Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Hackemann

Nur zu vier Prozent gerechnet gibt das fünftausendzweihundertachtundsiebzig Mark mehr, mein Junge – jawoll«, sagte der alte Kapitän Langloff zu seinem Sohn, sah ihm dabei mit runden Augen nahe ins Gesicht und lachte. Der Doktor lachte nicht. Er hatte das Leben beruflich von der Krankheit aus sehen gelernt, der Alte von der offenen See aus, und wenn das Wasser keine Balken hat – der Mensch erschien dem Doktor viel unberechenbarer. Die Augenpunkte des Vaters und des Sohnes lagen weit auseinander.

»Und wenn Kortüm nicht verkauft, Vater?«

467 »Macht er pleite. Hast du 'n Streichholz?«

»Bitte. Brennt's? Ja . . . die Leute, Vater, sagen dies gegen Kortüm und das. Aber wenn du genau hinhörst, merkst du, daß sie nur deshalb auf ihn schimpfen, weil sie ihn brauchen.«

»Geld braucht der Mensch. Und Kapital besitzt er nicht. Kortüm hat sogar 'n ganz nettes Pöstchen mehr verbaut, als er besessen hat.«

»Hm. Und dann? Und wenn wir's Flügelhaus kaufen? Dann hab ich zwei Häuser auf dem Hals. ›Hackemann‹ hier unten und den Kasten da oben.«

»In Deuwels Namen, man nimmt eine brauchbare Wirtschafterin! Da ist doch die Schwester von Sidonie, die in Geestemünde, die – wie heißt die alte Schachtel? – ja, Tante Elvira. Tüchtig, energisch –«

»Lieber nicht, Vater. Die Besenröder kenne ich besser. Wir sind schon nicht von hier. Und nun noch eine von Hamburg?«

»Also 'ne Einheimische. Inserat. Fertig. Übrigens – wie ist es mit der Witwe von dem verrückten Organisten, der sich da neulich zu Tode georgelt haben soll?«

»Frau Wingen?«

»So heißt sie ja wohl.«

»Ich kann sie mir mal daraufhin ansehen –«

»Ja doch, Walter – aber das sind ja jetzt alles Nebensachen. Den Kurs im Auge behalten. Wenn man sich einmal klar geworden ist – unabänderliche Tatsachen schaffen. Du hast die Praxis. Gut. Du hast ›Hackemann‹. Auch gut. Und nun nicht dies und das – jetzt wird geheiratet. Sofort hat die Sache auch im Ansehn der Leute 'ne solide Façon. 's ist doch alles klar! Sie hat 'n paar Groschen. Paßt in den Laden. Also los.«

Vater und Sohn berieten noch eine gute Weile: der Doktor wird die gemietete Wohnung im alten Starckehaus aufgeben, Haus Hackemann als Arztwohnung einrichten, und das Flügelhaus ist das geborene Sanatorium. Der einzige ernste Mangel war die schlechte Zufahrtstraße. Aber der Alte lachte nur: »Kriegen wir. Wenn wir man erst im Hafen festgemacht haben.«

So blieb denn nur noch ein letzter Punkt: »Und Kortüm?« fragte der Doktor.

»Seine Sache.«

»Du unterschätzt ihn.«

Der Kapitän suchte aus seiner Brieftasche einen Zettel hervor und hielt ihn dem Sohn vor die Nase: »Da.«

468 »Ich habe die Zahlen ja schon gelesen, Vater. So sind seine Geldverhältnisse. Aber die bedeuten noch nicht den ganzen Kortüm.«

»Nee. Dazu kommt noch der Blödsinn, mit dem er die Leute vor den Kopf stößt.«

Der Doktor schüttelte den Kopf: »Dazu kommt noch etwas. Ich kann's nicht gleich sagen. Siehst du, der Mann kann doch nur so gebaut haben, weil irgend jemand oder irgend was hinter ihm steht. Ich sehe nicht klar, wo er seine Kraft hernimmt.«

