Jeremias Gotthelf
Die Käserei in der Vehfreude
Jeremias Gotthelf

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Indessen, trotz dem allem war Eglihannes doch noch besser dran als Felix. Der Erstere konnte seiner Stimmung freien Lauf lassen, der Letztere nicht. Angst und ein anderes Gefühl wechselten ab in Felix wie das Fieber, wo es einem bald heiß wird und bald kalt. Bald wallte die zornige Angst ihm über alle Gedanken auf, er sah Änneli sterben, Eglihannes lachen, er ballte die Fäuste und dachte: Wart du nur, mit Lachen kommst du mir nicht weg, einen Denkzettel sollst du kriegen für dein Lebtag! Dann sah er Ännelis Augen, wie sie auf ihm hafteten, und wie es ihm lächelte, und wie es so seltsam erwacht war, gerade als er geredet, als ob es seine Stimme kennte. Dann ward es ihm so weich und warm im Gemüte, er hätte weinen mögen, und doch war ihm so wohl dabei, wie einem Kranken an der Frühlingssonne. Er konnte verstaunen, daß es war, als hätte er weder Augen noch Ohren, daß er am hellen Tage auf breiter Straße an die Leute anlief, fast unter die Pferde kam, weil er hinter sich das Gerassel der Fuhrwerke nicht hörte. Die Mutter kriegte große Angst, als sie den Zustand ihres Sohnes sah. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, lief ihm allenthalben mit den Fragen nach: »Felix, bist krank? Felix, es fehlt dir, sag mir nur wo? Denke, ich bin deine Mutter, mir kannsts doch wohl sagen, was dir fehlt?« Aber Felix sagte: »Es fehlt mir nichts, was sollte mir fehlen?«, und wenn er die Mutter hinter sich merkte, drückte er sich beiseite, sie spielten ordentlich Jagis.

Der Ammann war nicht zu Hause, kam erst abends wieder. Felix starb fast vor Ungeduld; hätte seine Haut sattsam Loch gehabt, er wäre drausgefahren. Sobald der Vater kam, brachte Felix noch vor der Tür seine Klage an gegen Eglihannes und Landjäger und meinte, der Vater sollte noch heute ins Schloß und Anzeige machen; es nehme ihn doch bei diesem und jenem Wunder, ob bei dieser Hagels Regierung die Lumpenordnung so groß sei, daß man ungestraft Leute töten könne. Der Ammann nahm den Handel kaltblütiger. »Es geht, wie es kann und mag, selb ist; drum die Finger weg, wo man sie nicht haben muß. Ist dSach, wie du sagst, wird der Nägelibodenbauer sich schon zu wehren wissen.« »Ja, Vater, wie wollte er, er war ja nicht dabei!« »Dumm«, sagte der Ammann, »was brauchts das? Desto besser kann er euch zu Zeugen brauchen, und jetzt schweige mir von der Sache; zähl darauf, ich versetze deretwegen keinen Schritt, deinetwegen kann ich genug Läuf und Gänge haben und Kosten dazu, brauche nicht für die Kurzweil fremde Händel. Aber erzähl mir, wie das zu- und hergegangen. Gestern stürmtest, ich konnte mich wenig darauf verstehen.«

Nun sollte Felix erzählen bei nüchternem Leibe und erzählte, und je mehr er erzählte und sich dabei in Zorn werchete, desto kälter wurde es ihm drunten im Herzen. Er fühlte da drunten, daß nicht alles richtig sei und Eglihannes nicht allein schuld. Aber je mehr er das fühlte, desto zornmütiger zu erzählen zwang er sich und hob ganz schauerlich hervor, wie Eglihannes mit Pigger und Gstabi davongefahren und immer mitten im Wege geblieben, wie ihm auch zugerufen worden. »Aber wenn er doch so unvernünftig gefahren, warum ihm noch vorfahren?« fragte der Vater. »Meinst, den hätten wir voranlassen sollen?« fragte Felix. »Und wo fand man das Meitschi?« fragte der Ammann, statt zu antworten. »Ich habe es nicht aufgehoben«, antwortete Felix, »aber ich glaube, beim Hag«. »Also unter deinen Rossen?« sagte der Ammann. »Was weiß ich!« sagte mürrisch Felix, »ich hob es ja nicht auf! War es drunter, so war es von Eglihannesens Kaiben daruntergestoßen worden. « »So«, sagte der Ammann, »ist das so«, stand auf und ging. Das Verhör ward nicht niedergeschrieben, ward nicht veröffentlicht, hatte auf die Welt und ihr Urteil keinen Einfluß, denn bis auf den heutigen Tag wird in der Vehfreude erzählt, wie Eglihannes beinahe ein Mörder geworden und wahrscheinlich einer mit Bewußtsein, doch nicht vorbedacht, wie die superklugen Juristen sich auszudrücken pflegen, gegen welche der Richter im Himmel allgemach sehr ungebildet hinter der Zeit und dem entschiedenen Fortschritt zurück erscheint.

