben, ich schicke.«

Herr Kortüm war gegangen und hatte zu Hause mit großer Sorgfalt eine Fülle von Papieren zusammengetragen, nach Sachen geordnet, numeriert, kreuzweise mit einem roten Band umwunden und als ein appetitliches Ordnungsmuster mit Genuß betrachtet. Der Amtsschösser konnte schreiben, die Akten lagen bereit.

Eines Morgens aber kam ein Brief, in dem unter anderem stand: »Die von Ihnen seinerzeit in Aussicht gestellten Unterlagen in Bausache Schottenhaus sind bis heute hier nicht eingetroffen. Wir verzichten nunmehr auf Ihre Mithilfe und werden« – jetzt kam eine Reihe Bedrohungen und zuletzt ein unleserlicher Name als Unterschrift. Der Brief war ungeheuer grob. Selbst in der Zeit seiner Museumsöffnung waren keine solchen Schriftstücke bei Herrn Kortüm eingelaufen. Er war empört: »Das werde ich meinem Freunde Stichling sagen!« Er suchte vergebens die Unterschrift zu entziffern. »Dem Mann werden wir es einbrocken!«

Wie nun diese Erinnerung in Herrn Kortüm aufstieg, geriet er von neuem in großen Zorn. Es hätte schlecht um ihn gestanden, wenn er in dieser Aufregung an den Amtstisch getreten wäre. Aber in weiser Lebenserkenntnis sind ja überall zwischen die Menschen und ihre Helfer die Warteräume eingeschaltet. Zahnärzte legen hier bekanntlich Witzblätter aus, Großbanken dagegen Familienblätter mit einer Fülle von Ratschlägen zu verbilligter Lebensführung – dieses Amt nun hatte den Flur vor dem Paternosteraufzug erweitert, mit Sitzbänken ausgestattet und kurzweg als Warteraum bezeichnet: der Anblick des nie ruhenden Auf und Hinab dieser mit lebendigen Menschen geladenen Maschine muß schließlich auch die verfinsterten Gemüter besänftigen. Da schwebt langsam ein dicker Mann in die Höhe, das Kästchen daneben versenkt einen Jüngling, der Groschen aus der Rechten in die Linke zählt. Sein Scheitel blinkt eben noch über der Bodenfläche, seinen Fluch verschlingt schon der Mauerschacht. Ein lachendes junges Mädchen steigt auf. Unter ihr hebt sich eine stattliche Dame in Pelz und Federbusch majestätisch empor. Sie beschimpft ihren Mann nebenan im falschen Kasten – die Maschine trennt das Paar, sie fährt auf, er fährt ab. Aber das Mädchen – Herrn Kortüms Auge hängt noch an ihren 238 Fußknöcheln – weg sind die kleinen Schuhe mit den hohen roten Absätzen. Auch den schimpfenden Federbusch hat die Wand in sich aufgenommen. Ängstlich klammert sich ein Mütterchen an den Griff ihres Kastens und fährt in die Tiefe. Ihr nach schwebt einer, dem das nackte Glück der Lotterie begegnet sein muß: er singt – singt ein Lied in den Mauerschlund hinein. Mißbilligend gleitet in der begegnenden Waagschale ein ernster Aktuar durch den Raum. Und jetzt – die Drahtseile reißen nicht – zwei Menschen in einem Kasten, sie lehnt an ihm, der Raum ist eng. Aber sieh nun! denkt Herr Kortüm: der kümmerliche Invalide dort auf seinen beiden Krücken, der steigt so rasch und sicher wie die Gesunden in die Höhe – bei Gott, es geht gerecht in diesem Hause zu. Arme, Reiche, Junge, Alte, Dicke, Dünne: es sinkt, es steigt, leise rauschend arbeitet die Maschine, ohne Pause, nicht schneller, nicht langsamer. Wer einen forschenden Geist hat, kann bis in den Keller fahren, wieder aufwärts durch den Schnitt im Ameisenhaufen, über den Boden, dann abwärts – immerfort, aber einer genau wie der andre, ohne Unterschied, ein Kästchen gleicht dem andern, und alle Kästen sehen aus wie offne Särge, die im Mauerwerk des Amtes auf und nieder schweben.

»Bausache Schottenhaus!« schallte die Stimme des Dieners durch den Warteraum.

