Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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III.

Nach der Überlieferung soll der Apostel Andreas der Erstberufene, der aus Kijew nach Nowgorod gekommen war, auf einem Boote an der Insel Walaam im Ladoga-See gelandet sein und hier ein steinernes Kreuz errichtet haben. Lange Zeit vor Einführung des christlichen Glaubens in Rußland hatten schon zwei Mönche, die Heiligen Sergius und Hermann, die nach Rußland aus dem Morgenlande gekommen waren, auf der Insel Walaam ein heiliges Kloster gegründet.

Seit jener Zeit leuchtete im wilden Norden der Glaube Christi wie ein Lämpchen in finsterer Mitternacht.

Als die Schweden das Ladoga-Gebiet erobert hatten, verwüsteten sie mehrmals das Walaam-Kloster. Im Jahre 1611 zerstörten sie es gänzlich, so daß kein Stein auf dem andern blieb. Ein ganzes Jahrhundert lang blieb die Insel verödet. Im Jahre 1715 befahl aber Zar Peter durch einen Ukas, das Kloster zu erneuern. Man baute über den Reliquien der heiligen Wundertäter Sergius und Hermann eine kleine Holzkirche zu Ehren der Verklärung Christi und einige armselige Zellen, in die man mehrere Mönche aus dem Kirillo-Bjeloserskij-Kloster versetzte. Das Flämmchen des Christenglaubens leuchtete hier wieder auf, und eine Prophezeiung verkündete, daß es bis zur Wiederkunft Christi nicht wieder verlöschen würde.

Tichon hatte Petersburg in Begleitung eines Mönches aus der Sekte der »Fliehenden« verlassen.

Die »Fliehenden« lehrten, daß die Rechtgläubigen, um sich vor dem Antichrist zu retten, von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort, bis zu den äußersten Grenzen der Erde fliehen müßten. Der Mönch suchte Tichon zu überreden, ihm in ein unbekanntes »Oponj'sches Reich« zu folgen, das auf den siebzig Inseln von Bjelowodje gelegen sei und wo in 179 Kirchen assyrischer Sprache der alte Glaube noch unversehrt fortbestehe; dieses Reich läge hinter Gog und Magog am Rande der Welt, wo die Sonne aufgehe. »Wenn Gott uns gnädig ist, werden wir es in etwa zehn Jahren erreichen,« tröstete ihn der Mönch.

Tichon hatte zwar wenig Vertrauen zu dem Oponj'schen Reiche, folgte aber dem »Fliehenden«, weil es ihm ganz gleich war, wohin und mit wem er ging.

Auf einem Floße erreichten sie Ladoga. Hier bestiegen sie eine »Ssojma«, ein morsches Boot, das nach Sserdobolj fuhr. Auf dem See wurden sie von einem Sturm überrascht. Lange trieben sie auf den Wellen umher und kamen beinahe um. Endlich erreichten sie den Hafen des Walaam-Klosters. Gegen Morgen legte sich der Sturm, aber die Ssojma bedurfte der Ausbesserung.

Tichon wanderte unterdessen auf der Insel umher.

Die Insel bestand ganz aus Granit. Die Ufer erhoben sich über dem Wasser als steile Felsen. Die Bäume konnten in der dünnen Erdschicht über dem Granit nicht Wurzel fassen und waren verkümmert. Dafür wuchs hier das Moos ungewöhnlich üppig; es überwucherte die Tannen wie mit Spinngeweben und hing in langen Flechten von den Fichtenstämmen herab.

Der Tag war heiß und nebelig. Der Himmel war von einem milchigen Weiß, durch das ganz schwach ein nebeliges Blau hindurchschimmerte. Das Wasser des spiegelglatten Sees floß mit dem Himmel zusammen, so daß man nicht unterscheiden konnte, wo das Wasser aufhörte und wo der Himmel begann; der Himmel sah wie ein See, und der See wie ein Himmel aus. Es herrschte eine atemlose Stille; selbst die Vögel schwiegen. Diese heilige Wüste, dieses strenge und zärtliche nordische Paradies umfing die Seele mit überirdischer Stille und ewiger Ruhe.

Tichon erinnerte sich an das Lied, das er in den Wäldern von Dolgije-Mchi gesungen hatte:

Oh, liebliches Mütterchen Wüste!
Will gehen durch Wälder und Sümpfe,
Will ziehen durch Berge und Höhlen . . .

Er erinnerte sich auch an die Worte eines der Mönche von Walaam:

»Gottes Segen ruht auf unserer Insel! Man kann drei Tage lang im Walde bleiben, und doch trifft man weder ein Raubtier noch einen bösen Menschen. Man ist ganz allein mit Gott!«

Er wanderte lange umher, entfernte sich weit vom Kloster und verirrte sich. Der Abend brach an. Er fürchtete, daß die Ssojma ohne ihn weiterfahren würde.

Um sich umzusehen, stieg er auf einen hohen Berg. Die Abhänge waren dicht mit Tannen bewachsen. Auf dem Gipfel war eine runde Wiese, auf der lila-rotes Heidekraut blühte. In der Mitte der Wiese stand ein schwarzer Stein in Gestalt einer Säule.

Tichon war müde geworden. Er entdeckte am Rande der Wiese zwischen den Tannen eine Vertiefung im Felsen, die wie eine mit weichem Moose gepolsterte Wiege war, legte sich hinein und schlief ein.

Er erwachte in der Nacht. Es war fast ebenso hell wie am Tage. Es war nur noch stiller. Die Ufer der Insel spiegelten sich im Wasser des Sees so klar, daß man auch den letzten kreuzförmigen Wipfel der spitzen Tannen erkennen konnte, und es schien, als ob dort unten eine zweite Insel, die der oberen ganz ähnlich, nur umgekehrt wäre, läge, und als ob die beiden Inseln zwischen zwei Himmeln hingen. Auf dem Steine mitten auf der Wiese kniete ein Greis, den Tichon nicht kannte; es war wohl ein Einsiedler. Seine unbewegliche Silhouette hob sich schwarz vom rosig goldenen Himmel ab, als ob er aus dem gleichen Stein, auf dem er stand, gemeißelt wäre, sein Gesicht drückte eine so tiefe Verzückung des Gebets aus, wie Tichon sie noch auf keinem Menschenantlitz gesehen hatte. Ihm schien es, daß die ringsum herrschende Stille von diesem Gebet ausginge und daß der Wohlgeruch des lila-roten Heidekrauts nur um dieses Gebetes willen wie Weihrauch zum rosig goldenen Himmel emporstiege.