Felix wußte, wie er mit dem Vater dran war, und zudem begann das Gewissen ihn zu plagen, und zwar arg. Die Frau Ammännin hatte es wie üblich, das heißt wie die meisten Weiber. Diese haben nämlich um so größeres Mitleid mit den Söhnen, je verständiger der Vater mit ihnen umgehet, und stehen ihnen um so ängstlicher bei, je weniger sich die Väter bei ihren Dummheiten oder Verkehrtheiten beteiligen wollen. Die Frau Ammännin billigte das Benehmen ihres Mannes durchaus nicht, sie war durchaus gegen eine solche Neutralität; sie hätte nicht geglaubt, daß er ein solcher Höseler und Fösel sei, sagte sie. »Was willst machen?« fragte der Ammann, »sags! Allweg pressierte heute nicht, es ist morgen auch noch ein Tag, derweilen kann man sehen, was es gibt.« Unwillig wandte sich die Frau Ammännin ab, brummte etwas von »altem Tschalpi«, »wunderlichem Trappi«, band sich eine saubere Schürze um und wanderte dem Nägeliboden zu. Sie mußte wissen, wie es dort stand und ob nichts gegen den gehaßten Eglihannes zu machen sei.

Diesmal hielts aber schwer für die Frau Ammännin, bis in den Nägeliboden zu kommen; hätte es ihr nicht so sehr pressiert, vor vierundzwanzig Stunden wäre es nicht geschehen. Aus jedem Hause schoß ein, aus manchem Hause zwei Weiber, schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und riefen: »Gället doch, Ammännin, was man erleben muß! Daß er ein Wüster ist, wußte man längst, aber einen solchen Uflat und Utüfel suchte man doch nicht in ihm, so mutwillig das arme Kind zu verkarren, und ein Solcher ist noch nicht gehängt, nicht einmal in der Käfi! Aber was will man bei dieser Lumpenordnung, es ist ja niemand mehr seines Lebens sicher. Was sagt der Ammann dazu? Will er so etwas gelten lassen?« Aber die Frau Ammännin verstand das Kurzabfertigen, schlug sich tapfer durch und trat ohne langes Klopfen im Nägeliboden ins Haus. Sie fand keine Tote, auch nicht einmal eine Sterbende. Der Arzt, der zweimal dagewesen, hatte gesagt, er glaube nicht, daß Gefahr ums Leben sei, wenn sich nicht noch ein innerer Schaden zeige, was man freilich nicht wissen könne. Das Mädchen sei angegriffen gewesen, grausam erschrocken, aber Tödliches sehe er nichts, und vor einem Nervenfieber hoffe er sein zu können bei guter Ruhe und Abwart. Selb solle nicht fehlen, hatte die Bäuerin gesagt. Wenn es mit diesem zu machen sei, sei dSach gewonnen. Von dem Lärm im Dorfe hatten sie nichts vernommen, da wie bekannt die Freundschaft mit den andern Weibern nicht groß war.

Die Frau Ammännin war freundlich, trat zum Bett und sah mit Wohlgefallen und Mitleiden das schöne Mädchen, welches bei sich selbsten war und reden konnte, wenn auch mit matter Stimme. Die Frau Ammännin sprach ihm freundlich zu, es solle guten Mut fassen, und wenn es nach etwas Verlangen habe, so solle es es ihr sagen, es müsse es haben, wenn es irgend zu haben wäre. Änneli freuten diese Worte und die Frau Ammännin selbst gar, es lächelte und dankte freundlich. Es mangle ihm nichts, sagte es. »Die Schwester ist mein Engel; ehe ich an etwas denke, steht es da.« »He nun«, sagte die Frau, »es wäre gut, es wäre allenthalben so. Hast du etwas nötig?« sagte sie zur Bäuerin; »wo ich dir helfen kann, so sags ohne Umständ, es freut mich, wenn ich was tun kann.« Als verständige Frau säumte sie sich nicht lange. Sie wußte, daß in solchen Fällen mit breitem Gerede niemanden viel gedient ist.

