Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Der Eselritt

Heute wollte Klaus pünktlich am Bahnhof sein. Heute ließ sich Klaus Schart von keiner Girlande unterwegs aufhalten. Mit dem Abendzug wird Konstanze Schröter in Besenroda eintreffen. Auch Wingen kam heute abend und Lerp, der Schauspieler. Das Quintett der Staatsoper und die übrigen Darsteller wurden erst morgen mittag erwartet.

Leider war das Wetter umgeschlagen. Südwestwind leckte den Schnee vom Gebirge und blies spritziges Regengewölk ins Ilmtal. Wenn nun Herr Kortüm nicht den Eselverkehr erfunden hätte! Die Folgen wären gar nicht auszudenken. Wahrscheinlich hätten die Leute die Karten zum ersten Gastspiel einfach abbestellt, denn wer sollte bei dem Wetter auf der landein landaus berüchtigten Besenröder Straße zum Schottenhaus hinaufwaten? Selbst kunstbegeisterte Familienväter würden sagen, sie hätten Weib und Kind, müßten sich ihrer Familie erhalten, und das Leben wäre kein Schauspiel wert.

Aber die Esel standen bereit. Die schreckte nicht Wetter, nicht Abgrund, nicht Steinbruchweg. Sechs weitere Esel waren mietweise für die Festtage eingetroffen, und die Sonderzüge liefen umschichtig in Esperstedt und Besenroda ein, so daß die gesamte Eselfront jeweils auf eine Zugankunft konzentriert werden konnte – jede denkbare Rücksicht war von der Bahnverwaltung auf den Spezialverkehr des Schottenhauses genommen worden, nachdem sie sich von der Tatsache des Eselverkehrs überzeugt hatte. Nur das erste Schreiben der Freitagsgesellschaft war unbeantwortet geblieben. Die Beamten hielten diese Verkehrsneuerung für einen unpassenden Witz, bis sie einsahen, daß zwei teure Sechssitzer zwölf Personen nicht besser die schlimme Straße hinaufgetragen hätten.

Es liefen so viel Vorbestellungen ein, daß Herr Kortüm nun doch bereute, nicht mit dem Erfurter Feinkosthändler Dohse in Verbindung getreten zu sein. Die Spießbürger hatten ihn wankend gemacht. Zum 83 erstenmal in seinem Leben hatte er nachgegeben. Wenn er jetzt nur die Hummern und Pasteten zur Hand gehabt hätte! Nun, es konnte auch ohne Hummern noch ein gutes Geschäft werden. Wenigstens die Weinkarte hatte er nach seinem Ermessen zusammengestellt. Herr Kortüm kraulte den Esel mit dem azurblauen Sattel hinter den Ohren: »Du trägst den alten Kortüm in eine bessere Zukunft.«

Mit Neid sahen die anderen Theater hier mitten im Gebirge einen offenbaren Erfolg im Werden. Das Stück war es nicht, das zog. In Birnstedt zum Beispiel hatten zweiunddreißig Personen der Erstaufführung beigewohnt. Daß aber die Esel neugierig machten, anlockten und zogen, das konnte kein Intendant übersehen. In den illustrierten Zeitungen erschienen Bilder dieser Eslein – sie hatten merkwürdige Namen, und ihre Sättel waren azurblau, feuerrot, postkutschengelb, maigrün, nachtblau und mondsilbern, und Glöckchen hingen auch noch dran – wer kann dagegen ankommen mit Taxen, Elektrischen und Autobussen?

Also heute kommt dieser Dichter – Herr Kortüm stand vor seinem Kleiderschrank und suchte einen würdigen Anzug. Wegen dieses Friedrich Wingen aber nicht. Ein seltsamer Mann, murmelte Herr Kortüm. Er kannte diese Menschenart nicht, denn in Hamburg dichtete zu seiner Zeit niemand, in Übersee erst recht nicht, und in Thüringen war er ja von jeglichem Verkehr abgeschnitten. Höchst seltsam, wiederholte Herr Kortüm: reist eigens von Weimar aufs Schottenhaus und statt mit ihm, Herrn Kortüm, die gesamte Materie sorgfältig durchzusprechen – die Mappe lag bereit – schwatzte er mit Lotte, aß zwei kalte Aufschnitte mit ihr, trank eine Flasche Wein und verschwand wieder. Hm . . .