Ohne zu atmen und ohne sich zu rühren, blickte er lange auf den Betenden; er betete mit ihm, verlor in der unendlichen Süße des Gebets die Besinnung und schlief wieder ein.

Bei Sonnenaufgang erwachte er wieder.

Der Stein war jetzt leer. Tichon ging auf ihn zu und entdeckte im dichten Heidekraut einen kaum wahrnehmbaren Fußpfad, der ihn in ein von Felsen eingeschlossenes Tal hinabführte. Unten war ein Birkenwäldchen, und in der Mitte des Wäldchens lag eine Wiese mit hohem Gras. Ein unsichtbares Bächlein murmelte wie ein plauderndes Kind.

Auf der Wiese stand ein Mönch, derselbe, den Tichon nachts gesehen hatte, und fütterte aus der Hand mit Brot eine Elchkuh mit einem drolligen Kälbchen.

Tichon sah es und traute seinen Augen nicht. Er wußte, wie scheu die Elche und besonders die Elchkühe sind, die eben gekalbt haben. Es war ihm, als sähe er das tiefe Geheimnis jener Tage, wo Mensch und Tier zusammen im Paradiese gelebt hatten.

Nachdem die Elchkuh das Brot aufgefressen hatte, begann sie dem Greis die Hand zu lecken. Er bekreuzigte sie, küßte sie auf die zottige Stirne und sagte leise und zärtlich:

»Der Herr sei mit dir, Mütterchen!«

Das Tier wandte sich plötzlich scheu um, fuhr zusammen und flüchtete mit seinem Jungen in die Tiefe der Schlucht, so daß es im Walde nur so krachte; wahrscheinlich hatte es Tichon gewittert.

Er ging auf den Greis zu und sagte:

»Segne mich, Vater!«

Der Greis bekreuzigte ihn ebenso zärtlich, wie er soeben das Tier gesegnet hatte.

»Der Herr sei mit dir, mein Kind. Wie heißt du denn?«

»Tichon.«

»Tichon»Ticho« heißt russisch »still«. ist ein stiller Name, woher hat dich Gott hergeführt? Dieser Ort ist mit Wald bewachsen, einsam und den Kindern der Welt schwer zugänglich. Gar selten sehen wir hier Gottes Pilger.«

»Wir fuhren von Ladoga nach Sserdobolj,« antwortete Tichon. »Der Sturm hat unsere Ssojma an die Insel verschlagen. Gestern ging ich in den Wald und verirrte mich.«

»Hast du auch im Walde übernachtet?«

»Ja, im Walde.«

»Hast du auch ein Stück Brot bei dir? Bist du hungrig?«

Tichon hatte das Stück Brot, das er mitgenommen, am Abend vorher verzehrt und spürte jetzt Hunger.

»Nun, komm mit in meine Zelle, Tischenjka. Ich will dir zu essen geben, was mir Gott gesandt hat.«

P. Sergius – so hieß der Einsiedler – war, nach seinem stark ergrauten, einst schwarzen Haar zu schließen, wohl über fünfzig Jahre alt; aber sein Gang und alle seine Bewegungen waren so schnell und leicht wie die eines zwanzigjährigen Jünglings; sein Gesicht war trocken, ausgemergelt, doch ebenfalls jugendlich; er kniff seine braunen, etwas kurzsichtigen Augen ständig zusammen, was ihm den Ausdruck verlieh, als ob er ein schelmisches, fast listiges Lächeln nicht unterdrücken könnte; es sah so aus, als ob er etwas Lustiges, was die andern nicht kannten, von sich selbst wüßte, daß er es gleich erzählen würde, wodurch alle erfreut sein würden. Zugleich lag aber in seiner Heiterkeit auch jene Stille, die Tichon auf seinem Gesicht während des nächtlichen Gebets wahrgenommen hatte.

Sie gingen auf den steilen Granitfelsen zu. Hinter einem windschiefen, halbumgefallenen Zaun lagen Gemüsebeete. In einer Felsspalte befand sich die von der Natur selbst geschaffene Zelle: drei Wände bestanden aus Felsen, die vierte, mit dem kleinen Fenster und der Türe, war aus roh behauenen Balken hinzugebaut. Über der Tür hing ein vor Alter schwarz gewordenes Bild der Wundertäter von Walaam, der Heiligen Sergius und Hermann. Das Dach bestand aus Erde; es war mit Moos und Birkenrinde bedeckt und von einem hölzernen, achtspitzigen Kreuz bekrönt. Die Mündung des Tales, das zum See hinablief, war von einer Sandbank abgeschlossen, die von dem im Talgrunde fließenden und hier in den See mündenden Bach angeschwemmt worden war. Am Ufer waren an Pfählen Netze und Fischreusen zum Trocknen aufgehängt, hier gewahrte Tichon einen andern Einsiedler in einer geflickten Kutte aus grauem Bauerntuche, die mehr einem Bettlergewand glich. Er stand mit bloßen Füßen bis an die Kniee im Wasser und war mit dem Ausbessern und Teeren des Bodens eines umgewendeten Bootes beschäftigt; der Alte war kräftig gebaut und breitschulterig und hatte ein wetterhartes Gesicht mit Überresten grauer Haare um den kahlen Kopf. »Ein echter Petrus der Fischer,« dachte sich Tichon. Es roch nach Tannenholz, Wasser, Fischen und Teer.

»Lariwonuschka!« rief P. Sergius.

Der Alte sah sich um, hörte sofort auf zu arbeiten, ging auf sie zu und verneigte sich stumm vor Tichon bis zur Erde.

