Walter Scott
Waverley - So war's vor sechzig Jahren
Walter Scott

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel III.

Luftschlösser.

Ich habe bereits darauf hingedeutet, daß der leckere, wählerische und prunkhafte Geschmack, der durch das Uebermaß müßigen Lesens erweckt wurde, unsern Helden nicht nur unfähig zu ernstem und gründlichem Studium machte, sondern ihm auch in gewissem Grade alles verleidete, was er bisher mit Vorliebe gepflegt hatte. Er stand in seinem sechszehnten Jahre, als seine Gewohnheit zur Absonderung und seine Liebe zur Einsamkeit so hervorstechend wurden, daß sie bei Sir Everard Besorgniß erweckten. Er versuchte dieser Neigung dadurch entgegen zu wirken, daß er seinen Neffen zur Jagd anspornte, die das Hauptvergnügen seiner eigenen Jugend gewesen war; aber obgleich Edward einige Zeit lang die Jagdflinte mit Eifer auf die Schulter nahm, so hörte der Zeitvertreib doch auf, ihm Unterhaltung zu gewähren, sobald er im Schießen einige Geschicklichkeit erlangt hatte.

Im folgenden Frühjahr bewog das bezaubernde Werk des alten Isaak Walton unsern Edward, ein Angelbruder zu werden. Aber von allen Zerstreuungen, die je ersonnen sind, den Müßiggang erträglich zu machen, ist das Fischen am wenigsten geeignet, einen Menschen zu unterhalten, der träg und ungeduldig ist, – unseres Helden Angelruthe wurde daher bald bei Seite geworfen.

Auch an der Gesellschaft gleichalteriger junger Leute fehlte es ihm. Zwar gab es einige von besserer Erziehung und edlerem Charakter in der Nahe, aber von ihrer Gesellschaft war unser Held ausgeschlossen, Sir Everard hatte bei dem Tode der Königin Anna seinen Sitz im Parlamente aufgegeben, und als sein Alter zunahm und die Zahl seiner Altersgenossen sich verminderte, zog er sich allmählich von der Gesellschaft zurück, so daß, wenn Edward sich bei irgend einer besondern Gelegenheit unter gebildete und wohlerzogene junge Leute seines eigenen Ranges mischte, er sich in ihrer Gesellschaft untergeordnet fühlte, nicht sowohl aus Mangel an Bildung, als aus Mangel an Geschicklichkeit, von der Bildung, die er besaß, Gebrauch zu machen. Eine tiefe Reizbarkeit kam zu diesem Mißfallen an der Gesellschaft hinzu und diese Reizbarkeit nahm fortwährend zu. Der Gedanke, den kleinsten Verstoß gegen den Anstand begangen zu haben, war für ihn eine Marter, denn Verschuldung weckt in solchen Gemüthern vielleicht nicht ein so scharfes Gefühl von Scham und Reue, als ein bescheidener, gefühlvoller und unerfahrener Jüngling durch das Bewußtsein empfindet, die Etiquette vernachlässigt oder sich lächerlich gemacht zu haben. Wo wir uns nicht wohl befinden, können wir nicht glücklich sein, deshalb ist es nicht überraschend, daß Edward Waverley vermuthete, er mißfiele der Gesellschaft und sei für dieselbe nicht geeignet, nur weil er die Gewohnheit noch nicht erworben hatte, in ihr mit Bequemlichkeit und Gemächlichkeit zu leben und gegenseitig Vergnügen zu empfangen und zu bereiten.

Die Stunden, die Edward mit seiner Tante und seinem Oheim zubrachte, wurden auf das Anhören oft wiederholter Geschichten verwendet. Hier wurde seine Einbildungskraft, die vorherrschende Fähigkeit seines Geistes, nicht selten angeregt. Wenn nämlich Edward Waverley auch zuweilen über der Aufzählung seiner Vorfahren mit ihren verschiedenen Zwischenheiraten gähnte und innerlich die kleinliche Genauigkeit verwünschte, mit welcher der würdige Sir Everard die verschiedenen Verwandtschaftsgrade zwischen dem Hause Waverley und den wackeren Baronen, Rittern und Junkern, die mit ihm verschwägert waren, herzählte, wenn er zuweilen die Sprache der Heraldik mit ihren Greifen, ihren Maulwürfen, ihren fliegenden Eidechsen, ihren Drachen zur Hölle wünschte, so gab es doch auch Augenblicke, in denen diese Mittheilungen seine Phantasie erregten und seine Aufmerksamkeit belohnten.

