Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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Drittes Buch.

Das Tagebuch des Zarewitsch Alexej.

I.

Tagebuch der Hofdame Arnheim.

 

1. Mai 1714.

Verfluchtes Land, verfluchtes Volk! Schnaps, Blut und Schmutz. Es ist schwer zu sagen, was am meisten in die Augen fällt. Ich glaube, der Schmutz. Der König von Dänemark hat einmal sehr schön gesagt: »Wenn zu mir wieder moskowitische Gesandte kommen, werde ich für sie einen Schweinestall erbauen lassen, denn wo sie einmal gewohnt haben, stinkt es so, daß da nachher ein halbes Jahr lang kein Mensch atmen kann.« Ein Franzose sagte einmal: »Der Moskowiter ist ein Mensch Platos, ein Tier ohne Federn, das alles besitzt, was der Menschennatur eigen ist, mit Ausnahme der Reinlichkeit und der Vernunft.«

Und diese stinkenden Wilden, diese getauften Bären, die nicht mehr schrecklich, sondern nur jämmerlich sind, wenn sie sich in europäische Affen verwandeln, halten sich allein für Menschen und alle andern für Vieh. Gegen uns Deutsche haben sie einen angeborenen, unbezwingbaren Haß. Sie halten sich für verunreinigt, wenn sie mit uns in Berührung gekommen sind. Die Lutheraner sind für sie kaum besser als der Teufel.

Ich wäre keinen Augenblick länger in Rußland geblieben, wenn nicht die Pflicht der Liebe und Treue zu Ihrer Hoheit, meiner gnädigsten Herrin und herzliebsten Freundin, der Kronprinzessin Sophie Charlotte mich hier festhielte. Was auch kommen mag, ich verlasse sie nie!

Ich werde dieses Tagebuch, wie ich gewöhnlich spreche, deutsch und zum Teil französisch schreiben. Aber gewisse Scherze, Sprüchwörter, Lieder, Texte der zarischen Ukase und Bruchstücke von Gesprächen werde ich neben der Übersetzung auch im russischen Original wiedergeben.

Mein Vater ist reiner Deutscher aus altem sächsischem Rittergeschlecht; meine Mutter eine Polin. Sie war in ihrer ersten Ehe mit einem polnischen Edelmann verheiratet, lebte lange Zeit in Rußland in der Gegend von Smolensk und erlernte die russische Sprache recht gut. Ich wurde in Torgau am Hofe der Königin von Polen erzogen, wo auch viele Moskowiter lebten. Von Kind auf hörte ich die russische Sprache. Ich spreche sie schlecht, liebe sie nicht, verstehe sie aber vollkommen.

Um mein Herz in schweren Stunden wenigstens etwas zu erleichtern, habe ich mich entschlossen, diese Aufzeichnungen zu schreiben, ich mache es wie der Schwätzer in der alten Fabel, der seine Geheimnisse dem Schilfe des Sumpfes zuflüsterte, weil er es nicht wagte, sie den Menschen anzuvertrauen. Ich möchte nicht, daß diese Zeilen jemals das Licht erblicken; aber angenehm ist mir der Gedanke, daß sie einmal dem einzigen Menschen, dessen Meinung ich über alles in der Welt setze, zu Gesicht kommen können; ich spreche von meinem großen Lehrer – Gottfried Leibniz.

* * *

In dem gleichen Augenblick, als ich an ihn dachte, erhielt ich einen Brief von ihm. Er bittet mich, Erkundigungen einzuziehen wegen des Gehaltes, das er als in russischen Diensten stehender Geheimer Justizrat zu bekommen hat. Ich fürchte, er wird dieses Gehalt niemals zu sehen bekommen.

Ich weinte beinahe vor Trauer und Freude, als ich seine Zeilen las. Ich erinnerte mich an unsere stillen Spaziergänge und Unterhaltungen in den Galerien des Schlosses von Salzdahlen, in den Lindenalleen von Herrenhausen, wo das Rauschen des Windes im Laube und das Nieseln der Springbrunnen ewig unser Lieblingslied aus dem »Mercure Galant« zu singen schienen:

Chantons, dansons, tout est tranquille
Dans cet agréable séjour.
Ah, le charmant asile!
N'y parlons que de jeux, de plaisirs et d'amours.

Mir kamen wieder die Worte meines Lehrers in den Sinn, an die ich damals beinahe glaubte: »Ich bin Slawe wie Sie. wir beide sollten uns freuen, daß in unsern Adern slawisches Blut fließt. Diesem Stamme steht eine große Zukunft bevor. Rußland wird Europa mit Asien verbinden und den Orient mit dem Okzident versöhnen. Dieses Land ist wie ein neuer Topf, dem noch kein fremder Geschmack anhaftet; wie ein Blatt weißes Papier, auf dem man alles, was man will, schreiben kann; wie ein unbebautes Feld, das mit neuer Saat bestellt werden kann. Rußland könnte später einmal ganz Europa erleuchten, wenn es die Fehler vermiede, die sich bei uns allzu sehr eingewurzelt haben.« Und er schloß mit begeistertem Lächeln: »Das Schicksal hat mich wohl berufen, der russische Solon, der Gesetzgeber einer neuen Welt zu sein. Über den Verstand eines Mannes, wie es der Zar ist, zu herrschen und ihn zum Wohle der Menschheit zu leiten, ist mehr, als hundert Schlachten zu gewinnen!«

Ach mein armer großer Träumer, wenn sie wüßten und sähen, was ich in Rußland erfahren und gesehen habe!

Auch jetzt, während ich dies schreibe, erinnert mich die traurige Wirklichkeit daran, daß ich nicht mehr in der süßesten Zufluchtstätte von Herrenhausen, diesem deutschen Versailles bin, sondern in der Tiefe der moskowitischen Tatarei.

Vor den Fenstern gibt's Geschrei, Geheul und Geschimpfe: die Leibeigenen unserer Nachbarin, der Zarewna Natalja Alexejewna schlagen sich mit unseren Leuten herum. Die Russen verprügeln die Deutschen. Nun sehe ich in der Tat die Vereinigung Asiens mit Europa, des Orients mit dem Okzident!

Unser Sekretär kam bleich, zitternd, in zerrissenen Kleidern, mit blutendem Gesicht herbeigelaufen. Als die Kronprinzessin ihn sah, fiel sie in Ohnmacht. Man schickte nach dem Zarewitsch. Er hatte aber einen Anfall seiner gewöhnlichen Krankheit: er war betrunken.

 

2. Mai.

Wir wohnen im Schlosse des Kronprinzen Alexej, einem aus Lehm erbauten zweistöckigen Häuschen mit Ziegeldach, am Ufer der Newa. Die Räume sind so klein, daß fast der ganze Hofstaat Ihrer Hoheit in drei Nachbarhäusern wohnen muß, die der Senat für uns gemietet hat. In einem dieser Häuser gab es weder Türen noch Fenster, noch Öfen, noch irgendwelche Möbel. Ihre Hoheit mußte das Haus auf eigene Kosten einrichten und einen Pferdestall anbauen lassen.

Gestern kehrte der Besitzer dieses Hauses, ein gewisser Gideonow, der in Diensten der Zarewna Natalja steht, zurück und befahl, alle unsere Leute hinauszujagen und ihre Sachen auf den Hof hinauszuwerfen. Darauf begann er, die Pferde Ihrer Hoheit aus dem Stalle zu führen und seine eigenen Pferde einzustellen. Die Kronprinzessin gab den Befehl, den Stall niederzureißen, um ihn später an einer anderen Stelle aufzubauen. Als aber unser Stallmeister mit den Arbeitern hinkam, schickte Gideonow seine Leute, die die unsrigen verprügelten und verjagten. Der Stallmeister drohte mit einer Beschwerde beim Zaren. Gideonow antwortete lachend: »Beschweren Sie sich soviel Sie wollen; ich werde mich noch vorher beschweren!«

Das Schlimmste ist, daß er alles angeblich auf Befehl der Zarewna tut. Diese Zarewna ist eine alte Jungfer und das bösartigste Geschöpf auf der Welt. Sie scharwenzelt vor der Kronprinzessin; aber hinter ihrem Rücken spuckt sie jedesmal aus, wenn sie den Namen Ihrer Hoheit ausspricht. Sie sagt: »Diese Deutsche! Die aufgeblasene Gans! Was bildet sie sich nur ein? Sie wird schon noch den Schwanz einziehen müssen!«

Unsere armen Stallknechte leben also unter freiem Himmel. In der ganzen Stadt könnte man auch für hundert Dukaten keine Wohnung für sie finden: so eng ist es hier. Wenn man mit dem Zaren darüber spricht, so sagt er immer, daß es im nächsten Jahr genug Häuser geben wird. Sie werden dann aber nicht mehr vonnöten sein; jedenfalls nicht für unsere Leute, denn es ist sehr wahrscheinlich, daß die Mehrzahl von ihnen bereits im Jenseits sein wird.

* * *

Wenn man in Europa von der Armut, in der wir leben, erzählen würde, so würde es kein Mensch glauben. Die Gelder, die für die Hofhaltung der Kronprinzessin festgesetzt sind, werden so unregelmäßig und karg gezahlt, daß sie niemals reichen. Und dabei herrscht hier eine furchtbare Teuerung, was in Deutschland einen Pfennig kostet, kostet hier vier. Wir sind bei allen Kaufleuten verschuldet, und sie werden wohl bald aufhören, uns Kredit zu geben. Nicht nur unsere Leute, auch wir selbst leiden oft Mangel an Kerzen, Brennholz und Lebensmitteln. Beim Zaren kann man nichts erreichen, da er niemals Zeit hat. Und der Zarewitsch ist meistens betrunken.

»Die Welt ist voller Bitternis,« sagte mir heute Ihre Hoheit. »Von meiner Kindheit, d. h. von meinem sechsten Lebensjahre an, weiß ich nicht, was Freude ist, und ich zweifle nicht, daß das Schicksal für mich in der Zukunft noch mehr Widerwärtigkeiten bereithält . . .«

Ihren Blick in die Ferne gerichtet, als ob sie diese Zukunft schon sähe, wiederholte sie die Worte: »Ich werde dem Unglück nicht entgehen«, mit so hoffnungsloser Ruhe, daß ich keine Worte des Trostes finden konnte und nur stumm ihre Hände küßte.

Da erdröhnte ein Kanonenschuß, und wir mußten sofort zu einer Lustfahrt auf der Newa, einer »Wasserassemblee«, aufbrechen.