»Aber ich. Die Leute, mein Junge, die ihn ins Geschäft gebracht haben, waren seine Freunde. Aber die Leute, die nun kommen, das sind – Gäste. Ob der Besitzer blaue Augen hat oder braune: wenn die Betten gut sind und 's Essen gut und die Preise bezahlbar, ist denen ganz gleich, wem der Kasten da oben gehört. Meinetwegen soll er durch Freundschaft und Einfluß 's Geschäft in Gang gebracht haben – schön. Aber nun ist Geschäft Geschäft.«

Diese Unterredung fand in Doktor Langloffs Sprechzimmer statt. Der Kapitän verbesserte die leicht medizinisch durchdüftete Luft mit Zigarrendampf und klopfte beim Auf- und Abgehen prüfend an die eine und andere geschliffene Scheibe der Instrumentenschränke. Der Doktor stand grübelnd am Fenster. Seit seinem Steuermannsexamen war der Alte gewohnt, auf sein Ziel loszufahren, und er hatte erlebt, wie man mit guter Laune und genügend Wolle um den Magen Hafen um Hafen erreicht. Sein Sohn sah den Fall »Sanatorium Flügelhaus« mit den zögernd beobachtenden Augen des Arztes an. Der Fall Kortüm hatte ihn lange beschäftigt, und je länger je weniger klar wurde er ihm, jedenfalls nicht so durchsichtig wie seinem Vater und den knurrenden Einwohnern, die doch diesen Herrn Kortüm im Grunde recht achtungsvoll umknurrten.

»Wie wunderbar verflochten sind die Wege derer, die Gott lieb hat«, sagte Herr Kortüm vor Jahren einmal – in jener gedankenvollen Nacht, als er das Gespenstergastmahl gab. Solche Sprüche sind für die Langloffs Verse aus Kinderliedern – nein, worauf stand der Mann wirklich! Doktor Langloff konnte es nicht sehen.

»Hm, Vater. Ja. Was ich sagen wollte – das gescheiteste ist immer, eine Begabung zu benutzen, statt sie zu demolieren. Man hat mehr davon. Und das Risiko ist geringer. Wie könnte man mit diesem Kortüm ein gütliches Übereinkommen finden?«

»Haha. Das kann ich dir sagen: indem du abwrackst. Dich nämlich. Eine Praxis in Geestemünde aufmachst oder in Partenkirchen.« Der 469 Alte klopfte seinem Sohn jetzt Satz für Satz auf die Schulter. »Du hast Beweise, daß er dir die Bodenventile aufmachen will. Du wärst gar kein richtiger Arzt, sagt er hinter deinem Rücken. Ja oder nein! Leider will dieser Apotheker die Sache nicht beschwören. Sonst hätten wir ihn gleich. Was geht mich der Kortüm übrigens an. Gar nichts. Aber du gehst mich man was an. Und du hast nicht mehr die Wahl, mein Junge. Du oder er. Kortüm im Schottengelände – oder Langloff.«

Der Doktor nickte seufzend. Sein Vater hatte den Punkt getroffen.

»Also«, sagte der Alte. »Möglich, daß der verdrehte Kerl irgend was hinter sich hat, was wir nicht wissen. Geld – nicht! Das Geld haben wir. Und damit die gute Meinung der Leute. So ist die Welt. Und Kortüm ändert sie nicht.«

Die weiteren Maßnahmen waren nun rasch beschlossen: Hochzeit nächsten Monat, die Feier nicht in Frau Schlicks Wohnort, sondern in Besenroda. Schon aus Gründen der Kundenwerbung. In Haus Hackemann wird Hochzeit gefeiert. Die ausgebreitete Verwandtschaft lernt dabei diese angenehme und empfehlenswerte Pension kennen und schätzen.

