Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Einstweilen

Auf der Bank, die eine Tafel als »Gottesblick« bezeichnete, saß Herr Kortüm, hielt ein Streichholz in der Hand – aber er ratschte es nicht an. Die Stille ringsherum war sumsend tief, schwebte so weitausgeschwungen über dem Schottengelände, daß auch Herr Kortüm sich nicht zu rühren getraute. Er saß da mit halbgeschlossenen Augen und 592 geneigtem Kopf, gelöst in dem unendlichen Frieden dieser Abendstunde. Er ließ das Holz fallen, die Zigarre in die Tasche gleiten, ganz vorsichtig, daß kein Laut, kein Ruck die Stille störte.

Herr Kortüm war heute allein im Schottengelände – oder fast allein: nur den Lohbergpfad stieg Frau Wingen herauf und wieder hinab, Kopfkissen unter dem Arm, Schuhe, ein Stück Seife in der Hand. Sie zog in eine Stube des Lohberghauses ein. Emsig trug sie das Nötigste hinauf. Das machte keinen Lärm. Ihre Kinder waren schon oben und spielten auf dem Sandhaufen. Die Stimmchen läuteten und klingelten nicht über den ersten Tannenkranz hinaus, der den Gipfel umgab. Lotte trug Waschnäpfe, einen Spiegel. Zuletzt brachte sie ihre Anschreibebücher. Sie nahm die Kinder an die Hand, ging ins Haus mit ihnen, die Türe klappte. Auch auf dem Lohberggipfel war es nun ganz still.

Herr Kortüm befand sich allein in seiner Welt – ein seltenes Ereignis. Denn wer die Leute mit immer neuen Gedanken in Gang hält wie dieser Echowirt, verbringt eben einen guten Teil seiner Zeit im Gedränge. Heute erlebte Kortüm zum ersten Male in staunender Genugtuung, daß es möglich ist, seine gesamte Umgebung auf die Beine zu bringen und dabei selbst geruhig auf einer Bank zu sitzen, als ob der große Gottesfrieden angebrochen wäre. Alle Welt sagte in diesem Augenblick »Kortüm«, und Herr Kortüm saß so in Frieden, daß er sich scheute vor dem Ratschen eines Streichholzes und dem Knarren seiner Stiefel. Befriedigt blickte er hinunter auf den Ort seiner Wirksamkeit: dort unten lag Besenroda. Er sah deutlich den Kirchplatz. Vor der Kirche führte die Lange Gasse zum Roßmarkt. Diese Lange Gasse und dieser Roßmarkt wimmelten von Menschen, und was da Kopf an Kopf ging, drängte auf einen im roten und grünen Reklamelicht strahlenden Punkt zu: ins Kino strebten die Leute. Heute wurde »Andermann« gegeben. Auch in Esperstedt gab man, zum ersten Male in dieser Gegend, diesen Film. Was über achtzehn Lebensjahre zählte oder doch so aussah, drängelte sich an die Kassen: »Kortüm wollen wir sehn.«

Herr Kortüm aber saß ruhevoll auf seiner Bank, hielt in der einen Hand ein Fernrohr und streichelte von Zeit zu Zeit das alte Instrument mit der anderen Hand. Vor ein paar Stunden hatte ihn Windhebel gefragt, ob er das Ding haben wolle: »Ein nettes kleines Rohr.«

Dankbar hatte Kortüm das wenige Geld dafür erlegt und war zu seiner Bank gewandelt. Noch war die Leuchtkraft des schwindenden Sonnenlichtes zu stark und blendete über die Sternpunkte weg: 593 »Einstweilen soll es mir die hiesige Welt näherrücken«, murmelte er, zog die Tuben auseinander und richtete das Glas auf den Roßmarkt. »Haha, wie sie rennen! Und da schreibt mir Utzenstorff einen Entschuldigungsbrief. Es hätte keine Figur gegeben, die so passend wäre wie meine. Ein großer Gedanke. Wenn ich einmal ein reicher Mann bin, werde ich mir einen Schauspieler halten, der mich spielt. Er geht auf die Ämter, er wünscht den Gästen Guten Appetit – und ich, oh, ich sitze unterdessen auf dieser Bank.«