Hier ist es eingeführt, daß auf einen Kanonenschuß und die Flaggensignale, die an allen Enden der Stadt gegeben werden, alle Barken, Ruderboote, Yachten, Segelboote und sonstige Schiffe sich vor der Festung versammeln müssen. Das Nichterscheinen wird bestraft.

Wir begaben uns sofort mit unserm zehnrudrigen Boot hin und fuhren lange Zeit mit den übrigen Booten die Newa auf und ab, beständig dem Admiral folgend, den wir weder überholen noch aus den Augen verlieren durften; auch für dieses Vergehen ist eine Strafe angesetzt. Für alles gibt es hier Strafen.

Es spielte Musik – Trompeten und Waldhörner. Die Töne widerhallten an den Festungsbastionen.

Uns war auch ohnehin so traurig zumute. Und der kalte, blaßblaue Fluß mit den flachen Ufern, der blaßblaue, wie Eis durchsichtige Himmel, das Funkeln der vergoldeten Spitze der hölzernen, gelb marmorierten Peter-Pauls-Kirche, das eintönige Glockenspiel – alles vergrößerte noch die eigenartige traurige Stimmung, die ich noch nirgends außer in dieser Stadt empfunden habe.

Ihr Anblick ist übrigens recht hübsch. Längs des niedern Uferdammes, der von schwarzen geteerten Pfählen zusammengehalten wird, stehen blaßrote Backsteinhäuser von phantastischer Architektur, in der Art holländischer Kirchen, mit spitzen Türmen, mit Luken in den Dächern und riesengroßen vergitterten Fluren. Es sieht beinahe wie eine richtige Stadt aus. Daneben stehen aber ärmliche, mit Rasen und Birkenrinde gedeckte Hütten; und weiter kommt Sumpf und Wald, wo es noch Rentiere und Wölfe gibt. Am Meeresufer stehen Windmühlen. Genau wie in Holland. Alles ist blendend hell, blaß und traurig. Es sieht aus, als ob es nur hingemalt oder aus Laune geschaffen worden wäre. Man glaubt zu schlafen und eine ganz unwirkliche Stadt im Traume zu sehen.

Der Zar befand sich mit seiner ganzen Familie auf einem eigenen Einmaster. Er führte selbst das Steuer. Die Zarinnen und Prinzessinnen trugen Leinenjäckchen, rote Röcke und runde Wachstuchhüte – alles »auf holländische Manier«; sie sahen wie echte Schifferfrauen aus Zaandam aus. »Ich gewöhne meine Familie an das Wasser,« pflegte der Zar zu sagen. »Wer mit mir leben will, muß oft auf der See sein.«

Er nimmt seine Angehörigen fast auf jede seiner Seefahrten mit, besonders bei stürmischem Wetter, sperrt sie in eine Kajüte ein und kreuzt immer gegen den Wind, bis sie ordentlich seekrank werden und, salvo honore, sich übergeben müssen. Dann ist er erst zufrieden!

Wir fürchteten schon, daß man nach Kronschlot fahren würde. Die Teilnehmer einer ähnlichen Spazierfahrt im vorigen Jahre denken noch heute mit Schrecken an sie: von einem Sturm überrascht, wären sie beinahe ertrunken, gerieten auf eine Sandbank, saßen einige Stunden bis zum Gürtel im Wasser, erreichten schließlich irgendeine Insel und machten Feuer. Da sie ganz nackt waren – sie mußten die nassen Kleider ausziehen –, wickelten sie sich in rauhe Schlittendecken, die sie sich bei den Bauern verschafften. So verbrachten sie wie neue Robinsons die ganze Nacht am Feuer, ohne Speise und ohne Trank.

Das Schicksal war uns aber diesmal gnädig; auf dem Einmaster des Admirals wurde die rote Flagge heruntergeholt, was das Ende der Lustfahrt bedeutete.

Wir fuhren heim durch die Kanäle und besichtigten unterwegs die Stadt.

Es gibt hier eine Menge Kanäle. »Wenn Gott mir Leben und Gesundheit gibt, wird Petersburg ein zweites Amsterdam werden!« prahlt der Zar. »Alles soll so eingerichtet werden, wie es in Holland Sitte ist,« diese Worte kehren in jedem seiner Ukase von der Erbauung der Stadt wieder.

Der Zar hat eine Vorliebe für gerade Linien. Alles, was geradlinig und regelmäßig ist, erscheint ihm schön, wenn es möglich wäre, würde er die Stadt mit Lineal und Zirkel erbauen. Den Einwohnern ist befohlen, »die Häuser in einer Linie zu bauen, so daß kein Gebäude vor oder hinter der Linie zu stehen komme, damit alle Straßen und Gassen gleichmäßig und schön werden«. Jedes Haus, das aus der Linie hinausragt, wird erbarmungslos niedergerissen.

Der Stolz des Zaren ist die unendlich lange, gerade, die ganze Stadt durchschneidende »Newa-Perspektive«. Sie liegt ganz einsam mitten im ödesten Sumpfe, ist aber bereits mit drei und vier Reihen verkümmerter Linden bepflanzt und sieht wie eine Allee aus. Sie wird außerordentlich rein gehalten. Jeden Sonnabend wird sie von schwedischen Gefangenen gekehrt.

Auf vielen dieser geometrisch geraden Linien der projektierten Straßen gibt es noch fast keine Häuser. Nur die Absteckpfähle ragen hervor. Auf anderen Straßen, die bereits bebaut sind, kann man noch die Spuren alter Ackerfurchen sehen.

Die Häuser werden zwar aus Ziegelsteinen, die »nach der Vorschrift des Vitruvius« hergestellt sind, gebaut, aber so nachlässig und eilig, daß sie einzustürzen drohen. Wenn man durch eine Straße fährt, erzittern alle Häuser: der sumpfige Grund schwankt allzu sehr. Die Feinde des Zaren prophezeien, daß einst die ganze Stadt in den Sumpf versinken wird.

Einer unserer Begleiter, der alte Baron Löwenvold, der Generalkommissar für Livland, ein freundlicher und kluger Mann, erzählte uns manches Interessante über die Gründung der Stadt.

Zur Errichtung der ersten Erdwälle der Peter-Pauls-Festung brauchte man trockene Erde; in der Nähe gab es aber nichts als Schlamm und Moos. Man beschloß daher, Erde von entfernteren Plätzen in alten Säcken, Bastmatten und selbst in Kleiderschößen zu den Bastionen herbeischleppen zu lassen. Bei dieser Sisyphusarbeit gingen zwei Drittel der Unglücklichen zugrunde, hauptsächlich infolge der gottlosen Gaunerei und Dieberei derjenigen, die für den Unterhalt der Arbeiter zu sorgen hatten. Monatelang bekamen sie kein Brot zu sehen, das übrigens in dieser öden Gegend oft um kein Geld aufzutreiben ist. Sie lebten von Kohl und Rüben, litten an Ruhr und Skorbut, schwollen vor Hunger, froren in Erdlöchern, die Tierhöhlen glichen, und starben wie die Fliegen. Die Errichtung der Festung auf dem »Lusteiland« (eine nette Bezeichnung!) kostete allein hunderttausend Ansiedlern das Leben, die man wie Vieh von allen Enden Rußlands hierher zusammengetrieben hatte. Diese naturwidrige Stadt, dieses entsetzliche »Paradies«, wie der Zar sie zu nennen pflegt, steht wahrlich auf Menschengebeinen!

Hier macht man weder mit Lebenden noch mit Toten irgendwelche Umstände. Ich sah schon mit eigenen Augen am Lebensmittelmarkt oder am Großen Kaufhaus, wie die in Bastmatten gewickelte, mit Stricken an eine Stange gebundene Leiche eines Arbeiters von zwei Männern fortgeschafft wurde; und viele andere werden ganz nackt auf elenden Schlitten nach dem Friedhof gefahren und ohne irgendwelche Zeremonien verscharrt. Es sterben täglich so viel Bettler, daß man keine Zeit hat, sie nach christlicher Sitte zu bestatten.

Als wir einmal an einem heißen Sommertage auf der Newa fuhren, sahen wir auf dem blauen Wasser graue Flecken: es waren Haufen toter Mücken, von denen es in den hiesigen Sümpfen eine Unmenge gibt. Sie schwammen aus dem Ladogasee. Einer unserer Ruderer schöpfte einen ganzen Hut voll ihrer Leichen.

Während ich mit geschlossenen Augen den Erzählungen Löwenvolds von der Erbauung Petersburgs zuhörte, sah ich im Geiste auf der Newa einen endlosen Zug grauer, winziger, wie diese Mücken zahlloser Menschenleichen schwimmen; und niemand kennt sie, niemand gedenkt ihrer.

Nach Hause zurückgekehrt, setzte ich mich in meinem winzigen Zimmerchen, einem echten Vogelbauer, das im Mezzanin, dicht unter dem Dache liegt, an mein Tagebuch.

Es war schwül, und ich öffnete das Fenster. Es duftete nach Frühlingswasser, Teer und nach Hobelspänen von Tannenholz. Am Ufer der Newa waren zwei Zimmerleute, ein alter und ein junger, mit dem Ausbessern eines Bootes beschäftigt. Ich hörte das Klopfen ihrer Hämmer und das gedehnte, traurige Lied, das der Jüngere, sehr langsam und immer dasselbe wiederholend, sang, hier sind einige Worte dieses Liedes, soweit ich sie verstehen konnte:

In der großen Stadt Sankt Petersburg,
Auf dem Newastrom, dem Mütterchen,
Auf der Insel der Wassiljewskij
Takelte ein junger Maat sein Schiff.

Ich sah auf den blaßgrünen, wie Eis durchsichtigen und kalten Abendhimmel des »Paradieses« und lauschte dem traurigen Liede, das wie Weinen klang; und auch ich hatte Lust zu weinen.

 

3. Mai.

Heute war Ihre Hoheit bei der Zarin und beschwerte sich über Gideonow; sie bat auch um eine regelmäßigere Auszahlung der Gelder. Ich wohnte dieser Zusammenkunft bei.

Die Zarin war wie immer sehr liebenswürdig.

»Zarische Majestät Euch sehr lieb,« sagte sie unter anderem zur Kronprinzessin in ihrem gebrochenen Deutsch.

»Seine zarische Majestät hat Euch sehr lieb. Er sagt mir immer: Katharina, deine Schwiegertochter ist schön wie von Statur so auch von Charakter. – Eure Majestät, sage ich ihm, du liebst deine Schwiegertochter mehr als mich. – Nein, sagt er und lacht dabei, – ich liebe sie nicht mehr als dich, werde sie aber bald ebenso wie dich lieben. Mein Sohn, sagt er, verdient gar nicht, eine solche Frau zu haben.«

Aus diesen Worten konnten wir schließen, daß der Zar seinen Sohn nicht sehr liebt.