Herr Kortüm kramte in seinen Sachen. Schwer für einen aus der großen Welt stammenden und nun einsam in achthundert Meter Meereshöhe hausenden Witwer: »Ich nehme doch diesen hier«, sagte er. »Die berühmte Konstanze Schröter wird erwartet. Da kommt der Anzug zur Geltung. Sie soll eine schöne Frau sein – aus was für einer Familie mag sie stammen . . .«

Herr Kortüm breitete seinen Anzug aus – eine wahrhaft fürstliche Pracht. Zum Rennen in Hamburg hatte er ihn getragen – das waren Zeiten. Träumerisch holte er den Hutkoffer herunter und entnahm ihm den zugehörigen mausgrauen Derbyzylinder: ja, der paßt noch.

»Wir empfangen sie also mit ›Wer hat dich du schöner Wald‹, nich wahr?« Monich machte die Schlafzimmertür nur einen Spalt auf, 84 da er Herrn Kortüm in den Unterhosen und mit dem grauen Zylinder auf dem Kopf vorm Spiegel stehen sah und dieses Bild einen genierlichen Eindruck auf ihn machte. Monich befand sich bereits in voller Feuerwehrhauptmannsuniform.

»Das finde ich sehr dumm«, sprach Herr Kortüm und setzte seinen Hut ab. »Komm herein und mach die Tür zu. Könnt ihr nicht was Passenderes spielen? Bei diesem Wetter? Etwa aus dem Freischütz?«

»Nee, ausm Koppe nich, Kortüm. Un mit Noten geht's nich bei dem Regen. Die zerweichen je. Un Nacht is auch. Sie sehn nischt.«

»Dann laß wenigstens den großen Waldruf von den Trompetern blasen, Monich. Die Musikanten hast du ans Tanneneck gestellt?«

»Noch nich. Sonst werden sie kalt, un dann sausen sie einen Grog nachm andern un mit ›Wer-hat-dich‹ is es Essig.«

Herr Kortüm schüttelte den Kopf, als Monich hinaus war: »Da beschweren sich diese Binnenländer über unsere Reeperbahn.« –

Im Schulhaus zu Besenroda stand Klaus Schart und schmückte sich. Er hatte seinen kleinen Spiegel auf den Fußboden gestellt und prüfte den Fall seiner Hosen: sie fielen gut. Leider besaß er nicht die große Welterfahrung des Herrn Kortüm. Sein Haupthaar zum Beispiel bearbeitete er mit Wasser und Bürste, bis sein Kopf wie ein Messingknopf blitzte. Er zog sich straff auf Draht und ahnte nicht, in welche Gefahr er Konstanze gegenüber geriet neben der lässigen Vornehmheit jenes großen Herrn Kortüm. Klaus sagte nichts als: Sie kommt, sie kommt. In einer Stunde läuft der Zug ein – wenn man so denkt: eine rußige stampfende Lokomotive zieht eine weißseidene zarte Julia Capulet durchs Land – ob der Lokomotivführer ahnt, was er da zieht . . .

Klaus atmete tief: Gott sei Dank, Herrn Kortüms Esel mit dem silbernen Sattel rettet sie, mich, uns alle.

Kersch stand bereit. Der Schirmträger auch. Klaus hatte sich selber überzeugt.

Und Julia kam.