Tiefer Abendfrieden. Die Vögel sangen nicht mehr. Auch der Wind ging nicht. Reglos hingen die Blätter. Kortüm setzte das Fernrohr ab. Die Leute in den Straßenzeilen da unten hatten sich verloren. Auch auf dem Roßmarkt stand niemand mehr. Ein wenig Musik klang noch herauf . . . Jetzt verhallte sie. Man hatte wohl die Türen des Kinos geschlossen. »Andermann« begann.

Die lebendige Vervielfältigung des Ichs war für Kortüm ein neues Erlebnis. Immer hatte er sich persönlich schinden und herumdrängeln müssen, wenn er sich den Leuten vor die Augen rücken wollte. Auch das Holdermannsche Ölbild erfüllte seinen Zweck nicht völlig: wenn ein solches Werk eine Weile in seinem Goldrahmen an der Wand gehangen hat, sehen es die Leute nicht mehr. Aber mehrfach vorhanden sein in lebendigem Zustand: »Oh! Sobald mir meine Mittel eine Vervielfältigung erlauben, stelle ich einen Schauspieler ein. Vielleicht gibt er mich besser als ich mich selbst. Aber was bewegt sich dort?«

Er richtete sein Glas auf den Hügel hinter Besenroda, der im schweren Orangelicht der untergehenden Sonne glühte. »Ein Erntewagen«, murmelte Kortüm, »die denken, es kommt Regen. Wie der Knecht das Maul aufreißt und die Tiere anschreit – schreit? Nein. Man hört nichts. Man sieht ihn nur schreien. Ah, da kommt die Eisenbahn . . .« Kortüm folgte der Wagenschlange mit dem Fernrohr. Wunderbar glitt sie hin. Aber Kortüm hörte sie nicht fahren. Das dicke Lastauto auf der Straße – es bremst – jetzt ist es an dem Erntewagen vorbei. Wie das Ding nun wieder losbraust – lautlos. Kortüm legte das Fernrohr auf die Knie und dachte nach; ein Punkt war das Auto, ein Strich die Eisenbahn, ein Stäubchen der Knecht. Punkt, Strich und Stäubchen rückten die geschliffenen Gläser heran und machten Wagen, Bahnschlange und Knecht aus ihnen, die Nichtse bekamen Formen: scharf und rein umrissen. So muß dastehn, was lebt: ein Baum oder ein Gras oder eine schöne Frau – es geht einem durch die Augen und stärkt das Herz, denn es steht so selbstverständlich da, als müsse es für 594 alle Zeit so sein. Freilich, die Augen ändern sich. Und das Herz . . . Als mein Vater älter wurde, sah er nicht mehr danach hin. Er lächelte nur, suchte mit den Augen ganz andere Dinge. So allerlei Sachen erquickten ihn dann, die keinen Umriß haben, nicht dastehn wie für alle Zeit gestellt: besonders nach den Wolken sah er und freute sich, wie sie sich ewig verändern. Mein Schottenhaus, in den Tagen, als das Gerüst weggenommen wurde, meine junge Frau . . . mein Vater nickte nur, so wie er war: gütig, vielleicht ein bißchen mitleidig. Hm, und dann sah er wieder nach den Wolken. Er war schon ein sehr alter Mann damals. Das hohe Alter hält sich wohl an die Kraft selber, die formt. Ans Formlose – nun, mich freut noch die scharfe Linie meines Hauses, wie es da aus dem Grasboden steigt. Und eine schöne Frau erquickt mich, wenn ich sie gehen oder spielen sehe. Ja, wo ist sie eigentlich? Warum kommt sie nicht? Die große Schauspielerin? Meine Freundin? Konstanze Schröter?