»Schon?« fragte Herr Kortüm fast mit Bedauern.

Man führte ihn in das Gemach Nummer Hundertzehn. Herr Kortüm warf einen Blick hinein: »Dahin will ich nicht!« rief er, »zu Herrn Amtsschösser Stichling will ich.«

»Bitte«, hatte der Diener nur gesagt. Schon klappte die Tür hinter Herrn Kortüm. Rasch mußte er einen Schritt in Raum Hundertzehn hinein tun, um nicht geklemmt zu werden. Am Schreibtisch saß ein Mann und rechnete halblaut: »Sechzehn, siebzehn, neunzehn –«

»Kortüm«, sprach Herr Kortüm.

»– zwanzig, einundzwan –«

»Ich möchte mich beschweren«, sagte Herr Kortüm höflich.

Die Rechenfeder stand plötzlich still, der Mann zwinkerte eine Weile mit den Augen. Er dachte offenbar über Kortüms höfliches Ansinnen nach. Dann blickte er ihm ins Auge:

»Wie bitte?«

Herr Kortüm legte seinen Stock auf die Schranke, zog die Handschuhe aus, holte Atem und begann seinen Fall eingehend darzulegen. Der Mann am Tisch wurde während der Rede zusehends ruhiger. 239 Jetzt tauchte er langsam seine Feder ein, drückte auf einen Klingelknopf, begann zu rechnen: »Einundzwanzig, dreiundzwanzig – bitte«, sagte er zu dem eintretenden Diener, »bringen Sie den Herrn nach Nummer Hundertvier.«

»Ich möchte aber zu meinem Freund Stichling –«

»Vierundzwanzig, fünfundzwanzig« – Herr Kortüm stand auf dem Flur. Er stand im Raum Hundertvier. Herr Kortüm legte in Hundertvier seinen Fall abermals dar. Auch in Hundertvier war der Mann rasch beruhigt. Herr Kortüm mußte noch in verschiedene andere Nummern eintreten und seinen Fall vortragen. Zuletzt klang seine Stimme etwas heiser, da er dauerndes Reden nicht gewohnt war. Aber er wurde nicht müde, die Sache war wichtig und das Recht auf seiner Seite. In vielen Räumen schon war sein Fall zu Gehör gebracht – nur zu seinem Freund, dem Amtsschösser Stichling, führte ihn niemand. Dafür war aber der Schreiber aus Hundertzehn eilends zu Stichling gegangen: »Haben Sie hier was verbockt?« Die beiden Männer blätterten in dem Aktenstück »Anbau Schottenhaus«.

»Ach so«, sagte Stichling nach einer Weile und rieb seine Nase. »Ich hatte ihm gesagt, wir würden die Papiere abrufen. Hm. Na, gefährlich ist der Mann nicht. Was der hier alles gesagt hat – ich will nichts sagen. Im Notfall lasse ich vom Oberamt noch einen Brief an ihn schreiben, in dem nichts zu stehen braucht, der nur sachlich unanfechtbar ist. Wir haben dann einen einwandfreien letzten Vorgang. An den schließen wir neu an, dann kommen wir schon weiter.«

Während sie noch überlegten, war Herr Kortüm erschöpft von seinem sechsten Vortrag des Falles aus Dreihundertacht auf den Flur getreten und sprach hier unverhohlen die Absicht aus, nunmehr zu einem der Oberherren im ersten Stockwerk hinabzusteigen und dort seine gerechte Sache vorzutragen. Er sprach sehr laut auf dem Flur. Seine Stimme schallte bis in die Kästchen des Paternosteraufzuges, in dieses sinnreiche Gleichnis der Gerechtigkeit, das Herrn Kortüm so beruhigt hatte. Da ging auf der anderen Seite des Flures eine Türe auf. Herr Stichling stand auf der Schwelle, verwundert und erfreut, Herrn Kortüm so plötzlich vor sich zu sehen. Selbstverständlich bat er ihn herein zu sich, nötigte ihn aufs Sofa. Hier in den weichen Kissen jedoch kam Herr Kortüm ganz unerwartet und tief ins Unrecht zu sitzen.