»Fürchte dich nicht, mein Sohn,« beruhigte P. Sergius mit seinem schelmischen Lächeln Tichon, der verlegen wurde. »Nicht nur vor dir allein, sondern vor allen Menschen und selbst vor kleinen Kindern verneigt er sich bis zur Erde. So groß ist eben seine Demut! Lariwonuschka, bereite das Essen, wir müssen den Pilger Gottes speisen.«

P. Ilarion stand vom Boden auf und musterte Tichon mit einem demütigen doch strengen Blick. »Liebe alle und fliehe alle,« dieser Ausspruch des großen Einsiedlers von Thebais, des heiligen Abba Arsenius, lag in diesem Blick.

Die Zelle bestand aus zwei Teilen: einer winzigen Wohnkammer und einer Höhle im steinernen Felsen; an den Wänden der Kammer hingen Heiligenbilder, die ebenso freudig aussahen, wie P. Sergius selbst; hier war die Muttergottes die »Freudige«, die »Gnädige«, die »wohlriechende Blüte«, der »Benedeite Leib«, die »Lebensspenderin« und die »Unerwartete Freude«; vor der letzteren, die P. Sergius besonders liebte, brannte ein Lämpchen. In der Höhle, die so finster und eng wie ein Grab war, standen zwei Särge mit Steinen statt Kopfpolstern. In diesen Särgen pflegten die beiden Einsiedler zu schlafen.

Man setzte sich an den Tisch, – ein nacktes Brett, das auf einem moosbewachsenen Fichtenklotz lag. P. Ilarion brachte Brot, Salz, Holzschalen mit gehacktem Sauerkraut, Salzgurken, einer Pilzsuppe und einem Aufguß wohlriechender Waldkräuter.

P. Sergius und Tichon aßen schweigend, während P. Ilarion den Psalm las:

»Aller Augen warten auf Dich und Du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit.«

Nach dem Essen ging P. Ilarion wieder das Boot teeren. P. Sergius und Tichon setzten sich auf die Steinstufen vor dem Eingänge zur Höhle, vor ihnen breitete sich der See aus, der immer noch so still, glatt und blaßblau war, und in dem sich die weißen, runden, großen Wolken spiegelten, so daß er wie ein zweiter, unterer Himmel aussah, der dem oberen vollkommen glich.

»Wanderst du, um ein Gelübde zu erfüllen, mein Kind?« fragte P. Sergius.

Tichon sah ihn an und fühlte das Bedürfnis, ihm die ganze Wahrheit zu sagen.

»Es ist ein großes Gelübde, das ich erfüllen will: ich suche die wahre Kirche . . .«

Und er erzählte ihm sein ganzes Leben, von seiner Flucht vor dem Antichrist an bis zu seiner letzten Lossagung von der toten Kirche.

Als er zu Ende war, saß P. Sergius lange schweigend da, das Gesicht mit den Händen bedeckend; dann stand er auf, legte seine Hand auf Tichons Kopf und sagte:

»Der Herr sprach: ›Wer zu mir kommt, den weise ich nicht ab.‹ Gehe also mit Frieden zum Herrn, mein Kind. Fürchte dich nicht, mein Lieber: Du wirst die Kirche finden, du wirst die Kirche finden, du wirst die wahre Kirche finden!«

In diesen Worten lag eine solche prophetische Kraft und Macht, als ob er nicht aus sich selbst heraus redete.

»Habe Erbarmen, Vater!« rief Tichon aus, ihm zu Füßen fallend. »Nimm mich bei dir als Novizen auf, gestatte mir, mit euch in eurer Einöde zu leben!«

»Du kannst hier leben, mein Kind, Gott segne dich!« sagte P. Sergius, ihn umarmend und küssend. »Tischenjka ist ja still und wird unser stilles Leben nicht stören,« fügte er mit seinem gewohnten heiteren Lächeln hinzu.

So blieb Tichon in der Einöde bei den beiden Alten.

P. Ilarion war ein strenger Büßer. Manchmal nahm er wochenlang keinen Bissen Brot zu sich. Er lebte von der Rinde, die er von den großen Fichten abriß, trocknete, in einem Mörser zerstampfte und mit Mehl vermengt buk. Wasser trank er nur aus warmen und fauligen Pfützen. Im Winter betete er, bis an die Kniee im Schnee stehend. Im Sommer stand er nackt im Sumpfe und ließ sich von den Mücken halb auffressen. Er wusch sich niemals und begründete es mit den Worten des heiligen Isaak des Syrers: »Entblöße keines von deinen Gliedern. Wenn du dich aber jucken mußt, so umwickele deine Hand mit dem Hemd oder einem Lappen und kratze dich so; niemals darfst du aber mit der Hand deinen nackten Körper berühren und niemals deine Scham schauen, und wenn sie dir auch abfault«, P. Ilarion erzählte Tichon von seinem früheren Lehrer, dem Mönche des Kyrillo-Bjeloserskij-Klosters, P. Trifon, den man den »Unflätigen« nannte, »weil er durch seine fromme Unflätigkeit der Gnade teilhaftig wurde, in die Zukunft zu schauen.« – »Dieser Trifon hatte sich, so lange er lebte, weder auf die Füße noch auf den Kopf Wasser gegossen, und doch hatte er keine Läuse, worüber er jammerte: ›Dafür werden mich im Jenseits die Läuse wie die Mäuse fressen.‹« Dieser selbe Trifon betete Tag und Nacht unaufhörlich das Vaterunser, so daß sich seine Lippen aus Gewohnheit unablässig bewegten; vom ständigen Bekreuzigen hatte er auf der Stirne ein blaues Mal und eine Wunde; wenn er die Stundengebete, die Frühmesse oder die Vesper sang, so weinte er dabei so sehr, daß er vor lauter Tränen ohnmächtig wurde. Vor seinem Tode war er sieben Tage und sieben Nächte schwer krank, stieß aber keinen Seufzer und keinen Laut aus und verlangte auch kein einziges Mal zu trinken. Wenn jemand zu ihm kam und ihn fragte: »Väterchen, bist du nicht schwer krank?« so antwortete er: »Es ist mir wohl!« – Einmal trat P. Ilarion so leise, daß er es nicht hören konnte, an sein Lager und hörte, wie er mit den Lippen kaum vernehmbar schmatzte und leise flüsterte: »Ach, wenn ich mich satt trinken könnte!« – »Willst du trinken, Väterchen?« fragte ihn P. Ilarion. P. Trifon antwortete aber: »Nein, ich will nicht.« Daraus merkte P. Ilarion, daß P. Trifon sich mit dem großen Durst peinigte und dies seine letzte Selbstkasteiung war.