Sieben Uhr zehn Minuten lief der Zug ein. Klaus äugte wie ein Falke nach den Trittbrettern – wo? Da! Nein, das war kein weißseidner Schuh. Die Menschen drängelten. Marktkörbe, Pappschachteln, Glasröhren – mein Gott, dort ist ja Wingen! Eine Sekunde lang war der Dichter aufgetaucht im gelben Licht der Bahnsteiglampen. Maschinendampf wölkte die Masse ein. Der Regen peitschte auf den Schirm. Da 85 ist Wingen wieder! Der andere muß Lerp sein. Aber wo ist sie?! Jetzt drängelte Klaus rücksichtslos gegen den Strom, trat in einen Taubenkorb, preßte ein Marktweiblein gegen den Lampenmast – »Ah, lieber Schart« – irgendein Elender setzte in diesem Augenblick seinen Koffer auf Klausens Schuh – »bitte: Schart, Frau Schröter« – stellte Wingen vor.

Klaus schmetterte den Koffer beiseite. »Nanu, mei Herre!« rief jemand. Wingen hatte bei den Worten »Frau Schröter« auf eine weibliche Person gezeigt. »Lerp«, sagte ein fremder Herr zu Klaus und drückte ihm die Hand. Der Schulmeister versuchte seinen Schirm zu schließen. Eine Regenwelle spritzte ihm ins Gesicht.

»Und Frau Schröter?!« schrie Klaus dem Schauspieler ins Ohr.

»Da geht sie ja, nein dort, rechts, mit Wingen!«

Das – das soll Konstanze sein? Klaus sah ihr mit offenem Munde nach und merkte den Regen nicht. Konstanze? Nein, das war nicht Julia Capulet. Das war – aber das kann doch nicht –

»Schart! Mensch! Wo stecken Sie denn. Frau Schröter kommt ja um in eurer Sintflut!«

Klaus stürzte an Konstanzes Seite – war sie's doch? Er nahm ihr den Schirm ab und hielt ihn schützend über sie – nein, sie war's nicht! Er kannte sie doch. Zwanzigmal hatte er sie gesehen auf der Bühne . . . Diese Frau neben ihm hatte eine Strickjacke an und einen Strickrock und Schuhe mit Gummisohlen und auch noch eine Baskenmütze auf – es ist die Nachtigall und nicht die Lerche, hörte Klaus eine Stimme in sich – »Wenn ich bloß meinen Gummimantel hätte«, sprach das Weib neben ihm. Lug und Trug! Sie hatte ein abgespanntes Gesicht. Das nasse Haar klebte ihr an der Stirne. Sie ließ die Mundwinkel hängen und platschte mit ihren großen Schuhen durch das Wasser . . .

»Also jetzt siehst du's mit deinen eigenen Augen, Konstanze« –

Du – hat Wingen zu ihr gesagt? dachte Klaus.

»Und erlebst es mit deinem Leib und Leben: da stehn die Esel von Besenroda.« Mißmutig sah Konstanze die nassen Tiere an. »Und diese triefende Figur hier«, fuhr Wingen fort, »ist unser Freund Kersch, erster Sachverständiger in Eselfragen.«

»Wie zutraulich er mir ins Auge blickt!« rief Lerp und streichelte den ihm von Kersch zugeteilten Esel. »Ihr seid ja wahre Lebenskünstler, Schart! Tausend Jahre sind nichts vor euch in Besenroda.«

»Halt's Maul, Lerp«, sagte Wingen, »und hilf lieber Frau Schröter auf den Esel kommen.«

86 Wingen konnte nicht helfen. Ihm hatte der Wind den Schirm umgestülpt. Und Klaus fiel aus. Der stand noch nässer und dümmer als die Esel da und starrte die fremde Frau mit dem falschen Namen an. Inzwischen hatten vier Bengel große bunte marktschirmartige Dächer aufgeklappt. Kersch nahm von dem silbernen Sattel die Schutzdecke, Konstanze setzte sich auf das Eslein, und wie im Morgenland hielt jemand einen silbernen Schirm über sie – halb Zirkus, halb Tausendundeine Nacht. Das Eslein klappte mit den Ohren, unter dem Schirm war es trocken, windgeschützt, ja, es war ordentlich heimelig in dem glitzernden Umstand – Konstanze sah's an und lächelte. Dann lachte sie. Konstanze lachte plötzlich so laut, daß Klaus aufzuckte und einen Augenblick dachte: Sie ist's doch.