»Haha«, lachte der Kapitän, »ich werde den Verwandten man beibringen, daß es sich gehört, anschließend eine Woche Pension zu nehmen in Haus Hackemann. Das hilft dem jungen Paar sehr.«

Die Liste der Hochzeitsgäste ließ sich leicht zusammenstellen. Die Langloffs hatten nicht mehr viel Verwandtschaft. Eigentlich nur die gute Tante Lina. Aber Frau Schlick: da waren die Wodtkes, Bruder und Schwester. Die Sidonie Lautenschlager samt Ulrich, ihrem Gatten. Die Familie Tips, er, sie und dann noch der Bengel, der, wie man hört, nichts als Dummheiten macht.

»Wetter, 'ne ordentliche Hochzeitsgesellschaft. Wodtke ißt und trinkt für fünfe. Überhaupt Walter: macht nicht so viel in Diät. Wie? Diätpublikum? Das weiß ich von mir, mein Magen – na, du kennst's ja, 'n alter Seemannsmagen. Diätpublikum verlangt viel und verbraucht wenig. So ganz dusemang würde ich den Kurs um zwei Grad auf Rehrücken und Sahnensoße drehen, wie?«

Der Doktor nickte zerstreut. Dann sagte er: »Vater, weißt du, daß wir in der Liste einen Verwandten Mimis vergessen haben?«

»Noch einen?!«

»Ja. Einen gewissen Herrn – Kortüm.«

Die Langloffs sahen sich an.

»Geht nicht.«

470 »Was geht nicht, Vater?«

»Einladen.«

»Nichteinladen geht erst recht nicht.«

»Deuwel und verflucht nochmal.«

»Ja . . .«

»Ach was«, sagte der Alte, »da er doch absagt, tun wir harmlos und schicken ihm 'ne nette Einladung.«

Der Mann, dem die Ehre zuteil wurde, auf die Liste von Mimis Hochzeitsgästen gesetzt zu werden, verlebte eben eine denkwürdige Teestunde im Geschäftszimmer des Flügelhauses. Lotte Wingen hatte ihn sprechen wollen – aber nicht in den Gasträumen. Allein möchte sie Herrn Kortüm gern ein paar Minuten sprechen. Nun saßen sie zwischen Schreibmaschine, Stößen unbeschriebener Speisekarten, Aktenregalen und Schlüsselbrettern. In knappen, klaren Worten sagte Lotte, daß sie eine Stelle annehmen müsse, und bat Herrn Kortüm, der doch eine ausgebreitete Bekanntschaft besaß, um eine Empfehlung: »Ich brauche die Stelle gleich. So bald als möglich. Ich habe kein Geld.«

Herr Kortüm erhob sich, stellte sich vor das Schlüsselbrett und betrachtete in tiefen Gedanken das schwarze Brett mit den weißen Nummern. Plötzlich nahm er den Schlüssel Nummer sechzehn ab und sprach: »Bitte – sehn Sie es? Sechzehn hängt auf Haken neunzehn. Überall hängt bei mir sechzehn nicht auf sechzehn. Jeder will etwas von mir. Ich kann nicht überall zugleich sein. In einen solchen Betrieb gehören außer den weitblickenden Augen des Unternehmers Augen, wie sie manche Frauen besitzen. Frau Wingen, ich schlage folgendes vor –«

Kortüm empfahl der erstaunten Lotte, aufs Flügelhaus zu ziehen und hier eine Stellung einzunehmen, wie sie auf den Gütern etwa die Mamsell inne hat. Freilich – angemessen könne er im Augenblick eine solche Stellung nicht honorieren. Er sprach ganz offen: die Geschäftslage war seit ein paar Wochen schlecht und seit ein paar Tagen war sie . . . »Hm, also das Flügelhaus ist nicht zu einem Fünftel mehr besetzt: Hackemann. Aber lassen wir ›Hackemann‹. Wie stehen Sie zu meinem Vorschlag!«

»Ich habe zwei Kinder, Herr Kortüm.«

»Oh, die nimmt die liebe Großmutter.«

»Das hätte ich früher nicht gekonnt. Jetzt kann ich's gar nicht«, sagte Lotte leise.

