Walter Scott
Waverley - So war's vor sechzig Jahren
Walter Scott

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Kapitel II.

Erziehung.

Die Erziehung unseres Helden Edward Waverley war von etwas oberflächlicher Art. In seiner Kindheit litt seine Gesundheit durch die Londoner Luft, oder man glaubte wenigstens, sie leide dadurch. Sobald daher Amtspflichten, Theilnahme am Parlament, oder die Verfolgung irgend eines Planes seinen Vater nach der Stadt riefen, wurde Edward nach Waverley-Haus gebracht und erfuhr hier zugleich mit dem Wechsel des Aufenthalts einen gänzlichen Wechsel der Lehrer und des Unterrichts. Dem wäre leicht abzuhelfen gewesen, wenn sein Vater ihn unter die Oberaufsicht eines ständigen Hofmeisters gestellt hätte. Aber er mochte glauben, daß ein Mann nach seiner Wahl für Waverley-Haus nicht annehmbar erscheinen würde, und daß eine Wahl des Sir Everard, würde die Sache diesem überlassen, ihn mit einem unangenehmen Hausgenossen, wo nicht gar mit einem politischen Spione in seiner Familie belästigt hätte. So unterblieb diese Maßnahme, und der Vater vermochte seinen Privatsekretär, einen jungen Mann von Geschmack und Kenntnissen, eine Stunde oder zwei des Tages auf Edwards Erziehung zu verwenden, wenn dieser in Brerewood-Lodge war, und überließ dessen Oheim die Verantwortlichkeit für seine Vervollkommnung in literis, während der Knabe zu Gast auf dem gräflichen Schlosse war.