Als Ihre Hoheit fast unter Tränen für ihren Mann eintrat, versprach ihr die Zarin, sich für ihn zu verwenden; sie versicherte dabei mit der gleichen Freundlichkeit, daß »sie sie wie ein eigen Kind liebe und daß sie sie nicht lieber haben würde, selbst wenn sie sie unter dem Herzen getragen hätte«.

Mir gefällt diese russische Süßlichkeit nicht; ich fürchte, daß sie wie Honig an der Spitze eines Dolches ist.

Ihre Hoheit scheint übrigens genau zu wissen, woran sie ist. Einmal sagte sie in meiner Gegenwart, daß die Zarin ärger sei als alle andern: Pire que tout le reste.

Nach der Heimkehr von der Zarin sagte sie mir heute:

»Sie wird mir niemals verzeihen, wenn ich einen Sohn bekomme.«

Als ich einmal mit einer einfachen Frau aus dem Volke über die Zarin sprach, flüsterte sie mir ins Ohr: »Es steht ihr gar nicht an, auf dem Zarenthrone zu sitzen – sie ist ja nicht vom Zarischen Geblüt und auch keine Russin, wir wissen ja sehr gut, wie sie in Gefangenschaft geraten war: man brachte sie im bloßen Hemde auf die Wache; ein Wachoffizier von den Unsrigen gab ihr seinen Rock. Gott weiß, von welchem Stande sie ist. Man sagt, sie hätte einst Hemden mit den Finnenweibern gewaschen.«

Ich mußte heute daran denken, als Ihre Hoheit bei der Begrüßung mit der Zarin ihr nach der Hofetikette das Kleid küssen wollte. Jene ließ es allerdings nicht zu: sie umarmte und küßte sie. Es ist aber immerhin ein Hohn des Schicksals, daß eine Prinzessin von Wolfenbüttel, eine Erbin der großen Welfen, die den deutschen Kaisern zu einer Zeit, wo man noch nichts von den Hohenzollern und Habsburgern wußte, die Krone streitig machten – das Kleid einer Frau küßt, die zusammen mit Finnenweibern Hemden gewaschen hat!

 

4. Mai.

Nach einigen warmen, beinahe sommerlichen Tagen ist wieder der Winter angebrochen. Es ist kalt und windig, es schneit nasse Flocken und regnet zugleich. Auf der Newa schwimmt das Eis vom Ladogasee. Man sagt übrigens, daß es hier manchmal auch im Juni schneit.

Unser »Palais« ist so furchtbar verwahrlost, daß es heute nachts durch das durchlöcherte Dach in das Schlafzimmer Ihrer Hoheit hineinregnete; glücklicherweise nicht auf das Bett; auf dem Fußboden bildete sich eine Pfütze.

Die Decke ist mit allegorischen Bildern geschmückt: ein flammender, mit Rosen umwundener Altar; zu beiden Seiten Liebesgötter mit den beiden Wappen: dem russischen Adler und dem Braunschweiger Roß; zwischen ihnen zwei verschlungene Hände mit dem Wahlspruch: »Non unquam junxit nobiliora fides« – »Noch niemals verband die Treue Edlere.« Genau auf dem Altar ist ein schwarzer feuchter Fleck entstanden, und von der Flamme Hymens tropft schmutziges kaltes Wasser herunter.

Ich mußte an die Hochzeitsrede des Archäologen Eckhard denken, der zu beweisen suchte, daß Bräutigam und Braut vom byzantinischen Kaiser Konstantin Porphyrogennetos abstammten. Ein nettes Land, wo es beinahe auf das Ehebett der Erbin eines Porphyrogennetos regnet!

 

5. Mai.

Endlich kam der Kronprinz aus dem anderen Teile des Hauses zu uns herüber, wo er von uns getrennt lebt, so daß wir ihn oft wochenlang nicht sehen. Es kam zu einer Aussprache zwischen den beiden. Ich hörte alles aus dem Nebenzimmer, wo ich auf Wunsch Ihrer Hoheit bleiben mußte.

Auf alle ihre Bitten und Klagen über Gideonow und über die Nichtauszahlung der Gelder antwortete er achselzuckend:

»Mich nichts angehen. Bekümmere mich nicht an Sie!«

Dann machte er ihr Vorwürfe, daß sie ihn beim Vater schlechtmache.

»Sie sollten sich doch schämen!« sagte weinend Ihre Hoheit. »Denken Sie doch wenigstens an Ihre eigene Ehre! In Deutschland wird sich kein Schuster oder Schneider erlauben, seine Frau so zu behandeln . . .«

»Sie sind in Rußland und nicht in Deutschland.«

»Ich fühle das allzusehr, wenn aber alles, was mir versprochen wurde, erfüllt worden wäre . . .«

»Wer hat Ihnen versprochen?«

»Sie selbst, als Sie mit dem Zaren den Ehekontrakt unterschrieben.«

»Halten Maul! Ich Sie nichts versprochen. Sie sehr gut wissen, daß man Sie mir mit Gewalt angehängt!«

Er sprang auf und warf den Sessel um, auf dem er gesessen hatte.

Ich war bereit, Ihrer Hoheit zur Hilfe zu eilen. Ich glaubte, er würde sie schlagen. In diesem Augenblick haßte ich ihn so sehr, daß ich imstande wäre, ihn zu ermorden.

»Das danke Ihnen der Henker!« rief die Kronprinzessin aus, außer sich vor Zorn und Schmerz.

Er verließ mit einem unflätigen Schimpfwort das Zimmer und schlug die Türe hinter sich zu.

Dieser Mensch erscheint mir als die Verkörperung alles wilden und Gemeinen, was es in diesem wilden und gemeinen Lande nur gibt. Eines weiß ich noch nicht sicher, was er in größerem Maße ist: ein Dummkopf oder ein Schuft?

Die arme Charlotte! Ihre Hoheit, die mir von Tag zu Tag neue Beweise ihrer Freundschaft, die ich gar nicht verdiene, zeigt, bat mich selbst, sie so zu nennen. Die arme Charlotte! Als ich zu ihr hereinkam, fiel sie in meine Arme und konnte lange kein Wort sprechen; sie zitterte nur am ganzen Körper. Endlich sagte sie schluchzend:

»Wenn ich nicht in anderen Umständen wäre und auf eine gütliche Weise nach Deutschland zurückkehren könnte, wollte ich dort mit Freuden von trockenem Brot und Wasser leben! Vor Kummer verliere ich den Verstand, und ich weiß gar nicht, was ich sage und was ich tue. Ich bete zu Gott, daß er mir die Kraft gäbe und daß die Verzweiflung mich nicht zu etwas Fürchterlichem führe!«

Dann fügte sie unter stillen Tränen und mit der ihr eigenen Demut, die mir manchmal mehr Angst macht als jede Verzweiflung, hinzu:

»Ich bin das unglückliche Opfer der Familie, der ich nicht den geringsten Nutzen gebracht habe, und ich sterbe vor Kummer einen langsamen Tod . . .«

* * *

Wir weinten noch beide, als man uns sagen kam, daß es Zeit sei, zu einer Maskerade aufzubrechen, wir schluckten unsere Tränen herunter und begannen uns für den Maskenball anzukleiden. So ist es hier Sitte: ob du willst oder nicht, du mußt dich amüsieren, wenn es befohlen ist.

Die Maskerade fand auf dem Troitzkij-Platz beim Kaffeehause, der »Osteria«, unter freiem Himmel statt. Da der Platz so tief gelegen und sumpfig ist, daß er niemals austrocknet, hat man über einen Teil desselben Balken gelegt und darauf einen Bretterboden gebaut; so entstand ein Podium, auf dem sich die Masken drängten. Glücklicherweise hatte das Wetter wieder umgeschlagen: der Abend war windstill und warm. Doch gegen Abend stieg vom Flusse ein dichter milchweißer Nebel auf, der den ganzen Platz einhüllte, viele, besonders Damen in allzu leichter Kleidung, erkälteten sich in der feuchten Luft, niesten und husteten, statt Arznei bekamen sie Schnaps zu trinken, den die Grenadiere wie immer in großen Kübeln herumtrugen. In der weißen, vom grünlichen Schimmer des gar nicht erlöschen wollenden Abendscheins erleuchteten Nebelwolke – zu einer späteren Jahreszeit, im Juni bleibt hier der Abendschein die ganze Nacht am Himmel – erschienen alle diese Masken – Harlekine, Scaramouches, Bajazzi, Schäferinnen, Nymphen, Chinesen, Mohren, Bären, Kraniche und Drachen – als lächerliche und schreckliche Gespenster.

Neben dem Podium, auf dem wir tanzten, ragten schwarze Pfähle mit eisernen Spitzen, auf denen die halbverwesten Köpfe von Hingerichteten staken. Im harzigen Dufte der jungen Tannentriebe und der Birkenknospen, von dem jetzt die ganze Stadt erfüllt ist, glaubte ich immer den Gestank der verwesenden Köpfe zu riechen. Und wieder erschien mir alles, wie es hier immer ist, als ein Traum.

 

6. Mai.

Eine unerwartete Versöhnung. Als ich heute an die halbgeöffnete Türe des Zimmers Ihrer Hoheit trat, sah ich zufällig im Spiegel, daß sie im Sessel saß, während der Kronprinz sich über sie beugte, ihren Kopf mit beiden Händen umfaßt hielt und sie mit ehrfurchtsvoller Zärtlichkeit auf die Stirne küßte. Ich wollte mich schon zurückziehen; sie sah mich aber ebenfalls im Spiegel und winkte mir mit der Hand. Die Ärmste wollte sich wohl mit ihrem Glück brüsten.

»Der Mensch, der sagen, ich Sie nicht lieb habe, lügt wie Teufel!« sagte der Zarewitsch. Ich erriet sofort, daß er eine jener abscheulichen Klatschereien meinte, die hier in großer Anzahl über Ihre Hoheit verbreitet werden (man beschuldigt sie sogar der ehelichen Untreue). – »Ich Ihnen glauben, ich wissen, daß Sie gut sind und daß Menschen, was schlecht von Ihnen sprechen, nicht wert sind Ihren kleinen Finger . . .«

Er befragte sie wegen aller ihrer Angelegenheiten und Unannehmlichkeiten und erkundigte sich nach ihrem Gesundheitszustand und ihrer Schwangerschaft mit solcher Teilnahme, und seine Worte und Gesichtszüge zeugten von soviel Güte und Verstand, daß ich den Eindruck hatte, als ob ein ganz anderer Mensch vor mir stünde. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, als ich mich dessen erinnerte, was sich gestern in diesem selben Zimmer abgespielt hatte.