Kersch marschierte los und zog Lerps Esel an der Leine nach. Als zweiter ritt Wingen, Konstanze folgte, und Klaus schloß die Karawane.

Die letzten Lichter von Besenroda blieben zurück. Es wurde stockdunkel. Vor Klausens Augen schwankte in der düster stürmischen Nacht ein silbernes Dach, hin und wieder blitzte eine silberne Tresse, Glöckchen bimmelten, wenn der Paßwind nicht zu böse fauchte. Klaus war mit einem Schlag so unglücklich geworden wie noch nie in seinem Leben. Keine Hoffnung winkte mehr. Lautlos wie Spuk war dicht vor ihm eine rotgoldene kerzenhelle Welt zusammengestürzt und hatte ein weißes Brokatzelt unter sich begraben – aber ich habe sie doch gesehen . . . Klaus Schart brütete über dem grausigen Wunder, wie ein Weib in einem Weibe stecken könne.

Plötzlich hallten Trompetenstöße durch Wald und Unwetter. Wingen hielt erschrocken an: »Das sind Notsignale!«

Die Trompeten stießen Wolfsschluchtschreie in die Wildnis. Aber Kersch sagte: »Nee! Das sin se doch!«

»Wer, Mensch?!«

»Nu, die Musikanten.«

Im Gebüsch vor dem Tanneneck stand eine Männerschar, die eben wieder ihre Hörner ansetzte: »Wer hat dich du schöner Wald . . .«

»Die üben vielleicht!« schrie Lerp durch den Wind.

»Mitten in der Nacht? Was ist das für ein Land!«

»Thüringen«, sagte Konstanze und lachte zum zweitenmal. Klaus gab seinem Esel einen Knips und preschte heran – aber er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Es war zu dunkel.

»Sagen Sie, Schart, was sind denn das für unglückselige Regenpfeifer?«

87 »Ich weiß nicht«, antwortete Klaus niedergeschlagen und treulos. Er verleugnete die triefenden Musensöhne einfach.

Im Schottenhaus waren alle Fenster hell. Der Empfang fand wegen des Regens im Innern des Hauses statt. Herr Kortüm erwartete die Gäste im Theatersaal. Für Feierlichkeiten war die Diele viel zu eng, aber man hatte sie schön mit Tannengrün geschmückt. Monich stand an der Tür zum Saal und kam den Gästen entgegen. Da er seine Feuerwehruniform angezogen und den Helm aufgesetzt und da ferner Herr Kortüm in der Eile seinen grauen Zylinder auf dem Spiegeltisch der Diele hatte stehen lassen, wandte sich Lerp nach Wingen um und wies auf das lebende und das tote Bühnenrequisit: »Sind denn vor uns schon Kollegen angekommen? Ich denke, wir sind die ersten?«

»Nee«, antwortete Monich für Wingen, »wir sin bloß Einwohner.«

»Na«, rief Lerp, »da werden wir aber ausgezeichnet zusammenpassen!«

»Das woll'n wir hoffen. Hähä. Gu'n Abend, Fräulein.«

Klaus erschrak nicht. Ihm war längst alles gleich – wo ist Julia?

Die Saaltür flog auf. »Ah«, sagte Konstanze. Nach dem Eselritt und dem silbernen Stück Morgenland in der Wolfsschlucht war sie beinah so hoffnungslos wie Klaus Schart. Aber der Saal war schön. Und nun erst Herr Kortüm! Er benahm sich durchaus senatorisch. Herr Kortüm war eben doch ein Mann: auf den ersten Viertelblick begriff der Vielerfahrene das Weib, das der arme Klaus hinter der Strickwolle nicht finden konnte. Im Saal war ein entzückender Tisch gedeckt. Herr Kortüm hatte die kostbaren Reste des alten Hamburger Familiensilbers, das Porzellan, das Kristallglas – jede Einzelheit hatte er persönlich gestellt. Die Wachskerzen, die Veilchen, sogar die Moltonunterlage, in die das silberne Gerät die schimmernde Damastdecke weich und üppig hineindrückte. Er führte Konstanze. Auf seiner anderen Seite saß Wingen, gegenüber Lerp. Monich und Klaus hatte er rechts und links von dem Schauspieler gesetzt. Die Esperstedter Herren konnten leider nicht mehr rechtzeitig eingeladen werden. Bei dem Wetter mag man doch keinen Boten hinunterschicken, hatte Herr Kortüm gesagt und dankbar an seinen Barometer geklopft.