Die Thaten Wiliberts von Waverley im gelobten Lande, seine lange Abwesenheit, seine gefahrvollen Abenteuer, sein muthmaßlicher Tod und seine Rückkehr an eben dem Abend, an welchem die Braut feines Herzens den Helden geheiratet hatte, der sie während seiner Abwesenheit gegen Beleidigung und Unterdrückung beschützte, die Großmuth, mit welcher der Kreuzfahrer seine Ansprüche aufgab und in einem benachbarten Kloster den Frieden suchte, der nicht vergänglich ist; diesen und ähnlichen Erzählungen lauschte er, bis sein Herz glühte und seine Augen funkelten. Auch war er nicht weniger gerührt, wenn seine Tante, Mistreß Rahel, die Leiden und die Standhaftigkeit der Lady Alice Waverley während des großen Bürgerkrieges schilderte. Die wohlwollenden Züge der ehrwürdigen

Jungfrau nahmen einen majestätischen Ausdruck an, wenn sie erzählte, wie Karl nach der Schlacht bei Worcester einen Tag lang Zuflucht in Waverley-Haus gefunden hatte, und wie Lady Alice, als ein feindlicher Reiterhaufen sich näherte, ihren jüngsten Sohn mit einer Hand voll Diener absendete, um auf Gefahr ihres Lebens die Feinde eine Stunde aufzuhalten, damit der König Zeit zur Flucht gewönne. »Und Gott hab sie selig,« fuhr Mistreß Rahel fort, indem sie ihre Augen, währenddem sie sprach, auf das Bild der Heldin richtete, »sie erkaufte die Rettung ihres Fürsten mit dem Leben ihres geliebten Kindes! Man brachte ihn als Gefangenen hierher, tödtlich verwundet; noch jetzt kannst Du die Tropfen seiner Blutspuren von der großen Hauptthür links der kleinen Gallerie bis zu dem Saale sehen, wo man ihn sterbend zu den Füßen seiner Mutter niederlegte. Durch den Blick seiner Mutter erfuhr er, daß der Zweck seiner verzweifelten Vertheidigung erreicht sei, und dies war beiden ein Trost. Ach ich erinnere mich noch,« fuhr sie fort, »ich erinnere mich sehr gut an eine, die ihn gekannt und geliebt hat. Miß Lucy St. Aubin lebte und starb seinetwegen als Mädchen, obgleich sie zu den schönsten und zu den reichsten Partien dieser Gegend gezählt wurde; alle Welt warb um sie, aber sie trug den Wittwenschleier ihr Leben lang für den armen William, denn sie waren miteinander verlobt, freilich nicht verheiratet, sie starb – ich kann mich auf das Datum nicht besinnen – doch ja, ich erinnere mich, im November eben jenes Jahres starb sie, und als sie sich schwach fühlte, wünschte sie noch einmal nach Waverley-Haus gebracht zu werden. Hier besuchte sie alle die Plätze, an denen sie mit meinem Großoheim gewesen war, und ließ die Teppiche wegnehmen, um die Spuren seines Blutes zu sehen, und wenn sie Thränen hätten verwischen können, so würden sie jetzt nicht mehr zu sehen sein, denn kein Auge in dem Hause blieb trocken. Man hätte glauben sollen, lieber Edward, selbst die Bäume trauerten um sie, denn ihre Blätter hingen herab, kein Hauch des Windes bewegte sie, und in der That auch, sie sah aus wie jemand, der sie nie wieder grünen sehen wird.« Von solchen Legenden schlich unser Held sich fort, um den Phantasien nachzuhängen, die sie erregten. In der Ecke der großen finstern Bibliothek, bei den verlöschenden Bränden des geräumigen Kamins, genoß er Stunden lang den inneren Zauber, in dem vergangene oder eingebildete Ereignisse dem Auge des Träumers erscheinen. Dann erhob sich in langem glänzenden Zuge die Pracht des Brautfestes in Waverley-Castle, die hohe schlanke Gestalt des eigentlichen Besitzers, wie er in der Pilgerkutte als ein unbeachteter Zeuge der Festlichkeiten seines muthmaßlichen Erben und seiner verlobten Braut dastand, die elektrische Erschütterung, welche die Entdeckung verursachte, das Eilen der Vasallen zu den Waffen, das Staunen des Bräutigams, der Schrecken und die Verwirrung der Braut, die Marter, mit welcher Wilibert bemerkte, daß ihr Herz wie ihr Wort für diese Verbindung war, das Wesen der Würde und doch der tiefen Empfindung, mit welcher er das gezückte Schwert von sich schleuderte und für immer aus dem Hause seiner Vorfahren floh. Dann verwandelte er den Schauplatz, und die Phantasie stellte ihm ganz nach Wunsch das Trauerspiel der Tante Rahel vor. Er sah Lady Waverley in ihrem Kämmerlein sitzen, das Ohr gegen jeden Laut geschärft, das Herz unter doppelter Angst klopfend, jetzt dem schwindenden Echo lauschend, das von den Hufschlägen des königlichen Rosses herrührte, und als dieses erstorben war, in jedem Luftzuge, der die Bäume des Parkes bewegte, den Lärm des Gefechtes vernehmend. Endlich, horch, ein fernes Geräusch, wie das Brausen eines angeschwollenen Stromes, es kommt näher, und Edward kann deutlich den Galopp der Pferde unterscheiden, das Geschrei der Menschen, dazwischen einzelne Pistolenschüsse, der Schall wälzt sich gegen die Halle. Die Lady springt auf, ein erschrockener Diener stürzt herein, – doch weshalb eine solche Beschreibung weiter verfolgen?