Als er fort war und wir allein geblieben waren, sagte Charlotte zu mir:

»Ein merkwürdiger Mensch! Er ist gar nicht das, was er zu sein scheint. Niemand kennt ihn. Er liebt mich so sehr! Ach, meine liebe Juliane, wenn ich nur die Liebe hätte, so wäre alles gut, und ich könnte alles ertragen . . . wenn ich ein Kind bekomme – ich bete zu Gott, daß es ein Sohn wird –, so werde ich ganz glücklich sein!«

Ich entgegnete nichts; ich hatte nicht den Mut, ihr den Glauben zu nehmen. Sie war auch jetzt schon so glücklich. Ob für lange? Die Ärmste!

* * *

Vielleicht bin ich in meinem Urteile über den Zarewitsch ungerecht? vielleicht ist er tatsächlich ganz anders, als er scheint?

Er ist der verschlossenste aller Menschen, wenn er nicht betrunken ist, sperrt er sich in seinem Zimmer ein und sitzt über alten Büchern und Handschriften. Man sagt, er studiere die Weltgeschichte und die Theologie, und zwar nicht nur die russische, sondern auch die katholische und protestantische; die deutsche Bibel soll er an die acht Mal gelesen haben; oder er unterhält sich mit Mönchen, Pilgern, heiligen Greisen, lauter Menschen aus dem niedrigsten Stande.

Einer seiner Diener, Fjodor Ewarlakow, ein sehr aufgeweckter Bursche und großer Bücherfreund – er läßt sich von mir verschiedene Bücher, sogar lateinische leihen – sagte mir einmal über den Kronprinzen einige Worte, die ich mir sofort russisch in das Notizbuch aufschrieb, das mir Leibniz einmal geschenkt hatte und das ich immer bei mir trage:

»Der Zarewitsch hat eine heiße Liebe zu den Popen, und die Popen zu ihm. Und er verehrt sie wie den Herrn. Sie nennen ihn aber einen Heiligen und erzählen im Volke viel von seiner Heiligkeit.«

Ich kann mich noch erinnern, wie Leibniz mir erzählte, daß er mit dem Zarewitsch, als er ihm im Sommer 1711 im herzoglichen Schlosse zu Wolfenbüttel vorgestellt worden war, lange über seinen Lieblingsgegenstand – die Vereinigung des Orients mit dem Okzident, Chinas und Rußlands mit Europa gesprochen und ihm dann durch dessen Erzieher, Baron Huissen, einen Auszug aus seinen Briefen über chinesische Angelegenheiten geschickt hätte. Leibniz behauptete, daß der Zarewitsch, im Gegensatz zu allem, was über ihn verbreitet wurde, sehr gescheit sei: sein Verstand sei aber ganz anders als der des Vaters. »Er ist wohl dem Großvater nachgeraten,« bemerkte Leibniz.

Ihre Hoheit zeigte mir die Abschrift eines Briefes der Königlichen Berliner Akademie der Wissenschaften an den Herzog Ludwig Rudolf von Wolfenbüttel, den Vater Charlottens. In diesem Briefe ist die Rede von der sich bietenden Gelegenheit, das Licht des wahren christlichen Glaubens in Rußland zu verbreiten »infolge der eigenen und außerordentlichen Neigung des Kronprinzen zu den Wissenschaften und Büchern«.

Ich sah auch den Bericht über eine Sitzung derselben Berliner Akademie vom Jahre 1711, bei der einer der Mitglieder, der Konrektor Frisch, erklärt hatte: »Der Nachfolger des Zaren liebt die Wissenschaften noch mehr als der Zar selbst und wird sie zu seiner Zeit nicht minder begünstigen

Seltsam! Als ich sie heute beide im Spiegel, – wie in einem die Zukunft enthüllenden Zauberspiegel – sah, glaubte ich in diesen beiden so sehr voneinander verschiedenen Gesichtern einen gemeinsamen Zug zu sehen – den Schatten einer nicht voll ins Bewußtsein getretenen Trauer, als wären sie schon abgeurteilte Opfer und als stünde beiden großes Leid bevor. Oder kam es mir in dem dunklen Spiegel nur so vor?

 

8. Mai.

Wir wohnten heute in der Admiralität dem Stapellauf eines großen Schiffes mit siebzig Kanonen bei. Der Zar, wie ein einfacher Zimmermann in eine rote gestrickte, mit Teer beschmierte Jacke gekleidet, kroch mit der Axt in der Hand zwischen den Stützpfeilern umher, um sich zu vergewissern, ob alles in Ordnung sei; er achtete dabei gar nicht auf die Gefahr: denn der letzte Stapellauf kostete zwei Menschen das Leben. »Ich mühe mich ab mit der Arche Rußlands wie Noah.« An diese Worte des Zaren mußte ich heute denken. Er zog vor dem Großadmiral wie ein Untergebener vor dem Vorgesetzten den Hut und fragte, ob man beginnen dürfe; nachdem er den Befehl dazu erhalten, holte er mit der Axt zum ersten Hiebe aus. Hunderte anderer Äxte begannen die Stützpfeiler abzuhauen; gleichzeitig wurden unten die Balken weggezogen, die das Schiff zu beiden Seiten auf dem Stapel hielten. Es glitt auf den mit Talg eingefetteten Kufen zuerst langsam, dann so schnell wie ein Pfeil, so daß die Kufen in Splitter gingen. Dann schwamm es schaukelnd auf dem Wasser und durchschnitt beim Donner der Geschütze, dem Dröhnen der Musik und den Freudenrufen des Volkes zum ersten Male die Wellen.

Wir setzten uns in Schaluppen und fuhren zum neuen Schiff. Der Zar befand sich bereits darauf. Er hatte sich inzwischen die Uniform eines Schout-bij-nacht, des Ranges, den er augenblicklich inne hat, mit dem Ordensstern und dem blauen Andreasband über die Schulter angelegt und begrüßte die Gäste. Das neugeborene Schiff wurde auf dem Verdeck mit einem Becher Wein getauft. Der Zar hielt eine Rede, hier sind einzelne Worte seiner Rede, die ich mir gemerkt habe:

»Unser Volk gleicht den Kindern, die das ABC-Buch nicht eher in die Hand nehmen, als sie dazu gezwungen werden, und denen das Lernen zuerst viel Kummer bereitet; die aber dankbar sind, sobald sie etwas gelernt haben. Das zeigen uns auch die letzten Taten: ist denn nicht alles unter Zwang geschaffen? Und schon hören wir Dankesworte für vieles, was seine Früchte gezeitigt hat. Wenn man das Bittere nicht nehmen will, so bekommt man auch nichts Süßes zu kosten . . .«

»Ich verzichte auf deine gebratenen Kücken, aber schlage mich nicht mit dem Ziegelstein in den Nacken!« raunte einer der Hofnarren, ein alter Bojare, der wohl schon betrunken war, gerade hinter mir seinem Nachbar zu.

»Wir haben auch Beispiele anderer aufgeklärter Völker Europas vor Augen,« fuhr der Zar fort, »die mit Kleinem begonnen haben. Es ist Zeit, daß auch wir ans Werk gehen und zunächst mit dem Kleinen beginnen; später werden Menschen kommen, die auch Großes vollbringen. Ich weiß, daß ich es nicht vollende und auch den Erfolg meines Werkes nicht sehen werde, denn auf die Länge des Lebens ist kein Verlaß; dennoch will ich es beginnen, damit die, die nach mir kommen, es leichter haben. Uns genügt aber schon der Ruhm allein, daß wir den Anfang gemacht haben . . .«

Ich bewunderte den Zaren. Er war herrlich.

Man stieg in die Kajüten hinab. Die Damen nahmen getrennt von den Kavalieren in einer eigenen Kajüte Platz, die während des Festes kein Mann außer dem Zaren betreten durfte. In der Wand, die die beiden Säle trennte, befand sich eine kleine runde, mit rotem Taffet verhangene Lucke. Ich saß neben ihr und konnte, wenn ich den Vorhang hob, alles sehen und zum Teil auch hören, was in der Männerabteilung vor sich ging. Wie gewöhnlich schrieb ich mir manches in mein Notizbuch auf.

Die langen, schmalen, in Hufeisenform angeordneten Tische waren mit kaltem Imbiß, scharf gesalzenen und geräucherten Speisen, die Durst erzeugen, vollgestellt. Das Essen war einfach und billig, der Wein aber teuer. Für solche Feste zahlt der Zar aus eigener Tasche der Admiralität je tausend Rubel, was für die hiesigen Verhältnisse eine Riesensumme bedeutet. Man setzte sich ohne auf den Rang zu achten, wie es sich gerade traf; einfache Schiffer kamen neben die höchsten Würdenträger zu sitzen. An dem einen Ende der Tafel thronte der närrische Fürstpapst, von den Kardinälen umgeben. Er verkündete feierlich:

»Friede und Segen der ganzen verehrten Kumpanei! Im Namen des Vaters Bacchus, des Sohnes Iwaschka Chmelnitzkij und des Geistes des Weines empfanget das Abendmahl! Die Trunkenheit des Bacchus sei mit euch!«

»Amen!« antwortete der Zar, der beim Papst als Protodiakon fungierte.

Alle traten nun der Reihe nach an Seine Heiligkeit heran, knieten vor ihm nieder, küßten ihm die Hand und empfingen von ihm einen großen Löffel Pfefferschnaps, den sie sofort austranken: es war reinster, auf rotem indischen Pfeffer aufgesetzter Spiritus. Ich glaube, daß man mit diesem furchtbaren Pfefferschnaps jeden Verbrecher zum Geständnis bringen könnte. Hier müssen ihn aber alle trinken, sogar die Damen.

Man trank auf das Wohl aller Mitglieder der Zarenfamilie mit Ausnahme des Zarewitsch und seiner Gemahlin, obwohl sie beide anwesend waren. Jeder Trinkspruch wurde von Kanonensalven begleitet. Es wurde so geschossen, daß die Scheiben an einem Fenster entzweigingen.

Man wurde um so schneller betrunken, als in den Wein heimlich Schnaps gemischt wurde. In den niederen, von Menschen vollgepfropften Kajüten war es fürchterlich schwül. Die Männer zogen die Röcke aus und rissen sich gegenseitig gewaltsam die Perücken von den Köpfen. Die einen umarmten und küßten einander, die andern zankten sich, besonders die ersten Minister und Senatoren, die einander der Bestechlichkeit und aller möglichen Gaunereien und Diebereien beschuldigten.