Herr Kortüm besah das Messingschild von Schlüssel sechzehn, begann 471 es langsam abzudrehen . . . zwei Kinder. Er hatte keine Kinder gehabt. Herrn Kortüm fehlte denn auch jegliches Gefühl für die geräuschvolle Munterkeit kindlicher Spiele. Er starrte das Schlüsselbrett an. Aber schwärzer als das schwarze Brett sah Kortüm die Flügel des Todes hinter dieser Frau waagrecht gespreitet unbeweglich stehn und ihre paar Tische und Stühle und Blumentöpfe verdecken. Kortüm ergriff den Schlüssel Nummer eins: »Frau Wingen, dies ist der Hauptschlüssel. Bitte: Sie gehen jetzt durchs Flügelhaus, von oben bis unten, von vorne bis hinten, kommen dann wieder und machen mir einen Vorschlag, wo Sie vielleicht so wohnen könnten, daß keine Störung zu befürchten ist. Ich muß es aussprechen: ich bin ein Gasthaus und lebe von der Ungestörtheit und dem Wohlbefinden meiner Gäste.«

Lotte ging. Kortüm begann ein langes Selbstgespräch: »Wo will sie unterkommen mit zwei Kindern? Die Leute reden von Kindern, aber die Last müssen sie den Müttern lassen – freilich auch die Freude.« Kortüm wußte leider nicht, wie es um die Freude an dem wieder jung gewordenen Blut beschaffen ist, und überlegte, wie es sei, wenn er jetzt zweimal in der Welt wäre: alt und Erlebens voll und noch einmal jung und neugierig wie ein Sohn oder eine Tochter. Dann wäre auf dem Flügelhaus vieles wohl ganz anders? Doppelt kortümsch nämlich . . . oder etwa – halb kortümsch?

Lotte riß ihn aus den unlösbaren Erwägungen, ob Kinder ein Leben verdoppeln oder halbieren. Sie nannte ihm eine Zimmernummer, die allerdings nicht auf einem richtigen Emailleschildchen an der Tür stand, sondern nur mit Kreide angeschrieben war.

»Dort können Sie nicht wohnen!«

»Störe ich da auch?«

»Aber, aber« – Kortüm war ganz erschrocken – »da sind ja gleich die Dachziegel drüber, habe ich gemeint. Und kein Wasser den ganzen Korridor entlang.«

»Ach, ob mich da was stört? Nein, Herr Kortüm, solche Dinge stören mich nicht mehr.«

Nach drei Tagen war Lotte Wingen Wirtschafterin im Flügelhause des Herrn Kortüm. Sie stand früh auf, kam spät ins Bett, und nach abermals drei Tagen kündigten zwei Mädchen, ein Stiefelputzer und ein Kellner; sie hätten keine Lust, unter Polizeiaufsicht zu stehen, bemerkten sie bei ihrem Abschied. Herr Kortüm aber rieb längere Zeit seine Nase und sah, die Wahrheit zu gestehen, ziemlich dumm aus, wie er da in der Diele den gemalten imposanten Herrn Kortüm betrachtete 472 – ein Glück, daß ihn der Maler nicht so im Atelier hatte dastehen sehen.

»Hm, das ist mir in der Tat entgangen«, murmelte er und studierte den Zettel in seiner Hand noch einmal von vorn. Lotte hatte ihn mit ein wenig ungeschickten Buchstaben beschrieben und war mit dem Bleistift beim Schreiben gelegentlich durch das schlechte Zeitungspapier in die Tischdecke gefahren – fein sah das Schriftstück nicht aus, aber es war sehr lesenswert und verdiente durchaus einen Platz unter L im Wabenschrank: so viel Tischtücher in der Wäsche verchlort, so viel hatten Zigarrenbrandlöcher, bei so viel Dutzend fehlten jeweils so viel. Und so viel Bestecke konnte Lotte nicht finden, so viel angestoßene Gläser hatten in der Reihe hinter den anderen gestanden. So viel, so viel . . .

 


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