Trotz aller dieser Fasten, Mühen und Taten war es dem Menschen, wie P. Ilarion meinte, fast unmöglich, sein Seelenheil zu retten. Nach dem Gesicht irgend eines Heiligen kamen von dreißigtausend Seelen Verstorbener nur zweitausend ins Paradies, und die übrigen in die Hölle.

»Mächtig ist der Teufel, ach, so mächtig!« seufzte er zuweilen so zerknirscht, daß man zweifeln mußte, wer stärker wäre und wer siegen würde: Gott oder der Teufel?

Zuweilen hatte Tichon den Eindruck, daß P. Ilarion, wenn er seine Gedanken zu Ende denken würde, zu den gleichen Schlußfolgerungen gelangen müßte wie die Prediger des Roten Todes.

P. Sergius war in allen Dingen P. Ilarion entgegengesetzt. »Die übermäßige und unvernünftige Enthaltsamkeit,« lehrte er, »schadet mehr als Völlerei. Ein jeder soll das Maß der Speisen für sich selbst festsetzen. Man soll von allen Speisen, und selbst von den süßen, ein wenig genießen, denn dem Reinen ist alles rein, alles, was Gott erschaffen, ist gut, und keine Speise hat vor der andern einen Vorzug.«

Er sah das Heil nicht in äußeren körperlichen Werken, sondern in inneren »klugen Taten«. Jede Nacht betete er auf dem Steine, unbeweglich wie eine Bildsäule knieend. Tichon sah aber in dieser Unbeweglichkeit einen rasenderen Flug als im wahnsinnigen Tanze der Chlysty.

»Wie soll man beten?« fragte er einmal P. Sergius.

»Deine Gedanken sollen dabei schweigen,« antwortete dieser, »und du sollst in die Tiefe deines Herzens blicken und sprechen: ›Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner!‹ Und so sollst du beten im Stehen, Sitzen oder Liegen, den Verstand im Herzen verschließend und den Atem so lang als möglich zurückhaltend, um möglichst wenig Atemzüge zu tun. Zuerst wirst du in dir eine große Finsternis und Härte finden und im äußeren Gebet ein gewisses Hindernis, wie eine eherne Mauer zwischen dir und Gott erkennen. Du sollst aber nicht verzagen, immer eifriger beten, und die eherne Mauer wird stürzen. Und dann wirst du in deinem Herzen ein unaussprechliches Licht sehen. Dann werden deine Worte verstummen, und alle deine Gebete und Seufzer, Kniebeugungen, Stoßseufzer und süße Klagen aufhören. Dann wird eine tiefe Stille anbrechen. Dann wird eine große Verzückung über dich kommen, und du wirst nicht mehr wissen, ob du einen Körper hast oder nicht. Dann wirst du Gott schauen und vor Ihm erschaudern. Dann sind Mensch und Gott eins. Dann wird das Wort des Propheten in Erfüllung gehen: ›Vereinigen wir uns mit Gott und kommen wir zur Erkenntnis!‹ Das ist das kluge Gebet, mein Kind!«

Tichon merkte, daß P. Sergius, wenn er redete, ebenso trunkene Augen hatte wie die »Kindlein Gottes«: der Rausch war aber bei ihnen kurz und rasend, bei P. Sergius dagegen ewig, still und gleichsam nüchtern.

P. Ilarion und P. Sergius waren in ihrem Geiste so sehr von einander verschieden, daß man glaubte, sie würden sich gar nicht vertragen können; und doch vertrugen sie sich immer.

»P. Sergius ist ein auserwähltes Gefäß!« pflegte P. Ilarion zu sagen. »Gott hat ihn zu großen und mich zu niedrigen Diensten auserkoren; er ist von Adel, und ich bin von gemeinem Stande; ihm wird alles vergeben, und ich muß für alles Antwort stehen; er fliegt dahin wie ein Adler, ich krieche wie eine Ameise. Daß er seine Seele retten wird, das steht schon fest; ob ich aber die meinige retten werde, weiß Gott allein. Wenn ich zugrunde gehe, werde ich mich am Rockschoße des P. Ilarion festhalten, und er wird mich herausziehen!«

»P. Ilarion ist ein fester Stein, eine Säule der Rechtgläubigkeit, eine unerschütterliche Mauer,« sagte P. Sergius ein anderes Mal. »Ich aber bin ein Blatt, das im Winde schwankt. Ohne ihn wäre ich längst verloren und von den Überlieferungen der Väter abgefallen. Nur durch seine Hilfe halte ich mich noch aufrecht. Unter seinem Schutze bin ich sicher wie im Busen Christi!«

P. Sergius erzählte dem P. Ilarion nichts von seinem ersten Gespräch mit Tichon. Dieser erriet aber alles und witterte in ihm den Ketzer wie das Schaf den Wolf wittert. Einmal belauschte Tichon zufällig ein Gespräch der beiden Alten.

»Habe Geduld mit ihm, Lariwonuschka!« flehte P. Sergius. »Habe Geduld, um Christi willen! Lasse Frieden und Liebe walten . . .«

»Was für ein Frieden ist mit einem Ketzer möglich?« entgegnete P. Ilarion. »Man soll mit ihm bis zum Tode kämpfen und sich seinem verderbten Geiste nicht fügen. Seinen Feind soll man lieben, aber nicht den Feind Gottes. Den Ketzer soll man fliehen und zu ihm nicht vom rechten Glauben sprechen, sondern auf ihn nur spucken. Bei Gott, ein Ketzer ist schlimmer als ein Hund und ein Schwein! Er sei verflucht! Anathema!«

»Habe Geduld, Lariwonuschka! . . .« wiederholte P. Sergius mit unendlichem, aber ohnmächtigem Flehen, als zweifelte er selbst an seinem Rechte.