»Du hast eine Mätresse, die dich doppelt soviel kostet, als du an Gehalt beziehst!« schrie der eine.

»Hast du aber die kleinen Reizker im Fäßchen vergessen?« entgegnete der andere.

Mit den Reizkern waren die Dukaten gemeint, die ein geschickter Bittsteller in einem Fäßchen als gesalzene Schwämme gespendet hatte.

»Und wieviel hast du an der Hanflieferung für die Admiralität verdient?«

»Ach, Brüder, was sollen wir einander Vorwürfe machen! Jede Seele, die da atmet, strebt nach einer warmen Semmel. Ob der Sünder ehrlich, ob er ein Betrüger ist, immer lebt er von der Sünde!«

»Bestechungsgelder sind doch nichts anderes als Akzidenzien.«

»Von einem Bittsteller nichts zu nehmen, ist eine widernatürliche Sache.«

»Aber nach dem Wortlaut des Gesetzes . . .«

»Was ist das Gesetz? Eine Deichsel. Man kann sie drehen, wohin man will.«

Der Zar hörte aufmerksam zu. Er hat folgende Angewohnheit: sobald alle betrunken sind, läßt er an der Türe Doppelposten aufstellen, die niemand hinauslassen dürfen; der Zar, der, soviel er auch trinken mag, niemals betrunken wird, stiftet absichtlich Zank unter seinen Höflingen und hetzt sie aufeinander; aus den Zänkereien der Betrunkenen erfährt er auf diese Weise Dinge, die er sonst niemals erfahren würde. Er verfährt nach dem Sprichwort: Wenn die Diebe streiten, bekommt der Bauer das Gestohlene zurück. So ein Trinkgelage ist wie eine gerichtliche Untersuchung.

Der erlauchte Fürst Menschikow und der Vizekanzler Schafirow gerieten sich in die Haare. Der Fürst nannte den Vizekanzler einen Juden.

»Wenn ich Jude bin, so bist du Pastetenbäcker!« entgegnete Schafirow. »Dein Vater löffelte seine Kohlsuppe mit dem Bastschuh. Unter einem Fasse bist du zur Welt gekommen. Ein feiner Fürst: aus dem Schmutze hat man dich herausgezogen und zu einem Fürsten gemacht! . . .«

»Und du bist ein kratziger Jude! Ich kann dich mit einem Fingernagel zerdrücken, so daß von dir nur ein nasser Fleck zurückbleibt . . .«

Lange schimpften sie hin und her. Die Russen sind überhaupt Meister im Schimpfen. Solche unflätige Flüche wie hier bekommt man, glaube ich, sonst nirgends zu hören. Die ganze Luft ist mit ihnen verpestet. In einem besonders gemeinen Schimpfworte, das aber alle, jung und alt, ständig im Munde führen, wird das Wort »Mutter« im Zusammenhang mit den unflätigsten Worten gebraucht. Dieses Schimpfwort wird auch allgemein das »Mutterwort« genannt. Und dieses Volk hält sich für das allerchristlichste!

Nachdem sie alle Schimpfworte erschöpft hatten, begannen die Würdenträger einander ins Gesicht zu spucken. Alle standen im Kreise herum, sahen zu und lachten. Solche Auftritte kommen hier jeden Augenblick vor und haben für die Beteiligten keinerlei Folgen.

Fürst Jakob Dolgorukij war mit dem Fürstzäsar Romodanowskij in Streit geraten. Diese beiden ehrwürdigen grauköpfigen Greise fuhren einander in die Haare und begannen einander zu würgen und mit Fäusten und dem Mutterschimpfwort zu traktieren, Als man sie auseinander zu bringen versuchte, zogen sie die Degen.

»Ei, dat ist nitt parmitted!« rief der Zar auf Holländisch, indem er auf sie zuging und sich zwischen sie stellte.

Der Protodiakon Peter Michailow hat vom Papste den Auftrag, »bei jeder Schlägerei mit Wort und Tat einzuschreiten«.

»Ich verlange Satisfaktion!« brüllte Fürst Jakob. »Es ist mir eine schwere Beleidigung zugefügt worden . . .«

»Kamerad,« sagte ihm der Zar, »wer hat über den Fürstzäsar Gewalt und wer kann ihn zur Rechenschaft ziehen, außer Gott? Auch ich bin sein Untergebener und stehe unter dem Kommando seiner Majestät. Und wie kann man auch von einer schweren Beleidigung sprechen? Die ganze Kumpanei von Bacchus ist durchaus nicht beleidigt, saufen – raufen, ausschlafen – sich wieder vertragen.«

Die Gegner mußten zur Strafe je einen Becher Pfefferschnaps trinken und fielen gemeinsam unter den Tisch.

Die Narren lärmten, krakeelten, übergaben sich und spuckten nicht nur einander, sondern auch anständigen Menschen ins Gesicht. Ein eigener Chor, der sogenannte »Frühling«, stellte den Gesang der Waldvögel von der Nachtigall bis zur Grasmücke dar; es wurde dabei so laut gepfiffen, daß die Töne als ein gellendes Echo von den Wänden widerhallten. Es erklang ein wildes Tanzlied mit fast sinnlosen Worten, die an die Schreie auf einem Hexensabbat erinnerten:

Brenne, haue, Schlag auf Schlag,
Tanz bis an den hellen Tag!
Tanz den Trepak immerzu,
Schone weder Fuß noch Schuh!

In unserer Damenabteilung begann die betrunkene greise Hofnärrin, die Fürstin-Äbtissin Rhewskaja, eine echte alte Hexe, zu tanzen; sie raffte ihre Kleider hoch und sang mit ihrer vom Trinken heiseren Stimme:

Tanze, tanz, mein Eichenknüppel,
Spiele, spiele Dudelsack!
Fiel mein Schwäher heut vom Ofen,
Fiel vom Ofen auf die Bank.
Wußt ich, daß er fällt herab,
Hätt' ich höher ihn gebettet,
Hätt' ich höher ihn gebettet,
Und dann wär' er schon im Grab.

Die Zarin, mit auf die Seite gerutschter Frisur, in Schweiß gebadet, über und über rot und betrunken, klatschte in die Hände, stampfte mit den Füßen, schrie: »Brenne, haue!« und lachte wie wahnsinnig. Zu Beginn des Festes ließ sie Ihrer Hoheit keine Ruhe und ermunterte sie mit verschiedenen seltsamen Sprichwörtern, an denen die russische Sprache ungemein reich ist, zum trinken: »Glas auf Glas ist nicht Stock auf Stock. Ohne Begießen trocknet auch der Kohl ein. Auch die Henne trinkt.« Als sie aber merkte, daß es der Kronprinzessin beinahe übel wurde, hatte sie Mitleid mit ihr und ließ von ihr ab; sie goß ihr sogar, ebenso auch uns Hofdamen, heimlich Wasser in den Wein, was bei solchen Trinkgelagen als ein großes Verbrechen gilt.

Als die Nacht zu Ende ging – wir hatten von sechs Uhr abends bis vier Uhr morgens am Tische gesessen – trat die Zarin einige Mal an die Tür, rief den Zaren heraus und fragte:

»Ist noch nicht Zeit aufzubrechen, Väterchen?«

»Es macht nichts, Kathenka, morgen ist ein arbeitsfreier Tag,« antwortete der Zar.

Ab und zu hob ich den Vorhang und blickte in die Männerabteilung hinein: jedesmal sah ich etwas Neues.

Jemand ging über den Tisch und trat mit dem Stiefel in eine Platte mit Fischgallerte. Diese selbe Gallerte hatte der Zar soeben dem Reichskanzler Golowkin, der keine Fische leiden mochte, gewaltsam in den Mund gestopft; die Kammerjunker hielten ihn an Händen und Füßen fest, er suchte sich loszureißen, keuchte und war ganz blau und rot. Der Zar ließ Golowkin endlich in Ruhe und machte sich an den Residenten von Hannover, Weber, heran; er liebkoste und küßte ihn, umschlang mit der einen Hand seinen Kopf, hielt ihm mit der andern ein Glas vor den Mund und beschwor ihn, das Glas zu leeren. Dann nahm er ihm die Perücke ab, küßte ihn bald auf den Nacken und bald auf den Scheitel, zog ihm die Lippen auseinander und küßte ihn auf das Zahnfleisch. Man sagt, der Grund aller dieser Liebkosungen sei der Wunsch des Zaren, dem Residenten irgendein diplomatisches Geheimnis zu entlocken. Mussin-Puschkin, den man am Halse kitzelte – er kann das Kitzeln nicht vertragen, und der Zar will ihn durchaus daran gewöhnen – quietschte wie ein Ferkel unter dem Schlachtmesser. Der Großadmiral Apraxin schluchzte laut. Der Geheime Rat Tolstoi kroch auf allen Vieren umher; wie es sich später zeigte, war er gar nicht so sehr betrunken; er stellte sich nur so, um nicht mehr trinken zu müssen. Dem Vizeadmiral Cruys hatte man mit einer Flasche beinahe den Schädel zertrümmert. Fürst Menschikow lag mit blau angelaufenem Gesicht wie tot da; man rieb ihm Arme und Beine und suchte ihn ins Bewußtsein zurückzubringen, damit er nicht sterbe; bei solchen Trinkgelagen sind Todesfälle gar nicht selten. Der Beichtvater des Zaren, der Archimandrit Fedoß hatte furchtbares Erbrechen. »Es ist mein Tod! Heilige Mutter Gottes!« stöhnte er fortwährend. Der Fürst-Papst lag mit dem ganzen Körper auf dem Tisch, das Gesicht in einer Weinlache, und schnarchte.

Das Pfeifen und Heulen, das Klirren der zerbrochenen Gläser und Teller, die Mutterschimpfworte und Maulschellen, denen niemand mehr Beachtung schenkte, hingen nur so in der Luft. Es stank wie in der schmutzigsten Branntweinschenke. Wenn man jemand aus der frischen Luft hergebracht hätte, so wäre ihm, glaube ich, schlecht geworden.

Mir wurde es ganz dunkel vor den Augen; zuweilen verlor ich die Besinnung. Die Menschengesichter erschienen mir als Tierfratzen; am schrecklichsten war aber das Gesicht des Zaren: breit, rund, mit etwas schräg stehenden, großen, glotzenden Augen und mit dem nach oben gezwirbelten spitzen Schnurrbart erinnerte es an das Gesicht einer großen raubgierigen Katze oder eines Tigers. Es bewahrte einen ruhigen und spöttischen Ausdruck. Der Blick war klar und durchdringend. Er allein war nüchtern und blickte neugierig in die schändlichsten Geheimnisse, in die bloßgelegten Eingeweide der Menschenseelen hinein, die sich vor ihm in dieser Folterkammer, wo der Wein das Folterwerkzeug war, auftaten.