Es gab gebackene Hühner. Wo hat er bloß die grünen Salatblätter her? dachte Klaus – vielleicht aus Taschkent. An solchem Tisch hatte der Schulmeister noch nicht gesessen. Alles Gerät war schwer, von Generationen speisender Kortüms zart abgeschliffen und sehr vornehm. Nur 88 das Essen war leicht. Man merkte gar nicht, daß man aß. Nach einem kurzen Schluck Mosel brachte Liese Rotwein. Aber Liese war schon ohne Wein eine Freude. Herr Kortüm hatte sie in Thüringer Tracht gesteckt: blumiger kurzer Rock, weiße Strümpfe, Haubenbänder, und vor verschämter Freude über ihre Pracht hatte sie auch noch knallrote Backen.

Herr Kortüm trank auf das Gelingen des Festes. Seit er Konstanze gesehen hatte, wußte er, daß es gelingen würde.

Wingen trank, kostete und lachte dann: »Prost, Schart.« Klaus wurde verlegen – den Wein kannte er, ohne Zweifel: das war dieser laue verdammte Burgunder.

»Nicht lachen!« mahnte Herr Kortüm. »Bedenken Sie die Jahreszeit. Bedenken Sie die Verantwortung, die wir Männer zu tragen haben für die zarte Gesundheit einer Dame. Mehr noch: für die Seele des Festes. Gnädige Frau, ich trinke auf Ihre Kunst. Möchte dieses alte Land nicht zu eng für sie sein.«

Wingen sah den Mann, von dem er wußte, daß er ein Gastwirt war und beleidigende Briefe schrieb, von der Seite an: »Ihr Wein ist sehr schön! Ich lächelte nur zu unserem Schulmeister hinüber. Herr Schart und ich haben eine kleine private Burgundererinnerung.«

»Dazu ist er viel zu jung«, sagte Herr Kortüm streng.

Konstanze lachte. Aber nun stieg in Klaus der Zorn hoch, und der machte ihn tapfer. Vielleicht war ihm auch aus dem Wein ein wenig Trotz zugewachsen. Er rückte sein Rotweinglas weg, nahm das Moselglas, schenkte Konstanze und dann sich ein und sagte zu ihr: »Wir beide müssen dann eben den jugendlichen Wein trinken. Ihr Wohl.«

Herr Kortüm zog die Augenbrauen hoch, strich über das Kinn und betrachtete sich Klaus aus den Augenwinkeln. Konstanze aber nickte dem Schulmeister zu und sah ihn nun erst genauer an.

Es kam ein Wohlsein über die Menschen an diesem Tisch. Lerp hatte schon lange mit großer Teilnahme seinen Nachbar in Uniform betrachtet: »Sagen Sie, Herr Hauptmann, haben Sie hier schweren Dienst?«

»Je, feuertechnisch is die Sache so: wir haben hier bloß kleine Häuser, un die sind auch noch halb aus Holz. Brennt so'n Ding, na denn brennt's. Da is nich viel zu machen. Wir passen mehr auf, daß die Nachbarschaft nich angogelt.«

»Da heißt's spritzen.«

»So einfach is das auch nich. Zum Spritzen gehört Wasser. Im Sommer is wenig da, mannigmal auch gar nischt, un im Winter bei 89 Frost hat sich's was mit Wasser. Spritzen allein, nee – da heißt's vor allem Bahn hacken.«

»Was?«

»Bahne machen! Mir nehmen die Beile un schlagen ringsum alles, was von Holz is, in Klump.«

»Ausgezeichnet, Herr Hauptmann.«

»Das hilft. Je mehr wir demolieren, nich wahr, desto weniger kann brennen.«

»Prost Wingen«, rief Lerp. »Merken Sie sich das. Sie sind doch Dichter. Ehe ich einen Fachmann in Brandsachen gehört habe, dachte ich immer, es wäre umgekehrt – je kleiner Holz gehackt wird, desto leichter entflammt's.«

»Ja, die Fachleute«, sagte Wingen.