Tichon ging zur Seite. Er hatte plötzlich eingesehen, daß er von P. Sergius vergeblich Hilfe erhoffte und daß dieser große Heilige, der vor Gott ebenso mächtig dastand wie ein Engel, vor den Menschen schwach war wie ein Kind.

Einige Tage darauf saßen P. Sergius und Tichon wieder auf den Steinstufen vor dem Eingang zur Höhle, so wie sie am ersten Tage gesessen hatten. Sie waren allein. P. Ilarion war mit seinem Boote hinausgefahren, um Fische zu fangen.

Es war eine schwüle, weiße Nacht, aber der Himmel war von Gewitterwolken bedeckt. In den letzten Tagen war immer ein Gewitter im Anzuge gewesen, aber nicht zum Ausbruch gekommen. Auf Erden herrschte eine Totenstille. Am Himmel flogen stürmische und schnelle, doch gleichfalls stumme Wolken dahin, – als ob stumme Riesen in den Kampf zögen. Zuweilen erscholl ein leiser, ferner, gleichsam unterirdischer Donner, der sich wie das Brummen eines schlafenden Tieres anhörte. Blasses Wetterleuchten zuckte ab und zu auf, als ob die Nacht vor Entsetzen zusammenfahre. Und bei jedem Aufleuchten zeichneten sich im Widerscheine der weißen Flammen bis auf die letzten kreuzförmigen Wipfel der spitzen Tannen klar und deutlich alle Umrisse der Insel, sie spiegelten sich im Wasser, so daß man dort unten eine zweite Insel sah, die der oberen ähnlich, nur umgekehrt war, und beide Inseln schienen zwischen den beiden Himmeln zu hängen, wenn das Wetterleuchten erlosch, versank alles wieder in Finsternis und Totenstille; man hörte nur noch gleichsam das Brummen des schlafenden Tieres.

Tichon schlief, P. Sergius blickte in die dunkle, gewitterschwangere Ferne und sang eine Hymne an den süßesten Heiland. Und die leisen Worte des Gebets flossen mit dem leisen Dröhnen des Donners in eins zusammen:

Jesu, unbesiegbare Kraft,
Jesu, unendliche Gnade,
Jesu, strahlende Schönheit,
Jesu, unaussprechliche Liebe,
Jesu, Sohn des lebendigen Gottes,
Jesu, erbarme dich meiner!

Tichon fühlte, daß P. Sergius ihm etwas sagen wollte, sich aber dazu nicht entschließen konnte. Tichon konnte im Finster sein Gesicht nicht sehen; sooft aber ein Wetterleuchten aufflammte, blickte er es an, und es erschien ihm so traurig wie noch nie.

»Vater!« brach Tichon als erster das Schweigen, »ich werde bald von euch weggehen . . .«

»Wo willst du denn hin, mein Kind?«

»Ich weiß es noch nicht, Vater. Es ist mir ganz gleich. Ich gehe hin, wohin meine Augen schauen . . .«

P. Sergius ergriff seine Hand, und Tichon hörte sein zitterndes leises Flüstern:

»Kehre zurück, Kind, kehre zurück! . . .«

»Wohin?« fragte Tichon, und plötzlich befiehl ihn, er wußte selbst nicht warum, ein Grauen.

»Ins Kirchlein, ins Kirchlein!« flüsterte P. Sergius immer zärtlicher, immer zitternder.

»In welche Kirche, Vater?«

»Ach, diese Versuchung, diese Versuchung!« seufzte P. Sergius auf und sprach mit großer Anstrengung zu Ende:

»In die einige, heilige, apostolische . . .«

In diesen Worten lag aber eine so leblose Schwere und Trägheit, als ob er sie nicht aus sich selbst spräche, sondern jemand anderer ihn zum sprechen zwänge.

»Wo ist aber diese Kirche?« stöhnte Tichon mit unaussprechlicher Qual.

»Ach, du Ärmster! Wie willst du denn ohne Kirche leben? . . .« flüsterte P. Sergius mit einer Qual, die die Qual Tichons widerspiegelte und ihr gleich war. Tichon fühlte heraus, daß der Alte ihn begriffen hatte.

Ein Wetterleuchten flammte auf. Tichon sah das Gesicht des Alten, das hilflose Lächeln auf seinen zitternden Lippen, die mit Tränen gefüllten weitgeöffneten Augen und begriff, warum er solches Grauen empfand: es graute ihm, weil dieses Gesicht einen so jammervollen Ausdruck haben konnte.

Tichon sank in die Kniee und streckte seine Hände in der letzten Hoffnung und in der äußersten Verzweiflung nach P. Sergius aus.

»Rette, hilf, schütze! Siehst du es denn nicht? Die Kirche geht zugrunde, der Glaube geht zugrunde, das ganze Christentum geht zugrunde! Schon geht das Geheimnis der Gesetzlosigkeit in Erfüllung, schon herrscht der Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte, schon naht der Antichrist. Erhebe dich, Vater, zu der großen Tat, ziehe in die Welt hinaus zum Kampf mit dem Antichrist!«

»Was sprichst du, was sprichst du, Kind? Wie komme ich armer Sünder dazu?« stammelte P. Sergius in demütigem Schrecken.

Und Tichon begriff, daß all sein Flehen vergeblich war und daß P. Sergius die Welt für immer verlassen hatte, so wie die Toten die Lebendigen verlassen. Tichon erinnerte sich an die schrecklichen Worte: »Liebe alle und fliehe alle.« – »Und wenn es wirklich so ist, was dann?« fragte er sich, zu Tode betrübt, »Wenn man wirklich eines von beiden wählen muß: entweder Gott ohne die Welt oder die Welt ohne Gott?«

Er fiel auf die Erde und lag lange unbeweglich da, und merkte nicht, wie ihn der Alte umarmte und tröstete.

Als er zu sich kam, war P. Sergius nicht mehr bei ihm; er war wohl auf den Berg beten gegangen.