Er war schon an sich schwer von Gewicht, und sein gewichtiges Recht, das er mit sich herum trug, drückte ihn an dieser Stelle noch tiefer ins Unrecht hinein. Die alten Sprungfedern des Amtssofas unter ihm 240 mußten ihr Letztes hergeben, knackten und schwangen mit bedrohlichem Singeton hin und her. In der Vorschrift –Stichling blätterte gewandt in einem dicken Buch – stand unter einem Absatz sieben, daß nach Ablauf einer gewissen Frist, welche in einem anderen Teile des Buches in einer Fußnote näher und sehr unangenehm für Herrn Kortüm erläutert war, daß also nach Ablauf dieser Frist Antragsteller das Recht auf Abruf verwirkt, selbständig die Vorlage des Obigen vorzunehmen, sowie ferner in diesem Fall laut der Bestimmung zweitausendundsechs durch Beilage der in Absatz neun sub achtzig, Gesetzessammlung des Landrechts von achtzehnhundertachtundvierzig, zu erweitern und sinngemäß zu begründen habe. Herr Kortüm war sehr erschrocken. Aber sein Freund Stichling, hilfsbereit wie immer, sprang ihm bei – im letzten Augenblick – und bewahrte den Antragsteller, der sich, man möchte fast sagen: in nahezu leichtfertiger Weise überhaupt nicht um den einschlägigen Vorschriftenkomplex gekümmert hatte – diesen Antragsteller Kortüm bewahrte er vor unausdenkbaren Verzögerungen. Die Sache kam in Ordnung.

»Wenn ich Sie nicht hätte!« rief Herr Kortüm beim Abschied.

Stichling stand am Fenster und blickte durch die üppig grünenden Blattgewächse zwischen den doppelten Gläsern auf die Straße. Dort ging er hin, dieser Herr Kortüm. Sein offener Mantel wehte. Den Stock schwenkte er in der Rechten. Jetzt machte er plötzlich eine scharfe Wendung, erfaßte ein Eisengeländer und stieg die ausgetretenen Sandsteinstufen einer Treppe hinab, über der das Wort »Frühstücksstube« geschrieben stand. Er verschwand in dem Mauerschlund wie in einem Paternosteraufzug der Gerechtigkeit, nur etwas langsamer. Und es dauerte auch länger, bis er wieder hochkam. So lange konnte Stichling jedenfalls nicht durch die Blattgewächse blicken. Er sah seufzend nach der Uhr: immer noch drei Stunden heute und sechsundzwanzig Fälle. Unter denen waren drei, gegen die der Fall Kortüm ein Spaß war. Dieser Herr Kortüm kostete jetzt vielleicht den ersten Bissen und sagte »ahh«. Die reichen Leute, dachte Stichling. Aber neidisch war er nicht. Seine Wohnung in der Vorstadt, Mittwochs der Kegelabend, das war ihm so lieb wie jenen Wohlhabenden die Frühstücksstuben. Wenn es übrigens nicht anders gekommen wäre, damals als das Unglück über seine Familie hereinbrach, ginge er jetzt vielleicht auch frübstücken . . . wozu? . . . um zehn Jahre früher am Schlaganfall umzukommen? – nein, neidisch war er nicht. Nur eine passende Frau müßte er noch 241 finden, eine sparsame Frau, die kochen kann. Stichling wiegte den Kopf. Er durfte sich unwidersprechbar einen rechtlichen Mann nennen. Er tat nichts, was im Gegensatz stand zu dem dicken Buche, aus dem er Herrn Kortüm vorgelesen hatte. Dazu war er, wie jedermann wußte, höflich und hilfsbereit . . . mochten sie bauen, mochten sie frühstücken: »Aber« – und das sprach Stichling laut in die Blattgewächse hinein – »aber ihnen zeigen, daß man auch wer ist . . .« Stichling nahm die kleine Gießkanne, gab der Petunie ein paar Tropfen Wasser; seine dünnen Lippen lächelten: »Und dabei merken sie nicht, wer sie so höflich, wer sie so beweglich und wer sie am Ende auch noch so dankbar macht.«

Er schlug ein neues Aktenstück auf, setzte sich steif in seinen Stuhl, hielt den Kopf schief und las aus einer gewissen Entfernung, was auf dem schlechten Holzpapier da für Sorgen bebten und wieviel Hoffnung, wieviel Lebensangst.

 


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