Die Mondsichel stand weiß und klar im Abendhimmel. Kortüm sah die Gestirne, eines nach dem anderen, nun ganze Saaten von Sternen, gezogen kommen. Aber ihm war entschwunden, daß er doch mit seinem Glas zu dieser Bank gewandelt war, um sich den Weltraum näher zu rücken. Nur die fernen Menschen hatte er näher an sich gezogen, und als der letzte Widerschein der Sonne verblich und die Erde dunkel vor ihm lag, sagte Kortüm sogar: »Nun ist gar nichts mehr zu erkennen.« Er schob die Tuben zusammen. Doktor Windhebel würde Herrn Kortüm sehr befremdet angesehen und in den Weltraum hinaufgedeutet haben: »Da sind sie ja eben gekommen.«

Dieser Mann blieb bei seiner Gastwirtsphysik. Kortüm sah nur, daß es dunkler und dunkler wurde und sagte: »Morgen« – nachdenklich zog er die Lederschlaufe des Futterals in die Schnalle – »wenn wir wieder Licht haben.«

Jetzt ging er an seinen Schreibtisch, schaltete die Lampe ein und verfaßte einen Brief an Konstanze Schröter, in dem er ihr den Ausblick vom Mittelfenster im Oberstock des Lohberghauses schilderte. Auf den Umschlag schrieb er: »Weimar«. Der Brief reiste eine gute Weile hinter ihr her, bis er sie endlich in Berlin antraf. Aber auch in Berlin war Konstanze Schröter schwer von Briefen zu erreichen.

Du!« sagte Konstanze leise.

Klaus hatte zum Kellner gesagt: »Eine Flasche Sekt!« und richtete nun an die Dame, für deren Wohlergehen er sich verantwortlich 595 fühlte, die teilnehmende Frage: »Trinkst du keinen? Möchtest du lieber ein Glas Tee? Oder – Herr Ober, eine Tasse Schokolade noch, bitte.«

»Blas dich doch nicht so auf. Was fällt dir überhaupt ein?«

Sie hatten die bunten Ankündigungen des Kabaretts auf der Straße eine Weile angesehen und dann lachend gesagt: »Wollen wir?«

Und da saßen sie nun. Geduldig hörte Konstanze ein lächerliches Lied an. Als der Kellner mit viel Umstand die aufgetakelte Flasche brachte, öffnete und aufstellte, wurde Klaus ein wenig befangen: »Ich muß mich einmal herausreißen«, sagte er erklärend.

»Woraus?«

Klaus sparte nicht mit Worten. Der Champagner erleichterte ihm das Reden. In starken Farben schilderte er den letzten Schwung, den er der Arbeit, die zu Hause auf seinem Tische lag, noch geben wolle – ja, er gebrauchte das Wort »Aufschwung«.

Konstanze ließ ihn ausreden, trank, sah ihn beim Trinken über den Rand des Glases mit halbgeschlossenen Augen an. Dann sagte sie: »Ach. Vor Verdun ist ein Onkel von mir gefallen –«

»Was redest du?«

»Sei gefälligst still – der war Artillerieoffizier. Aktiver. Als er das letztemal auf Urlaub war, hat er meinem Vater erzählt, wie es ist, wenn's losgeht. Aufgeregt wäre er nicht gewesen. Auch nicht, was man zu Hause begeistert nennt oder todbereit und was es da sonst für Worte gibt. Er hätte immer viel zu viel mit Entfernungsschätzen und solchen Sachen zu tun gehabt. Schon vor dem Kriege, in den Manövern, neunzehnhundertzwölf, dreizehn, wären eigentlich nur – natürlich bloß in den ersten Tagen, dann auch nicht mehr – die Reserveoffiziere aufgeregt gewesen. Du, weißt du was? Ich glaube, ein Dichter ist gar nicht aufgeregt. Bloß Reservedichter.«

Klaus setzte mit einem Schwupp das Glas hin: »Ich gehe.«

»Ich auch.« –

Als sie draußen auf der Straße waren, henkelte sie Klaus ein und tat ganz harmlos.

»Wie hast du das eigentlich gemeint?« fragte Klaus zornig.