Konstanze schälte einen Apfel und setzte sich tiefer in ihren Lederstuhl. Die Fenster wummerten leise vom Wind. Mitten in dem großen leeren Saal stand der kleine Tisch verloren wie eine Insel. Aber Herr Kortüm war so weise gewesen, den Saal dunkel zu lassen und nur Wachskerzen auf dem silbergedeckten und veilchengeschmückten Tisch anzuzünden. Man fühlte sich geborgen, wie es ja Augenblicke gibt, in denen sich der Mensch – von Kerzen und Silber und Duft getäuscht – geborgen fühlt in der grenzenlos öden Leere um ihn. Klaus schenkte ein, und Herr Kortüm erzählte. Ganz langsam sprach er und spann seine Gäste ein. »Ja, Feuer«, sagte Herr Kortüm, »Feuer, Wasser, Luft – wer kennt sich aus in den Elementen. Man muß drin in ihm sein, wenn man ein Element verstehen will. Feuer begreift sich am schwersten, weil's einen verbrennt. Mit Wasser ist es leichter. Haben Sie schon einmal den Atlantik befahren, gnädige Frau? Nicht? Schade. Vom Land aus kann man Wasser nicht begreifen.«

»Auch die Menschen begreift nur, wer zwischen ihnen steckt«, sagte Wingen.

»Der Mensch ist kein Element« – der Herr des Schottenhauses nahm einen tiefen Schluck.

»Aber Feuer ist eins«, sagte Konstanze und lächelte Kortüm an.

»Gott weiß es – Feuer . . . Ich glaube, es muß eine Septembernacht gewesen sein. An Bord der ›Cleopatra‹, spät abends. Ich nahm eine Decke und rückte meinen Liegestuhl in Schornsteinnähe. Vom Asienufer, wir fuhren durch die Dardanellen, kam Landwind. Da schwingt einer eine Fackel, denke ich. Der rote Punkt am Ufer drüben pendelt hin und her. Noch einer. Zehn, hundert. Ich schwöre, gnädige Frau, es war 90 deutlich fernes Geschrei zu hören und ein ganz leises Klirren und Tosen. Die Feuerpunkte laufen zusammen. Der Himmel wird blaßrot – Feuer, denke ich, laufe zur Brücke: Capitano, Feuer! Der nimmt sein Glas: kommen Sie doch rauf, wo denn? Nichts ist mehr zu sehen. Unmöglich, sagt der Offizier, dort, wo Sie hinzeigen, wohnt niemand. Der dunkle Streif ist der Hügel von Hissarlik. Sehen Sie, Gnädigste, ich hatte mich selber um das Feuer gebracht. Ich hätte nicht davon reden sollen.«

»Hissarlik?« fragte Konstanze.

Herr Kortüm nickte: »Hm, Troja« – er sah sie lächelnd an – »jaja.«

»Je«, fing Monich an –

»Schweig still, Monich. Da ist nichts für dein Beil zu holen.«

»Das Gedicht von Troja ist durch die Erdrinde geschwelt in Ihrer Septembernacht«, sagte Wingen.

»Das Element!« rief Konstanze – aber Herr Kortüm legte zart seine alte durchfurchte Hand auf ihre Finger mit den Ringen: »Sei ruhig, freundlich Element.«

Klaus mußte in den Keller und Wein holen. Herr Kortüm hatte keine Lust aufzustehen, saß und erzählte. Sie blieben lange in dieser Nacht an ihrem Kerzentisch.

 


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