Man weckte den Fürst-Papst und hob ihn vom Tische. Der Fürstzäsar hatte inzwischen unter dem Tische ausgeschlafen. Nun mußten sie beide, der eine dem andern gegenüber, tanzen, wobei man sie unter den Armen hielt, da keiner von ihnen auf den Füßen stehen konnte. Der Papst hatte eine mit einem nackten Bacchus geschmückte Narrentiara auf dem Kopfe und ein Kreuz aus Pfeifenrohren in der Hand. Der Zäsar – eine Narrenkappe und ein Zepter. Der Zarewitsch lag sinnlos betrunken, wie tot auf dem Fußboden zwischen diesen beiden Narren, den beiden Gespenstern der alten Herrlichkeit – des russischen Zaren und des russischen Patriarchen.

Was weiter kam, weiß ich nicht mehr; ich will mich auch gar nicht mehr daran erinnern, denn es war zu ekelhaft.

Auf den Nachbarschiffen wurde Reveille geschlagen. Auch auf unserm Schiffe erklang die Trommel: der Zar selbst – er ist ein vorzüglicher Trommler – schlug Appell.

Das bedeutete: »Wir haben heute eine schwere Bataille gegen Iwaschka Chmelnitzkij (den russischen Bacchus) ausgefochten, und er hat alle geschlagen.« Die Grenadiere schafften die betrunkenen Würdenträger fort, wie die Leichen von Gefallenen vom Schlachtfelde.

Als wir endlich den Himmel über uns sahen, war es uns, als ob wir, poetisch gesprochen, aus der Hölle, und prosaisch, aus der Mistgrube herauskämen.

 

9. Mai.

Der Zar verließ heute mit einer großen Flotte Petersburg, um gegen die Schweden zu ziehen.

 

20. Mai.

Lange habe ich nichts in mein Tagebuch eingetragen. Ihre Hoheit war nach dem letzten Trinkgelage krank. Ich wich nicht von ihrem Bett. Was soll ich auch schreiben? Alles ist so traurig, daß ich gar keine Lust habe, zu sprechen oder zu denken. Mag kommen, was kommen mag.

 

25. Mai.

Ich hatte mich nicht getäuscht. Der Frieden war von kurzer Dauer. Zwischen dem Zarewitsch und Ihrer Hoheit ist wieder eine schwarze Katze gelaufen; nun sehen sie sich wieder wochenlang nicht. Auch er ist krank. Die Ärzte meinen, es sei die Schwindsucht. Ich glaube, es kommt einfach vom Trinken.

 

4. Juni.

Heute kam der Zarewitsch in einem grauen deutschen Reiseanzug zu uns, sprach über gleichgültige Dinge und erklärte dann unvermittelt:

»Adieu. Ich gehe nach Karlsbad.«

Die Kronprinzessin war so erstaunt, daß sie gar nicht wußte, was sie dazu sagen sollte; sie fragte ihn nicht einmal, für wie lange er fortreise. Ich glaubte, er mache nur Spaß. Es stellte sich aber heraus, daß er sofort, nachdem er uns verlassen, sich in den Postwagen setzte und davonfuhr. Man sagt, daß er zur Kur in ein Bad gereist sei.

So sind wir jetzt allein, ohne den Zaren und ohne den Zarewitsch.

Die Eltern Ihrer Hoheit haben wohl dem hiesigen dummen Klatsch Glauben geschenkt, sind ihr böse und schreiben ihr deswegen nicht mehr. Nun sind wir von allen verlassen.

 

7. Juni.

Ein Brief des Zaren an Ihre Hoheit:

»Ich möchte Ihnen nicht gern Ungelegenheiten machen, auch nicht gegen mein Gewissen handeln; doch die Abwesenheit Ihres Gemahls, meines Sohnes, zwingt mich dazu, um den Verleumdungen der bösen Zungen, die gewohnt sind, die Wahrheit in Lüge zu verwandeln, zuvorzukommen. Und da sich überall das Gerücht verbreitet hat, daß Sie über ein Jahr lang schwanger sind, so muß ich für den Fall, daß Sie mit Gottes Hilfe glücklich niederkommen, gewisse Anstalten treffen, über die Sie der Herr Kanzler Graf Golowkin näher unterrichten wird. Wollen Sie meine Anordnungen befolgen, damit allen, die die Lüge lieben, der Mund verstopft werde.«

Die »Anstalten« wurden getroffen; man stellte bei Ihrer Hoheit drei ihr völlig unbekannte Weiber an: die Kanzlerin Golowkina, die Generalin Bruce und die alte Hofnärrin, die Fürstinäbtissin Rshewskaja, dieselbe, die beim letzten Trinkgelage getanzt hatte. Diese drei Megären lassen sie nicht aus dem Auge; sie »behüten« sie oder spionieren.

Was hat das ganze zu bedeuten? Was wird befürchtet? Was für einem Betrug will man zuvorkommen? Vielleicht der Unterschiebung eines Knaben an Stelle eines Mädchens, durch diejenigen, die die Thronfolge der Nachkommenschaft des Zarewitsch sichern wollen? Oder ist es nur eine übertriebene Liebenswürdigkeit der Zarin?

Jetzt erst begriffen wir, wie man uns verdächtigt und haßt. Die ganze Schuld Charlottens besteht nur darin, daß sie die Frau ihres Mannes ist. Der Vater ist gegen den Sohn, und wir stehen zwischen ihnen wie zwischen zwei Feuern.

»Ich werde mich gehorsam dem Willen Eurer Majestät, drei Damen zu meiner Bewachung anzustellen, fügen,« antwortete Charlotte dem Zaren. »Um so mehr als es mir auch im Traume niemals einfiel, Eure Majestät oder den Kronprinzen betrügen zu wollen; diese seltsame und von mir unverschuldete Anordnung ist für mich daher besonders kränkend. Ich hatte angenommen, daß die mir so oft versprochene Gnade und Liebe Eurer Majestät mir dafür bürgen müßten, daß niemand es wagen würde, mich durch Verleumdungen zu beleidigen, und daß die Schuldigen wie Verbrecher bestraft werden würden. Es ist wahrlich traurig, daß meine Neider und Gegner genügend Macht haben, um eine solche Intrige gegen mich anzuzetteln. Gott ist meine einzige Hoffnung hier in der Fremde. Und da ich jetzt von allen verlassen bin, wird Er meine Herzensseufzer erhören und meine Leiden abkürzen!«

 

12. Juli.

Heute um 7 Uhr früh kam Ihre Hoheit glücklich mit einer Tochter nieder.

Vom Zarewitsch hören wir nichts.

 

1. August.

Es kam die Nachricht vom Siege der Russen über die Schweden bei Hangöudd am 27. Juli; es heißt, daß man ein ganzes Geschwader mit dem Schout-bij-nacht Ehrenskiöld gefangen genommen habe. Den ganzen Tag läuteten die Glocken und donnerten die Kanonen. Man spart hier übrigens mit dem Pulver nicht: anläßlich des unbedeutendsten Sieges, wenn man drei oder vier durchfaulte Galeeren erobert hat, schießt man so, als ob man die ganze Welt besiegt hätte.

 

9. September.

Der Zar ist nach Petersburg zurückgekehrt. Es wird wieder geschossen wie in einer belagerten Stadt. Wir sind schon fast taub geworden. Es gibt unendliche Triumphprozessionen und Feuerwerke mit prahlerischen Allegorien: der Zar wird gefeiert wie ein Eroberer der Welt, wie ein Cäsar oder ein Alexander. Es fand ein Gelage statt, an dem wir Gott sei Dank nicht teilnahmen. Man sagt, daß sie sich wie die Schweine betrunken haben.

 

13. September.

Regen und Schmutz. In den Fenstern ein niedriger, dunkler, gleichsam steinerner Himmel. Auf den nackten Ästen krächzen nasse Raben.

Gram und Langeweile!

 

19. September.

Ich traf heute die Kronprinzessin weinend über den alten Briefen des Zarewitsch sitzen, die er ihr als Bräutigam geschrieben hatte. Schiefe, unzusammenhängende Buchstaben auf Bleistiftlinien. Hohle Komplimente, diplomatische Artigkeiten. Und darüber weint die Arme!

Wir erfuhren auf Umwegen, daß der Zarewitsch in Karlsbad inkognito lebt und daß er vor dem Winter nicht zurückkehrt.

 

20. September.

Um mich abzulenken und nicht immerfort an unsere Angelegenheiten zu denken, habe ich heute beschlossen, mir alles aufzuschreiben, was ich vom Zaren höre und sehe.

Leibniz hat recht: »Quanto magis hujus Principis indolem prospicio, tanto eam magis admiror. – Je mehr ich den Charakter dieses Fürsten beobachte, um so mehr muß ich ihn bewundern.«

 

1. Oktober.

Ich sah, wie der Zar in der Admiralitätsschmiede Eisen schmiedete. Die Höflinge halfen ihm dabei: sie machten Feuer, betätigten den Blasebalg, trugen Kohle und beschmutzten ihre seidenen und samtenen goldgestickten Röcke.

»Das ist mir ein richtiger Zar! Er will nicht umsonst sein Brot essen. Er arbeitet fleißiger als jeder Barkenzieher!« sagte einer der einfachsten Arbeiter, die dabei standen.

Der Zar hatte sich einen Lederschurz vorgebunden, das Haar mit einem Bindfaden festgemacht und die Ärmel über die nackten Arme mit den hervorstehenden Muskeln gestreift. Sein Gesicht war mit Ruß beschmutzt. Der riesengroße Schmied glich, vom roten Widerschein der Kohlenglut beleuchtet, einem unterirdischen Titanen. Er schlug mit dem Hammer auf das weißglühende Eisen mit solcher Kraft, daß die Funken wie ein Regen stoben, und der Amboß zitterte und dröhnte, als ob er in Stücke zerspringen wollte.

»Zar, du willst aus dem Eisen des Mars ein neues Rußland schmieden; der Hammer und auch der Amboß werden es aber kaum aushalten können!« An diese Worte eines alten Bojaren mußte ich heute denken.