Tichon erhob sich, ging in die Zelle, zog seine Wanderkleider an, nahm den Ranzen auf die Schulter, hing sich das Bildchen der heiligen Sophia, der Allweisheit Gottes, um den Hals, nahm den Stock, bekreuzigte sich und ging in den Wald, um seine ewige Wanderung fortzusetzen.

Er wollte fortgehen, ohne Abschied zu nehmen, denn er fühlte, daß der Abschied beiden zu schwer fallen würde.

Um aber P. Sergius noch zum letzten Mal, wenn auch aus der Ferne zu sehen, ging er auf den Berg.

Der Greis betete wie immer auf dem Steine inmitten der Waldwiese.

Tichon fand die Vertiefung im Felsen, die wie eine mit weichem Moos gepolsterte Wiege war und in der er seine erste Nacht auf der Insel verbracht hatte, legte sich hin und schaute lange auf die unbewegliche dunkle Gestalt des Betenden, auf die blendend weißen Flammen des Wetterleuchtens und auf die stumm dahinjagenden stürmischen Wolken.

Endlich fiel er in den gleichen Schlaf, den die Jünger des Herrn schliefen, als ihr Meister sich einen Steinwurf weit von ihnen entfernt hatte, um zu beten und sie, als er zu ihnen zurückkehrte, »vor Traurigkeit« schlafend antraf.

Als er erwachte, war die Sonne schon aufgegangen, und P. Sergius war nicht mehr zu sehen. Tichon näherte sich dem Stein und küßte die Stelle, auf der die Füße des Alten gestanden hatten. Dann stieg er vom Berge herab und ging auf einsamen Pfaden durch das Waldesdickicht dem Walaam-Kloster zu.

Nach dem schweren Schlaf fühlte er sich zerschlagen und schwach wie nach einer Ohnmacht. Es war ihm, als ob er noch immer schlafe, als ob er aufwachen wollte und es nicht konnte. Er empfand jene schreckliche Beklemmung, wie vor jedem epileptischen Anfalle. Der Kopf schwindelte ihm. Seine Gedanken waren durcheinander geraten. In seinem Geiste regten sich Bruchstücke ferner Erinnerungen. Bald hörte er Pastor Glück die Worte Newtons vom Ende der Welt wiederholen: »Der Komet wird auf die Sonne herabstürzen, und die Sonnenglut wird von diesem Sturze dermaßen anwachsen, daß alles was auf Erden ist, durch Feuer vertilgt werden wird. Hypothesos non fingo! Ich stelle keine Hypothesen auf!« Bald klang ihm das traurige Lied der Grableger in den Ohren:

Särge, ihr Särge, aus Eichenklötzen,
Ewige Wohnungen seid ihr für alle . . .

Bald hörte er den letzten Aufschrei der Selbstverbrenner in der brennenden Kapelle: »Siehe, der Bräutigam kommt um Mitternacht!« Bald sah er den rasenden weißen Strudel des Tanzes und hörte die durchdringenden Schreie: »Eva – evo! Eva – evo!«

Auch das leise Wimmern Iwanuschkas, des makellosen Lammes unter dem Messer des Awerjanka Bespalyj; die stillen Worte Spinozas von der »vernünftigen Liebe zu Gott – amor dei intellectualis«; die Eidesformel des Geistlichen Reglements an den Selbstherrscher aller Reußen als an Christus selbst; die strenge Demut des P. Ilarion: »Liebe alle und fliehe alle!« Und das zärtliche Flüstern des P. Sergius: »Ins Kirchlein, ins Kirchlein, mein Kind!«

Für einen Augenblick kam er wieder zur Besinnung. Er sah sich um und gewahrte, daß er vom Wege abgekommen war.

Lange suchte er den Pfad, der sich im Heidekraut verloren hatte, schließlich verirrte er sich ganz und ging aufs Geratewohl weiter.

Das Gewitter hatte sich verzogen. Die Wolken hatten sich zerstreut. Die Sonne brannte. Ihn quälte der Durst. In dieser Wüste von Granit und Nadelholz gab es aber keinen Tropfen Wasser, nichts als trockene, spinnengraue Moose, Flechten, Farnkräuter und dürre graue, mit Moos wie mit Spinngewebe überwucherte Fichten; ihre allzu dünnen, oft angebrochenen Stämme erhoben sich in den Himmel wie abgemagerte kranke Beine und Arme mit rötlicher, entzündeter, sich leicht abschälender Haut. Die Luft zwischen ihnen zitterte vor Hitze. Und über allem hing der erbarmungslose Himmel wie eine weißglühende Kupferplatte. Es herrschte eine Totenstille. Und in dieser blendend funkelnden Mittagsstille lag ein grenzenloses Grauen.

Er schaute sich wieder um und erkannte die Stelle, wo er schon so oft gewesen und an der er erst heute früh vorbeigekommen war. Am Ende eines Walddurchhaues, einer vielleicht noch von den Schweden angelegten, aber längst vergessenen und von Heidekraut überwucherten Straße glänzte der See. Diese Stelle lag nicht weit von der Zelle des P. Sergius. Als er sich verirrt hatte, war er wohl im Kreise herumgegangen und zu der Stelle zurückgekehrt, von wo er ausgegangen war. Er spürte tödliche Ermüdung, als ob er Tausende von Werst zurückgelegt hätte, als ob er seit jeher auf der Wanderung gewesen wäre und immer weiter gehen müßte. Er fragte sich, wohin er ging und wozu. In das unbekannte Oponj'sche Reich oder in die unsichtbare Stadt Kitesh, an die er selbst nicht mehr glaubte?

Ganz erschöpft, ließ er sich auf die Wurzeln einer trockenen Fichte nieder, die einsam über das niedere Gestrüpp ragte. Er hatte ja kein Ziel mehr. Er wollte nichts, als hier immer mit geschlossenen Augen, unbeweglich liegen, bis der Tod kommen würde.

Ihm fielen die Worte ein, die er von einem der Prediger des neuen Glaubens der »Verneiner«, die jedes Ja der Kirche mit einem Nein beantworteten, gehört hatte: »Es gibt keine Kirche, es gibt kein Priestertum, es gibt keine Gnade und es gibt keine Sakramente – dies alles ist in den Himmel zurückgenommen worden.« – Es gibt nichts, es gab nichts und es wird nichts geben, dachte sich Tichon. – Es gibt keinen Gott, es gibt keine Welt. Alles ist zugrunde gegangen, alles ist zu Ende. Es gibt sogar kein Ende. Es gibt nur die Unendlichkeit des Nichtseins.