Dieser Verantwortlichkeit genügte Sir Everard in gewissem Grade nicht unzureichend, denn er machte seinen Kaplan zum Lehrer des Knaben, einen Mann, der seine Anstellung bei der Universität verloren hatte, weil er bei der Thronfolge Georgs I. den Eid verweigert hatte, und der nicht nur in der klassischen Literatur des Alterthums ausgezeichnet war, sondern auch sonstige gründliche Kenntnisse besaß, namentlich ein Meister in vielen neueren Sprachen war. Doch der Kaplan war alt und nachsichtig, und das wiederholte Interregnum, welches den jungen Edward seiner Disciplin gänzlich entzog, trug nicht dazu bei, seine Autorität zu verstärken, so daß dem Knaben gestattet war, zu lernen, was er wollte, wann er wollte und wie er wollte. Diese Schlaffheit der Disciplin würde für einen Knaben von unzureichender Begabung verderblich gewesen sein, da er die Erwerbung von Kenntnissen als eine Mühe empfunden, und sie überhaupt unterlassen haben würde, wenn ihn der Lehrer nicht dazu anhielt; nicht minder gefährlich hätte die Methode für einen Jüngling sein können, dessen physisches Vermögen mächtiger gewesen wäre als seine Einbildungskraft oder sein Gefühl, und den jenes unwiderstehlich zu körperlichen Uebungen gelockt hätte – der Charakter Edward Waverleys war von den geschilderten beiden gleich weit entfernt; seine Fassungsgabe war so ungemein stark, daß sie fast zur Intuition wurde, und die Hauptsorge seiner Lehrer darin gipfelte, ihn abzuhalten, sein Ziel zu überschneiden, wie ein Jäger es nennen würde, d. h. sich die nothwendigen Kenntnisse nur in flüchtiger, unvollständiger und oberflächlicher Weise anzueignen. Dazu hatte der Lehrer noch eine andere Neigung in dem Knaben zu bekämpfen, eine Neigung, die nur zu oft mit glänzender Phantasie und Lebhaftigkeit des Talentes vereint ist, jene Trägheit nämlich, die nur durch irgend ein starkes Motiv der Befriedigung gehoben werden kann, da sie es liebt, auf das Studium zu verzichten, sobald die Neugier gesättigt, das Vergnügen, die Schwierigkeiten zu besiegen, erschöpft, und die Neuheit der Sache zu Ende ist. Edward warf sich voll Eifer auf jeden klassischen Autor, dessen Lektüre sein Lehrer vorschlug, machte sich in kurzer Zeit so weit zum Herrn seines Stils, daß er den Inhalt verstand; gefiel ihm dieser, oder erregte er irgend wie sein Interesse, so beendete er den Band, vergebens aber war es, seine Aufmerksamkeit auf kritische Unterscheidungen zu richten, auf die Verschiedenheit des Idioms, auf die Schönheit glücklicher Ausdrücke oder die künstlichen Regeln der Syntax. Ich kann einen lateinischen Autor lesen und verstehen, sagte der junge Edward mit dem Selbstvertrauen und dem raschen Urtheil eines Fünfzehnjährigen, und Skaliger und Bentley könnten eben nicht mehr thun. Leider bemerkte er nicht, während man ihm erlaubte, so nur zur Befriedigung seines Vergnügens zu lesen, daß er für immer die Gelegenheit verlor, die Gewohnheit eifrigen und gründlichen Lernens zu erwerben und die Kunst zu erringen, die Kräfte seines Geistes auf ernste Forderungen zu lenken und zu concentriren, eine Kunst, die weit wesentlicher ist, als jede Gelehrsamkeit in der Erklärung klassischer Autoren, die den ersten Gegenstand des Studiums zu bilden pflegt. Die Bibliothek zu Waverley-Haus, ein geräumiges gothisches Gemach mit doppelten Bogen und einer Gallerie, enthielt eine zahlreiche Sammlung und ein Durcheinander von Büchern, wie sie eben im Laufe von zwei Jahrhunderten durch eine Familie angehäuft werden, die immer reich und folglich auch immer geneigt gewesen war, ihre Schränke mit der laufenden Literatur des Tages ohne viel Unterscheidungsgabe und Urtheil zu füllen. Ueber die weiten Gebiete, die diese Bücher behandelten, war Edward die freie Herrschaft gestattet, sein Lehrer folgte seinen eigenen Studien. Kirchenpolitik und Kirchenstreitigkeiten im Verein mit einer ausgeprägten Liebe zur Bequemlichkeit lenkten seine Aufmerksamkeit zwar nicht ganz von den Fortschritten ab, die der präsumptive Erbe seines Patrons machte, wirkten aber so viel, ihn jede erdenkbare Ausrede benutzen zu lassen, daß er keine strenge und regelmäßige Aufsicht über dessen Studium führte. Sir Everard war nie Student gewesen und hielt sich gleich seiner Schwester, Miß Rahel Waverley, an den allgemeinen Grundsatz, daß Trägheit sich mit jeder Art des Lesens vertrage, und daß die bloße Verfolgung der Charaktere des Alphabets mit dem