»So, Klaus: es gibt Dinge, über die kann man nicht reden, ohne sich lächerlich zu machen. Stelle dir einen Bauer vor, der schildert, wie er den Spaten in die Erde setzt, langsam das braune Erdreich mit dem Eisen durchschneidet, dann den Spatenstiel kräftig niederdrückt – der 596 Bauer sagt gar nichts, höchstens, ob es geregnet hat. Das andre denken sich die Schreiber aus.«

Klaus war stehen geblieben. Nach einer guten Weile sagte er: »Wir sehen uns eigentlich viel zu selten.«

»Berlin« – Konstanze zuckte die Schultern: »Das ist eine der größten Merkwürdigkeiten dieser Stadt: man sieht sich nicht, aber man fühlt sich.«

Sie schlenderten die Straße entlang; noch eine. Jetzt standen sie vor Korbsesseln, die ein Caféwirt auf den Bürgersteig zwischen Kübelpflanzen vor kleine Tische gestellt hatte. »Komm«, sagte Klaus und zeigte auf eine verlockende stille Ecke, wo die Sessel besonders tief und die Büsche dicht standen.

»Wenn du nicht wieder Wein bestellst.«

»Was willst du haben?«

»Schokolade.«

Trotzig bestellte Klaus: »Zwei Tassen Schokolade.«

»Einstweilen«, lachte Konstanze.

»Alles ist einstweilen, sobald man mündig geworden ist«, er streckt die Beine aus, »zu Hause sind nur die Kinder. Konstanze, ich muß dich damals schon gekannt haben.«

»In Hörsel?«

»Meine Eltern wohnten auf der anderen Seite vom Hörselberg.«

»Ein berüchtigter Berg, Klaus.«

»Mit guter Aussicht. Die bekannte Kalksteinhöhle ist übrigens nur zwanzig Meter lang und zuverlässig leer. Ich war oft drin. Habe keine schlechten Erfahrungen gemacht.«

»Bis du in die Welt gingst.«

Klaus nickte: »Die Welt ist keine Kalksteinhöhle – offen nach allen Seiten.«

»Einstweilen.«

Er gab seinem Stuhl einen Ruck und saß dicht neben ihr: »Schließ sie zu.«

Konstanze warf einen Blick auf die Leute an den Nebentischen. Aber die saßen auch alle nur einstweilig hier und lasen die einstweiligen Abendnachrichten. »Von außen zuschließen?« fragte sie, »oder von innen?«

»Von innen: richtig zu!«

»Nicht so laut.«

»Konstanze, du –«

597 »Keine Reservedichtertöne –«

Klaus seufzte. Dieses »du« klang freilich falsch. In Berlin ist es schwer, den Ton zu finden: »Pflaster, Omnibus, Großer Sieg der Japaner und roter Strich unter der Schlagzeile – weißt du noch: am Heilborn hin, wo er in die Gramme mündet links ab, mitten durch die Büsche –«

»Ich blieb mit dem Haar an einem Zweig hängen –«

»– ganz verhäkelt, aber ich bekam's los.«

»Hast viel Zeit gebraucht.«

»Du mußtest stillehalten.«

»Statt mir zu helfen, hast du mir die Schuhe ausgezogen.«

»Der Waldboden war ein Teppich von Haselwurz.«

»Weich und trocken, aber –«

»– aber ich trug dich doch lieber durch das Gebüsch, als die Haarsträhne los war vom Dorn, damit in deinem Strumpf keine Masche aufging. Die hätte ich nicht reparieren können.«

»Und wie würde ich dann dagestanden haben ohne linken Strumpf?«

»In der Lichtung, die gleich hinter den Büschen kam? Oh, wie die Spiräen, die vor den Haselbüschen blühten, hättest du dagestanden: elfenbeinweiß –«

»Zweite Nachtausgabe!! Zweite! Zweite Nachtausgabe!!!« schrie es hinter ihnen.

»Weitweg . . .« sagte Klaus ergeben.

»Einstweilen«, antwortete Konstanze.

 


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