Lange lag er wie in einer Ohnmacht da. Plötzlich kam er zu sich, schlug die Augen auf und sah, daß eine riesengroße blauschwarze Wolke mit weißlichen Flecken, die wie Eiterbeulen auf einem blauangelaufenen und aufgedunsenen Körper aussahen, vom Osten her aufgestiegen war und bereits den halben Himmel überzogen hatte. Ganz langsam, wie eine Riesenspinne mit einem Hängebauch und zottigen krummen Beinen, kroch sie an die Sonne heran und streckte ein Bein nach ihr aus, – und die Sonne erbebte und erlosch. Über die Erde liefen graue Spinnenschatten, und die Luft wurde trüb und klebrig wie Spinnengewebe. Eine erstickende Glut wie aus dem geöffneten Rachen des Tieres schlug ihm entgegen.

Tichon war nahe daran zu ersticken; das Blut pochte in seinen Schläfen; es war ihm finster vor den Augen; vor großer Mattigkeit, die wie die letzte Ohnmacht der Sterbestunde war, überrieselte kalter Schweiß seinen ganzen Körper. Er wollte aufstehen, um sich zur Zelle des P. Sergius zu schleppen und bei ihm zu sterben, aber er hatte nicht die Kraft dazu; er wollte aufschreien, aber seine Stimme versagte.

Plötzlich leuchtete in weiter Ferne, ganz am Ende des Durchhaues, auf der blauschwarzen Wolke etwas wie eine von der Sonne beleuchtete weiße Taube auf. Es begann zu wachsen und kam immer näher. Tichon blickte genauer hin und erkannte endlich einen schlohweißen alten Mann, der durch den Durchhau auf ihn zuging; er nahte mit so leichten und schnellen Schritten, als ob er durch die Luft flöge.

Er kam zu ihm heran und setzte sich neben ihn auf die Fichtenwurzeln. Tichon war es, als ob er ihn schon einmal gesehen hätte; er konnte sich nur nicht erinnern, wann und wo. Der alte Mann sah ganz einfach aus und erinnerte an einen von den Pilgern, die mit Ikonen von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf durch Kirchen und Klöster ziehen und Gaben zum Bau einer neuen Kirche sammeln.

»Freue dich, Tischenjka, freue dich!« sagte er mit leisem Lächeln, und seine Stimme klang so leise wie das Summen von Bienen oder wie ein fernes Glockengeläute.

»Wer bist du?« fragte Tichon.

»Ich bin Iwanuschka. Hast du mich nicht erkannt? Der Herr hat mich zu dir gesandt und kommt auch bald selbst her.«

Der Greis legte die Hände auf Tichons Haupt, und dieser fühlte sich plötzlich so geborgen, wie ein Kind in den Armen der Mutter.

»Bist wohl müde, du Ärmster? Ich habe viele euresgleichen, ich habe viele Kinderchen. Ihr zieht über die Welt arm und elend, ihr leidet Kälte und Hunger, Leid und Bedrängnis und grausame Verfolgung. Fürchtet Euch aber nicht, meine Lieben, wartet, ich werde euch in die neue Kirche des kommenden Heilands sammeln. Es war einmal eine alte Kirche, die Kirche Petri, des starrenden Felsens; es ersteht eine neue Kirche Johannis', des fliegenden Donners. Der Blitz wird in den Felsen einschlagen, und Wasser des Lebens wird aus ihm fließen. Das erste Testament ist das Alte, das Reich des Vaters; das zweite ist das Neue, das Reich des Sohnes; das dritte ist das Letzte, das Reich des Geistes. Eins ist Drei, und Drei ist Eins, wahrhaftig ist der verheißende Gott, der da ist, und der da war, und der da kommt!«

Das Gesicht des Alten erstrahlte plötzlich in unvergänglicher Jugend. Und Tichon erkannte Johannes den Evangelisten.

Und der schlohweiße Greis hob seine Arme zum schwarzen Himmel empor und rief mit lauter Stimme:

»Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Es spricht, wer solches zeuget: Ja, ich komme bald! Amen. Ja, komm, Herr Jesu!«

»Ja, komm, Herr Jesu!« wiederholte Tichon und erhob gleichfalls seine Arme zum Himmel mit großer Freude, die wie ein großes Grauen war.

Ein weißer Blitz durchzuckte den schwarzen Himmel, und der Himmel tat sich auf.

Und Tichon sah Einen, der war eines Menschen Sohne gleich. Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie Wolle und wie Schnee, seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße gleich wie Messing, das im Ofen glüht, und sein Angesicht leuchtete wie die helle Sonne.

Und die sieben Donner sprachen:

»Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, der Allmächtige, der da war und der da ist und der da kommt.«

Und die Donner verstummten, und eine große Stille trat ein, und in der Stille erklang eine Stimme, noch stiller als die Stille selbst:

»Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.«

»Amen!« wiederholte Johannes, der Sohn des Donners.

»Amen!« wiederholte Tichon, der erste Sohn der Kirche des Geistes. Und er fiel auf sein Antlitz nieder wie tot und verstummte für immer . . .

* * *

In der Zelle des P. Sergius kam er wieder zur Besinnung.

Der Einsiedler war den ganzen Tag über wegen Tichon in Sorge gewesen; ihn hatte die Vorahnung gequält, daß ihm etwas Böses zugestoßen sei. Er war einigemal aus seiner Zelle gegangen, war im Walde umhergeirrt und hatte gerufen: »Tischenjka! Tischenjka!« Aber nur das Echo der Einöde hatte ihm in der gewitterschwangeren Stille geantwortet.

Als die Wolke aufgezogen war, war es in der Zelle so finster wie in der Nacht geworden. In der Tiefe der Höhle, wo die beiden Einsiedler beteten, brannte ein Lämpchen.