* * *

»Die Zeit gleicht dem glühenden Eisen, welches, wenn es erkaltet, zum Schmieden nicht mehr taugt,« pflegt der Zar zu sagen. Und er, der Schmied Rußlands, schmiedet es, solange das Eisen heiß ist. Er kennt keine Ruhe, sein ganzes Leben lang ist er in großer Eile. Es scheint, daß er, selbst wenn er wollte, gar nicht ausruhen und innehalten könnte. Er bringt sich durch seine fieberhafte Tätigkeit um, durch die ungeheure Anspannung aller Kräfte, die wie ein ewiger Krampf ist. Die Ärzte meinen, daß es mit seiner Kraft abwärts gehe und daß er nicht mehr lange zu leben habe. Er kuriert sich immer mit dem Eisenwasser von Olonetzk, trinkt aber dabei Schnaps, so daß die Brunnenkur nur schädlich ist.

Der erste Eindruck, den er macht, ist Ungestüm. Er ist ganz Bewegung; er geht nicht, er läuft immer. Der Wiener Gesandte, Graf Kinski, ein ziemlich dicker Mann, behauptet, daß er es vorziehen würde, einige Schlachten mitzumachen, als zwei Stunden in Audienz beim Zaren zu sein; denn er müsse trotz seiner Wohlbeleibtheit die ganze Zeit hinter ihm herlaufen, so daß er selbst beim starken russischen Frost in Schweiß gebadet sei. »Die Zeit ist wie der Tod,« sagt immer der Zar. »Jede Versäumnis gleicht dem Tod, von dem es keine Auferstehung gibt.«

* * *

Seine Elemente sind Feuer und Wasser. Er liebt sie wie ein Geschöpf, das in ihnen geboren ist: das Wasser wie ein Fisch, das Feuer wie ein Salamander. Er liebt das Kanonenschießen und allerlei Experimente mit Feuer und Feuerwerk leidenschaftlich. Er zündet es immer selbst an und geht buchstäblich ins Feuer; einmal versengte er sich in meiner Gegenwart die Haare. Er sagt, er wolle seine Untertanen an das Feuer der Schlachten gewöhnen. Es ist aber nur eine Ausrede: er liebt ganz einfach das Feuer.

Mit gleicher Leidenschaft liebt er das Wasser. Der Nachkomme der Moskauer Zaren, die niemals das Meer gesehen haben, sehnte sich schon als Kind in den dumpfen Kammern des Kremls nach dem Meere, wie ein wildes Gänschen im Hühnerhofe sich nach dem Wasser sehnt. Er schwamm in kleinen Schiffchen, die mehr Spielzeuge waren, auf den künstlichen Teichen. Und als er endlich einmal das Meer erblickte, trennte er sich nicht mehr von ihm. Den größten Teil seines Lebens verbringt er auf dem Wasser. Jeden Tag nach dem Essen schläft er auf einer Fregatte, wenn er krank ist, siedelt er ganz auf ein Schiff über, und die Seeluft hilft ihm in fast allen Fällen. Im Sommer ist es ihm in den großen Gärten von Peterhof zu schwül. Er richtete sich ein Schlafzimmer in Monplaisir ein, einem kleinen Häuschen, das auf einer Seite vom Wasser des Finnischen Meerbusens bespült wird. Eines seiner Schlösser in Petersburg steht mitten im Wasser auf einer Sandbank in der Newamündung. Auch das Palais im Sommergarten ist auf zwei Seiten von Wasser umgeben; die Stufen führen direkt ins Wasser wie in Amsterdam oder in Venedig. Einmal im Winter, als die Newa bereits zugefroren war und nur noch vor dem Schlosse ein eisfreies Loch, kaum hundert Schritte im Umfange, geblieben war, schwamm er darin in einem winzigen Schiffchen wie eine Ente in einer Pfütze umher. Und als auch dieses Loch zugefroren war, ließ er vor dem Quai eine Fläche, etwa dreißig Schritt breit und hundert lang, vom Schnee säubern und täglich fegen; ich sah selbst, wie er auf dieser Eisfläche in einem kleinen netten Boot, das auf stählerne Kufen gesetzt war, spazieren fuhr. »Wir schwimmen auf dem Eise, um im Winter unsere Navigationsübungen nicht zu vergessen,« pflegte er zu sagen. Auch in Moskau fuhr er einmal um die Fastnachtszeit in einem großen Schlitten, der mit Segeln ausgerüstet war und an ein wirkliches Schiff erinnerte, durch die Straßen. Er liebt es, junge Wildenten und Wildgänse, die ihm die Zarin schenkt, ins Wasser zu setzen. Und wie freut er sich über ihre Freude! Ganz als ob er selbst ein Wasservogel wäre.

* * *

Er sagt, daß er sich damals fürs Meer zu interessieren anfing, als er den Bericht des Chronisten Nestor über die Seefahrt des Kijewer Fürsten Oleg nach Konstantinopel gelesen hatte. Wenn das wahr ist, so läßt er im Neuen das Alte wiedererstehen, und im Fremden das Verwandte, vom Meere über Land zum Meere – das ist der Weg Rußlands.

* * *

Zuweilen scheint es mir, daß sich in ihm die Gegensätze seiner beiden Elemente, des Wassers und des Feuers, zu einem einzigen seltsamen und fremden, ich weiß nicht, ob zu einem guten oder bösen, göttlichen oder teuflischen, jedenfalls aber übermenschlichen Wesen vereinen.

* * *

Er ist von einer ganz wilden Menschenscheu. Ich sah mit eigenen Augen, wie er beim feierlichen Empfang von Gesandten, auf dem Throne sitzend, verlegen war, errötete, schwitzte, jeden Augenblick, um sich Mut zu machen, Tabak schnupfte, gar nicht wußte, wohin er seine Blicke richten sollte und sogar den Blicken der Zarin auswich. Als aber die Zeremonie zu Ende war und er vom Throne aufstehen durfte, freute er sich wie ein Schuljunge. Die Markgräfin von Brandenburg erzählte mir, daß der Zar bei seiner ersten Begegnung mit ihr – er war damals allerdings noch sehr jung – sich von ihr abgewandt, das Gesicht wie ein junges Mädchen mit den Händen bedeckt und immer wiederholt hätte: »Je ne sais pas m'exprimer.« Bald gab er aber seine Schüchternheit auf und wurde sogar etwas gar zu ungezwungen: er versuchte, durch Betasten festzustellen, ob die harten Taillen der deutschen Damen, über die die Russen immer staunten, von angeborener Körperstruktur oder von den Fischbeineinlagen in den Miedern herrührten. »Il pourrait être un peu plus poli!« bemerkte die Markgräfin. Baron Manteuffel erzählte mir von der Zusammenkunft des Zaren mit der Königin von Preußen: »Er war so ungemein liebenswürdig, daß er ihr sogar die Hand reichte, nachdem er zuvor einen ziemlich schmutzigen Handschuh angezogen hatte. Beim Abendessen übertraf er sich selbst: er stocherte nicht in den Zähnen, stieß nicht auf und brachte auch keine anderen unanständigen Töne hervor (il n'a ni roté, ni pété)

Wenn er in Europa reiste, verlangte er immer, daß niemand ihn anschauen dürfe, daß die Straßen und Gassen, über die er fuhr, vollkommen leer seien. Er betrat und verließ die Häuser durch geheime Ausgänge. Die Museen besuchte er nur nachts. Als er einmal in Holland durch einen Saal gehen mußte, in dem die Generalstaaten ihre Sitzung hatten, bat er, der Präsident möchte die Abgeordneten veranlassen, ihm den Rücken zu kehren; und als sie aus Achtung vor dem Zaren sich weigerten, dies zu tun, zog er sich die Perücke über die Nase, ging schnell durch den Saal und den Vorraum und lief die Treppe hinunter. Als er in Amsterdam auf einem Kanale spazieren fuhr und sah, daß ein Boot mit Neugierigen sich dem seinigen nähern wollte, geriet er in solche Raserei, daß er dem Steuermann zwei leere Flaschen an den Kopf warf und ihm beinahe den Schädel zertrümmert hätte. Ein echter Wilder und Kannibale. Im aufgeklärten Europäer steckt noch der russische Waldteufel.

Ein Wilder und ein Kind. Alle Russen sind, übrigens, Kinder. Der Zar allein spielt unter ihnen den Erwachsenen. Ich werde niemals vergessen, wie der Held von Poltawa auf einem Dorfjahrmarkt bei Wolfenbüttel auf dem hölzernen Pferdchen eines armseligen Karussells herumritt, Messingringe mit einem Stocke auffing und sich wie ein kleiner Junge amüsierte.

Die Kinder sind grausam. Sein Lieblingsvergnügen ist, die Menschen zu etwas zu zwingen, was ihrer Natur widerstrebt: Leuten, die keinen Wein, Öl, Käse, Austern oder Essig vertragen können, stopft er diese Dinge bei jeder Gelegenheit gewaltsam in den Mund. Er kitzelt diejenigen, die sich vor dem Kitzeln fürchten. Viele, die ihm einen Gefallen erweisen wollen, heucheln eine Abneigung gegen das, womit er sie zu necken liebt.

Seine Späße sind zuweilen fürchterlich, besonders zur Fastnachtszeit. »Seine Vergnügungen,« sagte mir einmal ein alter Bojare, »sind so entsetzlich, daß viele sich auf diese Tage wie auf den Tod vorbereiten.« Er läßt Menschen an einem Seil unter dem Eise von einem Loch zum anderen ziehen. Andere läßt er mit dem nackten Hinteren auf das Eis setzen. Oder er zwingt einen so viel zu trinken, bis er den Geist aufgibt.

So spielt ein Wesen aus einer anderen Welt, ein Faun oder ein Zentaur mit den Menschen und verstümmelt und tötet sie ohne böse Absicht.

Als er einmal in der Anatomie von Leyden sah, wie die Muskeln einer Leiche mit Terpentin durchtränkt wurden, und wie einer seiner russischen Begleiter den größten Abscheu davor zeigte, packte er ihn am Kragen, drückte ihn mit dem Gesicht gegen den Tisch und zwang ihn, mit den Zähnen eine Muskel von der Leiche abzubeißen.

Manchmal ist es schwer zu sagen, wo in solchen Späßen die kindliche Ausgelassenheit aufhört und die tierische Grausamkeit anfängt.

* * *

Neben der wilden Menschenscheu zeigt er auch eine wilde Schamlosigkeit, besonders Frauen gegenüber.

»Il faut que Sa majesté ait dans le corps une légion de démons de luxure. – Ich glaube, daß im Körper Seiner Majestät eine ganze Legion von Teufeln der Wollust wohnt,« sagt sein Leibarzt Blumentrost. Er glaubt, daß der »Skorbut« des Zaren von einer anderen veralteten Krankheit herrühre, die er sich noch in seiner frühesten Jugend geholt haben soll.