Je angenehmer das Leben in der Ideenwelt unserm Helden wurde, um so unangenehmer ward ihm jede Unterbrechung. Das weite Gebiet, welches die Halle umgab und die Räume eines gewöhnlichen Parkes weit überschritt, wurde Waverley-Haag genannt. Es war ursprünglich Wald gewesen, und obgleich an mehreren Stellen gelichtet, auf denen das junge Wild seine Spiele trieb, hatte es doch seinen ursprünglichen und wilden Charakter bewahrt. Es wurde von breiten Wegen durchschnitten, die an manchen Stellen mit Unterholz bewachsen waren, und auf denen in früheren Tagen die Schönen ihren Stand nahmen, um den Hirsch mit Hunden jagen zu sehen, oder mit der Armbrust einen Schuß auf ihn zu thun. An einer Stelle, welche sich durch ein moosbewachsenes gothisches Monument auszeichnete, das noch den Namen Stand der Königin führte, soll Elisabeth selbst, wie man sagte, mit ihren Pfeilen sieben Rehböcke erlegt haben. Dies war ein Lieblingsort für Waverley. Zu anderen Zeiten verfolgte er mit seiner Flinte und seinem Hunde, die als Vorwand für andere dienten, und mit einem Buch in der Tasche, das vielleicht ein Vorwand für ihn selbst war, eine der langen Alleen. Diese führte ihn zu einem klippigen und waldigen Paß, der Mirkwood-Thal genannt wurde, und plötzlich an einem tiefen kleinen See endete, der Mirkwood-See hieß. Hier stand in früheren Zeiten ein einsamer Thurm auf einem Felsen, der von Wasser beinahe ganz umgeben war und den Namen »Waverleys-Hort« erworben hatte, weil er in gefahrvollen Zeiten der Familie oft zum Zufluchtsorte diente. In den Kriegen von York und Lancaster führten die letzten Anhänger der rothen Rose hier einen ermüdenden und räuberischen Krieg, bis ihre Veste durch den berühmten Richard von Gloucester gebrochen wurde. Hier hielt sich auch eine Abtheilung Ritter lange unter Nigellus Waverley, dem ältern Bruder jenes William, dessen Schicksal Tante Rahel erzählte. Edward liebte es, unter solchen Scenen den Köder »der süßen und bittern Phantasie« zu kosten, und wie einem Kinde unter seinem Spielzeug stiegen aus den glänzenden Bildern, mit denen seine Phantasie angefüllt war, Visionen auf, ebenso herrlich doch auch ebenso flüchtig, wie die an dem abendlichen Himmel vorübereilenden. Die Wirkungen dieses Nachgebens gegen seine Stimmung und gegen seinen Charakter werden sich in dem nächsten Kapitel zeigen.


 << zurück weiter >>