Draußen vor dem Hause stellte sie sich noch einmal und sagte zum Bauer: »Und jetzt, was hast im Sinn mit Eglihannes?« »Denk, nicht viel«, sagte der Bauer. »Mit dem Meitschi steht es hoffentlich nicht so bös. Letzi (bleibenden Schaden) trägt es nicht davon, und wegen einer Entschädnis fange ich keine Händel an. Ich vermag viel besser das Meitschi umsonst krank zu haben als einen Prozeß.« »Der würde doch kurz sein«, sagte die Frau Ammännin, »und Euch nicht viel kosten.« »Man kann nicht wissen«, sagte Sepp. »Was den Advokaten in die Hände kommt, wird alles ungewiß. Dabei ist die Sache nicht so ausgemacht, wie sie scheint. Nehmt es nicht für ungut, aber ich glaube, es würde schwer auszumachen sein, wer an allem schuld ist, vielleicht alle zusammen. Mir scheint, sie hatten alle wohl viel getrunken; wie alle Eglihannes hassen, wißt Ihr. Sie werden ihm haben vorfahren wollen, da wird alles drüber und drunter gegangen sein, daß eigentlich niemand den Hergang weiß, besonders weil es noch Nacht war dazu. War auch schon dabei, weiß, wie es geht. Daher würde es ein schwer Erlesen sein, und wieviel Verdruß und Unmuße dabei, wüßte man nicht. Gewinnt man, wird Eglihannes nicht schlechter, als er schon ist, und ob man dadurch reicher würde, ist die Frage; man kann heutzutage nie wissen, wie einer steht oder wie ein Schelm dem andern aus der Tinte helfen kann.« »Mach, wie du willst«, sagte die Frau Ammännin, »ich will nichts dazu gesagt haben, verstehe mich auf solche Sachen nichts. Gut Nacht, und wenn ich was helfen kann, so sprecht zu ohne Umstände.«

Als sie langsam ums Dorf herumging, um nicht von gwunderigen Weibern angefallen zu werden wie Pferde in einem Blutsaugerteiche von dessen hungerigen Bewohnern, dachte sie zwei Dinge: Das sei ein gut Meitschi, es wäre schade, wenn es nicht am Leben bliebe. Wenn sie es nur erlebte, daß sie einmal eine solche Jungfere bekäme, so eine fleißige und dazu so manierliche; sie stünde ihrem Hause fry wohl an. Der Bauer ging ihr länger im Kopf herum. Erst überschlug sie, ob wohl ihr Mann bereits mit dem Bauer geredet haben könnte, da ja ihre Reden fast auf eins hinausliefen. Sie fand, daß es nicht sein könne. Ihr Mann war ganz von anderer Seite hergekommen, und überdies müßte einer des Andern Erwähnung getan haben, jeder hätte sich sicherlich gern hinter den Andern versteckt oder ihn wenigstens als Autorität angerufen. Oder hat er sich hinter aller Rücken mit dem Eglihannes abgefunden? dachte sie. Kaum, urteilte sie. Eglihannes zahlt ja niemanden einen Kreuzer freiwillig, jeder Tagelöhner und jede Magd muß mit ihm um den Lohn prozedieren, und da es noch dazu dem Meitschi gebessert, so täte er von sich aus keinen Kreuzer. Übrigens hätten es die Weiber gewußt und es mir gesagt, wenn der Nägelibodenbauer und Eglihannes zu einander gekommen und mit einander verhandelt hätten; Beiden brächten sie aus, was sie wüßten. Mich dünkt, es sei bsunderbar gscheit vom Nägelibodenbauer, daß er so sprach, hätte es nicht von ihm erwartet. Felix hatte zu viel Wein, das ist wahr, konnte ja kaum die Tür finden, und besser wird es den Andern nicht gewesen sein, und käme es zu Eiden, so graute mir und ich ließe Felix keinen tun, lieber zahlen, solange etwas da wäre, denn was kann der Mensch geben zum Werte seiner Seele? Es wird viel dran machen, daß es ist, wie mein Mann und Sepp sagen, sagte doch auch Felix, das Mädchen sei unter seinen eigenen Rossen gefunden worden. Das ist brav vom Bauer, daß er an sich selbsten haben will, wofür er eigentlich alle nachnehmen könnte, wenn ich schon dem Eglihannes hätte gönnen mögen, wenn er einmal nach Verdienen hätte herhalten müssen. Aber vergessen muß man nie, daß wer Andern eine Grube gräbt, gern selbst hineinfällt. Hätte nicht geglaubt, daß die im Nägeliboden so wären; es war gut, es wären alle Leute so, aber es soll ihr Schaden nicht sein. Wenn einmal ihre Kinder nachgewachsen sind und sie brauchen das Mädchen nicht mehr, so nehme ich es als Magd, auf den Lohn kommt es mir nicht an. So kalkulierte die Frau Ammännin auf dem Heimweg.