Auge eine nützliche und verdienstliche Beschäftigung sei, ohne ängstlich zu erwägen, was für Gedanken oder Lehren diese Charaktere zufällig enthalten. Mit dem Verlangen nach Unterhaltung, welches eine bessere Leitung bald in ernsten Forschungseifer verwandelt haben würde, schiffte daher der junge Waverley durch das Büchermeer wie ein Fahrzeug ohne Pilot oder Steuerruder. Nichts steigert sich vielleicht durch Nachsicht mehr als eine flatterhafte Gewöhnung beim Lesen; ich glaube, ein vorzüglicher Grund, weshalb uns so zahlreiche Beweise gediegener Kenntnisse unter den niedern Ständen begegnen, ist der, daß bei denselben geistigen Kräften der arme Student auf einen geringen Kreis von Büchern beschränkt ist, und daß er deshalb gezwungen ist, sich mit den wenigen, die er besitzt, innig vertraut zu machen, ehe er sich neue anschaffen kann. Edward dagegen las, gleich einem Epikureer, der nur den Theil des Pfirsichs genießt, den die Sonne getroffen, die Bücher nur, so lange sie seine Neugier oder seine Theilnahme reizten. Natürlich wurde durch diese Gewohnheit die Erreichung seines Ziels täglich schwieriger, bis die Leidenschaft zu lesen gleich andern starken Neigungen durch die Befriedigung selbst eine Art von Uebersättigung herbeiführte. Doch ehe er zu dieser Gleichgültigkeit gelangte, hatte er viele wesentliche Kenntnisse, wenn auch ungeordnet und bunt gemischt, in einem ungemein glücklichen Gedächtnisse aufgespeichert. In der englischen Literatur war er vertraut mit Shakespeare und Milton, mit den frühern dramatischen Autoren, mit mancher malerischen und interessanten Schilderung aus alten Chroniken, und besonders wohl vertraut mit Spenser, Drayton und andern Dichtern, die sich an romantischen Schöpfungen versuchten, von allen Aufgaben die bezauberndste für eine jugendliche Einbildungskraft, ehe die Leidenschaften sich erhoben haben, die der sentimentalen Poesie das Feld bereiten. Seine Kenntniß des Italienischen hatte ihn hier noch weiter geführt, als er in der englischen Literatur hätte gelangen können, sie hatte ihn befähigt, die zahlreichen romantischen Gedichte zu durchfliegen, welche seit den Tagen des Pulci eine Lieblingsübung für die geistvollen Köpfe Italiens waren, und Befriedigung in den zahlreichen Novellensammlungen zu suchen, die der Genius jener eleganten aber üppigen Nation in Nacheiferung des Dekamerone hervorgebracht hat. In der klassischen Literatur hatte Waverley die gewöhnlichen Fortschritte gemacht und die gangbaren Autoren gelesen; das Französische bot ihm eine beinahe unerschöpfliche Sammlung von Memoiren, die kaum wahrer als Romane waren, und von Romanen in so vorzüglicher Darstellung, daß sie kaum von Memoiren unterschieden werden konnten. Die glänzenden Schriften von Froissart mit seinen herzbewegenden und sinnbestrickenden Beschreibungen des Krieges und der Turniere zählte er unter seine Lieblinge, und aus denen von Brantome und de la Noue lernte er den wilden und lockeren, doch abergläubischen Geist der Edlen der Ligue mit dem strengen, ernsten und zuweilen unruhigen Sinn der hugenottischen Partei vergleichen. Das Spanische hatte ebenfalls zu seinem Vorrath von ritterlichen und romantischen Kenntnissen beigetragen. Die frühere Literatur der nordischen Nationen entging dem Studium dessen nicht, der mehr las, um die Einbildungskraft zu erwecken als um den Verstand zu bilden. Und dennoch konnte Edward Waverley, obgleich er viel wußte, was nur Wenigen bekannt ist, mit Recht als unwissend betrachtet werden, denn er wußte nur wenig von dem, was die Würde des Menschen erhöht und ihn befähigt, mit Auszeichnung eine höhere Stellung in der Gesellschaft einzunehmen. Die gelegentliche Aufmerksamkeit seiner Eltern hätte ihm allerdings den Dienst leisten können, die Verschwendung des Geistes zu hindern, die mit einer so oberflächlichen Art des Lesens verbunden war, aber seine Mutter starb im siebenten Jahre nach der Aussöhnung zwischen den Brüdern, und Richard Waverley selbst, welcher nach diesem Ereignisse fast nur in London verweilte, war zu sehr mit seinen eigenen Plänen beschäftigt, um von Edward mehr zu bemerken, als daß er eine große Neigung zu Büchern habe und wahrscheinlich dazu bestimmt sei, ein Bischof zu werden. Hätte er seines Sohnes wache Träume entdecken und zergliedern können, er würde einen ganz andern Schluß daraus gezogen haben.


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