P. Ilarion sang den Psalm:

»Die Stimme des Herrn gehet auf dem Wasser. Der Gott der Ehren donnert, der Herr auf großen Wassern.

»Die Stimme des Herrn gehet mit Macht. Die Stimme des Herrn gehet herrlich.«

Plötzlich erfüllte eine blendend helle Flamme die Zelle, und es erdröhnte ein so mächtiger Donnerschlag, daß die Granitfelsen, in denen die Zelle eingebaut war, zusammenzustürzen schienen.

Beide Einsiedler waren aus der Zelle gelaufen und hatten gesehen, daß die trockene Fichte, die einsam am Rande des Durchhaues über dem niederen Gestrüpp ragte, wie eine Kerze brannte und die weiße Flamme sich gegen den schwarzen Himmel abhob; ein Blitz hatte wohl den Baum entzündet.

P. Sergius war mit lauten Schreien: »Tischenjka! Tischenjka!« hingelaufen. P. Ilarion war ihm gefolgt, sie hatten Tichon bewußtlos am Fuße des brennenden Baumes liegend gefunden, sie hatten ihn aufgehoben, in ihre Zelle getragen und, da sie keine andere Bettstelle hatten, in einen der Särge gelegt, in denen sie selbst schliefen. Zuerst hatten sie geglaubt, daß er vom Blitze erschlagen worden sei. P. Ilarion wollte schon alle Totengebete sprechen. P. Sergius hatte es ihm aber verwehrt und begonnen, das Evangelium zu lesen. Als er die Worte: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt da, daß die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben,« las, erwachte Tichon aus der Ohnmacht und schlug die Augen auf. P. Ilarion fiel vor Schreck um, da er glaubte, P. Sergius hätte den Toten lebendig gemacht.

Tichon kam bald gänzlich zur Besinnung, erhob sich und setzte sich auf die Bank. Er erkannte P. Sergius und P. Ilarion, verstand alles, was man zu ihm sprach, sagte aber selbst kein Wort und antwortete nur durch Zeichen. Endlich begriffen sie, daß er stumm geworden war, und glaubten, der Schreck hätte ihm die Zunge gelähmt. Sein Gesicht war heiter; in dieser Heiterkeit lag aber etwas Schreckliches, als ob er wirklich von den Toten auferstanden wäre.

Sie setzten sich zu Tisch. Tichon aß und trank. Nach dem Essen knieten sie nieder um zu beten. P. Ilarion betete zum erstenmal mit Tichon; er schien ganz vergessen zu haben, daß Tichon ein Ketzer war, und empfand vor ihm offensichtlich eine Ehrfurcht, die sich mit Grauen paarte.

Dann legten sie sich schlafen, die Einsiedler wie immer in ihre Särge in der Höhle, und Tichon in der Wohnkammer auf die Pritsche über dem Ofen.

Der Sturm brauste, der Wind heulte, der Regen goß in Strömen, die Wellen des Sees rauschten, der Donner dröhnte unaufhörlich, und das weiße Licht der Blitze fiel ununterbrochen durchs Fenster und floß mit dem rötlichen Scheine des Lämpchens zusammen, das in der Höhle vor dem Bilde der Muttergottes der »Unerwarteten Freude« brannte. Tichon schien es aber, als wären es nicht die Blitze, sondern als beugte sich der schlohweiße Greis über ihn und spreche zu ihm von der Kirche des Evangelisten Johannes, als liebkose er ihn und wiege ihn in den Schlaf. Und er schlief unter dem Tosen des Gewitters ein wie ein Kind unter den Tönen des Wiegenliedes, das ihm die Mutter singt.

Er erwachte früh, lange vor Sonnenaufgang. Er kleidete sich schnell an, machte sich zur Reise bereit, ging auf P. Sergius zu, der ebenso wie P. Ilarion noch in seinem Sarge schlief, kniete nieder und küßte ihn ganz leise, um den Schlafenden nicht zu wecken, auf die Stirn. P. Sergius schlug die Augen auf, hob den Kopf und sagte: »Tischenjka!« Dann ließ er aber den Kopf gleich wieder auf den Stein sinken, der ihm als Kissen diente, schloß die Augen und schlief noch fester ein.

Tichon verließ die Zelle.

Das Gewitter war vorüber. Eine große Stille war wieder angebrochen. Nur von den nassen Zweigen fielen Tropfen. Es roch nach Harz und Fichtennadeln. Über den schwarzen spitzen Tannen leuchtete im rosig goldenen Himmel die seine Sichel des jungen Mondes.

Tichon schritt vorwärts rüstig und leicht, gleichsam beflügelt von der großen Freude, die wie ein großes Grauen war. Und er wußte, daß er in seiner ewigen Stummheit immer so weiter gehen würde, bis er alle irdischen Wege durchwandert, die Kirche Johannis betreten und Hosianna dem kommenden Heiland gerufen haben würde.

Um sich nicht wie gestern zu verirren, nahm er den Weg über den felsigen Bergrücken, von wo er die Ufer und den See überblicken konnte. Am Rande des Himmels lag die immer noch blauschwarze und unheimliche Gewitterwolke und verdeckte den Sonnenaufgang. Plötzlich durchbohrten aber die ersten Strahlen wie scharfe Schwerter die Wolke, und Ströme von Feuer, Ströme von Blut brachen aus ihr hervor, als ob dort oben in den himmlischen Zeichen schon die letzte Schlacht entbrannt wäre, mit der die Welt zu Ende gehen wird: »Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen, und der Drache stritt und seine Engel, und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel. Und es war ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange.«

Die Sonne kam hinter den Wolken empor in ihrer Kraft und Herrlichkeit, strahlend wie das Antlitz des kommenden Heilands.

Und Himmel und Erde und die ganze Kreatur sangen der aufgehenden Sonne das stumme Lied:

»Hosianna! Das Licht besiegt die Finsternis!«

Und Tichon, der vom Berge herabstieg und der Sonne gleichsam entgegenflog, war in seiner ewigen Stummheit ganz das ewige Lied dem kommenden Heiland:

»Hosianna! Christus besiegt den Antichrist!«

 

Ende.

 


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