Dem Manne aber teilte sie ihre Gedanken nicht mit, und sie berührte diesen Gegenstand nicht mehr. Das ist aber auch alles, was man einem Weibe zumuten darf. Den Felix suchte sie auf, um ihn zu trösten. »Hör«, sagte sie, »nimm die Sache nicht zu tief. Dem Meitschi geht es besser, ich war im Nägeliboden. Wegen Eglihannes redete ich mit Sepp, er ist ein vernünftiger Mann. Er sei nicht dabei gewesen, sagte er, und wisse nicht, wie es gegangen. Aber er glaube, das Beste sei, er trage den Schaden. Prozedieren gebe nur Ungelegenheit und Kosten, und wenn es Eide geben sollte, könnten Seelen verloren gehen, das möchte er nicht auf dem Gewissen haben.« Felix wollte aufbegehren. Es nehme ihn wunder, ob dem Nägelibodenbauer nicht Beine zu machen seien. »Tue es nicht«, sagte die Mutter. »Bsinn dih, wenn du schwören solltest, wie es dir wäre! Dazu warst trunken. Rede es nicht aus! Ich bin zu alt geworden, um nicht zu wissen, ob einer mehr als genug hat oder nicht. Daneben möchte ich auch nicht sagen, Eglihannes habe keine Schuld. Reden ist erlaubt, und was er denkt, kann ja jeder um so unschinierter sagen, wenn dSach nicht erlesen wird.« Felix mußte sich ergeben, die letzten Worte befriedigten ihn in etwas, ward sich seiner Schuld aber durchaus nicht bewußt, wenn ihm auch die feste Zuversicht wackelte. Schließlich machte er den Vorbehalt, die nächste Gelegenheit zu einem Denkzettel zu benutzen, den Eglihannes sein Lebtag nie vergessen solle. Das war die endliche Resolution.

Es war aber auch die allerärgste für Eglihannes. Alle im ganzen Dorfe redeten von seinen schaudervollen Taten, aber niemand griff ihn an; wo er durchging, sah er verdächtige Gebärden, hörte anzügliche Worte und konnte doch mit nichts was machen, erhielt keinen Griff. Er war wie in einem Schwarm von Hornissen, von denen er aber keine fassen konnte. Er brüllte wie ein Pferd, von Hornissen gestochen, aber all sein Gebrüll änderte an der Sache nichts; er blieb der Besoffene, das Kalb, der Unflat aller Unfläte, der absichtlich ein armes Mädchen überfuhr, und sein Name wird sich nicht ändern, solange er in der Vehfreude genannt wird, und es wäre möglich, daß man nach hundert Jahren den Kindern, welche schreien oder nicht ins Bett wollen, zuriefe: »Wart, der Eglihannes nimmt dich!«

Es würde uns überhaupt nicht wundern, wenn auch unsere Zeit der Nachwelt Kobolde und Spuknamen, mit denen man die Kinder zu Bette jagt, überlieferte. Haben wir doch Leute genug, vor denen uns am hellen Tage graut, wie muß ihr Schatten nach dem Tode den Menschen erscheinen!


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