Nach dem Ausspruche eines Russen aus der neuen Generation hat der Zar »eine politische Nachsicht gegen die Sünden des Fleisches«. Je mehr fleischliche Sünden es gibt, um so mehr Rekruten kommen zur Welt, und diese braucht er. Für ihn selbst ist die Liebe nur »ein Erwachen der Natur«. Als einmal in England eine Kurtisane mit einem Geschenk von fünfhundert Guineen, die sie vom Zaren erhalten hatte, unzufrieden war, sagte Peter zu Menschikow: »Du glaubst, ich sei ebenso verschwenderisch wie du? Für fünfhundert Guineen dienen mir alte Männer mit Eifer und Verstand; diese da hat mich aber schlecht bedient, du weißt selbst womit!«

Die Zarin ist nicht im geringsten eifersüchtig. Er weiht sie in alle seine Abenteuer ein, schließt aber jedesmal mit dem gleichen Kompliment: »Und doch bist du besser als alle die andern, Kathenka!«

Über die Kammerjunker des Zaren sind seltsame Gerüchte im Umlauf. Der eine von ihnen, General Jagushinskij, soll die Gnade des Zaren durch Mittel erworben haben, über die man nicht sprechen kann. Der schöne Lefort genoß nach den Worten eines gewissen alten Schwerenöters eine solche »Konfidenz des Zaren in amoureusen Dingen«, daß sie sogar eine gemeinsame Geliebte hatten. Man sagt, daß die Zarin, bevor sie die Geliebte des Zaren geworden, eine Geliebte Menschikows gewesen sei, der wiederum nur an die Stelle Leforts getreten war. Menschikow, dieser »aus Gemeinheit hervorgegangene Mann«, der, nach einem Ausspruche des Zaren, »in Freveln empfangen, in Sünden von seiner Mutter geboren, dereinst als Schelm sein Leben beschließen wird«, hat eine ganz unerklärliche Macht über ihn. Der Zar mißhandelt ihn zuweilen wie einen Hund; er wirft ihn zu Boden und tritt ihn mit den Füßen; man glaubt, alles sei zwischen ihnen zu Ende; im nächsten Augenblick sind sie aber wieder versöhnt und küssen sich. Ich hörte mit meinen eigenen Ohren, wie der Zar ihn seinen »liebsten Alexascha« und sein »Herzenskind« nannte und wie dieser mit ähnlichen Worten antwortete. Dieser ehemalige Pastetenbäcker ist so unverschämt geworden, daß er einmal, allerdings im Rausche, zum Zarewitsch sagte: »Du bekommst die Krone ebensowenig zu sehen wie deine Ohren. Sie gehört mir!«

 

8. Oktober.

Heute wurde die Frau eines holländischen Kaufherrn beerdigt, die an der Wassersucht gestorben war. Der Zar hatte sie eigenhändig operiert und ihr das Wasser abgelassen. Man sagt, sie sei weniger an ihrer Krankheit, als an der Operation gestorben. Der Zar nahm wie an der Beerdigung so auch am Leichenschmaus teil. Er trank und war guter Dinge. Er hält sich für einen großen Chirurgen. Immer trägt er ein Besteck mit Lanzetten bei sich. Alle, die irgendein Geschwür oder eine Geschwulst haben, verbergen sie sorgfältig vor dem Zaren, damit er sie ihnen nicht öffnet. Er hat eine krankhafte anatomische Neugierde. Er kann keine Leiche sehen ohne sie zu sezieren. Er anatomisiert selbst die Leichen seiner nächsten Angehörigen.

Er liebt es auch Zähne zu ziehen. Er hat diese Kunst in Holland bei umherziehenden Zahnreißern erlernt. In der hiesigen Kunstkammer wird ein ganzer Sack mit den von ihm gezogenen faulen Zähnen aufbewahrt.

Er hat eine zynische Neugierde für alle Leiden und zynisches Mitleid. Einem seiner Pagen, einem Negerjungen, hat er einmal eigenhändig einen Bandwurm herausgezogen.

* * *

Sein ganzes Wesen ist eine Verbindung von Kraft und Schwäche. Das kommt auch in seinem Gesicht zum Ausdruck: er hat so schreckliche Augen, daß viele Menschen vor seinem Blick in Ohnmacht fallen; es sind viel zu aufrichtige Augen; seine Lippen sind aber zart, fein, lächelnd, beinahe weiblich. Sein Kinn weich, etwas aufgedunsen, rund, mit einem Grübchen in der Mitte.

Von seinem in der Schlacht bei Poltawa durchschossenen Hute wird genug gesprochen. Ich zweifle auch nicht, daß er zuweilen tapfer sein kann, besonders bei einem Siege. Alle Sieger sind sehr tapfer. Ist er aber auch sonst so tapfer, wie man annimmt?

Der sächsische Ingenieur Hallart, der am Feldzuge von Narwa im Jahre 1700 teilgenommen hat, erzählte mir, daß der Zar, als er vom Heranrücken Karls XII. erfahren hatte, den Oberbefehl dem Herzog von Croy mit einer in größter Eile abgefaßten Instruktion ohne Datum und Siegel, die »nicht gehauen, nicht gestochen« gewesen sei, übergeben und selbst »in größter Verwirrung« das Schlachtfeld verlassen habe.

Ein gefangener Schwede, der Graf Piper, zeigte mir einmal eine von den Schweden geprägte Medaille. Auf der einen Seite ist der Zar dargestellt, wie er sich am Feuer seiner Geschütze wärmt, aus denen Bomben auf das belagerte Narwa fliegen; die Aufschrift lautet: »Petrus aber wärmte sich« – eine Andeutung auf den Apostel Petrus im Hofe des Kaiphas. Auf der andern Seite sieht man die aus Narwa fliehenden Russen mit Peter an der Spitze; die Zarenkrone fällt ihm vom Kopfe, er hat den Degen weggeworfen und wischt sich die Tränen mit einem Tuche. Darüber die Inschrift: »Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich«.

Vielleicht ist es auch eine Lüge; warum würde es aber niemand wagen, über Alexander oder Cäsar ähnliche Lügen zu erfinden?

Auch im Pruther Feldzuge geschah etwas sehr Merkwürdiges: im gefährlichsten Augenblicke hatte der Zar die Absicht, das Heer zu verlassen, um mit frischen Regimentern zurückzukehren. Er tat es nur aus dem Grunde nicht, weil der Rückzug abgeschnitten war. »Noch niemals,« schrieb er an den Senat, »seit ich diene, befanden wir uns in solcher Desperation.« Das hat ja auch den gleichen Sinn: »Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.«

Blumentrost sagt – und die Ärzte wissen von den Helden Dinge, die die Nachkommen niemals erfahren werden –, daß der Zar keinerlei körperlichen Schmerz ertragen könne. Bei einer schweren Krankheit, die man für tödlich hielt, hätte er sich gar nicht wie ein Held benommen.

»Es ist kaum zu glauben,« rief in meiner Gegenwart ein Russe, der eine Lobrede auf den Zaren hielt, »daß dieser große und unerschrockene Held sich vor einem so winzigen Ungeziefer wie die Küchenschabe fürchtet!« Wenn der Zar über Land reist, so baut man für seine Nachtquartiere neue Häuser, weil man in den russischen Dörfern unmöglich ein Haus ohne Küchenschaben finden kann. Ebensolche Angst hat er vor Spinnen und allen anderen Insekten. Ich habe einmal selbst beobachtet, wie er beim Anblick einer Küchenschabe erblaßte, erzitterte und solche Grimassen schnitt, als ob er ein Gespenst oder ein übernatürliches Ungeheuer erblickt hätte; es hätte nur ein weniges gefehlt, und er wäre wie ein feiges Weib in Ohnmacht gefallen, oder hätte einen Anfall bekommen. Wenn man sich mit ihm einen Scherz erlauben dürfte, wie er sie mit anderen treibt, und ihm auf den nackten Körper ein halbes Dutzend Küchenschaben oder Spinnen setzte, so würde er vielleicht auf der Stelle sterben; die Historiker würden es aber natürlich nicht glauben wollen, daß der Besieger Karls XII. an der Berührung von Küchenschaben gestorben sei. Es ist etwas Erstaunliches in dieser Angst des riesengroßen Zaren, vor dem alle zittern, vor der winzigen, harmlosen Kreatur. Ich mußte an die Leibnizsche Lehre von dem Monaden denken: nicht die physische, sondern die metaphysische, urgeschaffene Natur der Insekten scheint der Natur des Zaren feindlich zu sein. Seine Furcht erschien mir nicht nur komisch, sondern auch fürchterlich: als ob ich plötzlich in ein uraltes Geheimnis hineingeblickt hätte.

* * *

Als einmal in der hiesigen Kunstkammer ein deutscher Gelehrter der Zarin Experimente mit der Luftpumpe zeigte und unter die Glasglocke eine Schwalbe setzte, sagte der Zar, als er den erstickenden Vogel zittern und die Flügel schlagen sah:

»Genug, nimm dem unschuldigen Geschöpf nicht das Leben; die Schwalbe ist kein Räuber.«

»Ich glaube, ihre Kinder werden im Nest nach ihr weinen!« fügte die Zarin hinzu. Dann nahm sie die Schwalbe in die Hand, trug sie zum Fenster und ließ sie fliegen.

Der empfindsame Peter! Wie seltsam das klingt. Und doch liegt auf seinen feinen, zarten, fast weiblichen Lippen, auf seinem runden Kinn mit dem Grübchen etwas wie Empfindsamkeit; so erschien er mir wenigstens in dem Augenblick, als die Zarin von den im Neste weinenden Schwalbenjungen sprach.

Und doch hatte er am selben Tage jenen schrecklichen Ukas erlassen:

»Seine Zarische Majestät geruhte zu bemerken, daß bei den zur lebenslänglichen Zwangsarbeit verurteilten Verbrechern die Nasenflügel viel zu nachlässig herausgerissen werden; seine Zarische Majestät haben daher befohlen, die Nasenflügel in der Zukunft bis auf den Knochen zu zerreißen, damit ein solcher Verbrecher, falls es ihm gelingt, zu fliehen, sich nirgends verbergen könne und leicht einzufangen wäre.«

Oder ein anderer Ukas im Admiralitätsreglement:

»Falls jemand selbst Hand an sich legt, so ist er auch als Leiche an den Beinen aufzuhängen.«

* * *

Ob er grausam ist? Das ist eine Frage.

»Wer grausam ist, ist kein Held,« lautet einer der Aussprüche des Zaren, denen ich nicht zu viel Glauben schenke: solche Aussprüche sind allzusehr für die Nachkommen berechnet. Die Nachkommen werden aber erfahren, daß er, der gegen die Schwalbe Mitleid zeigte, seine Schwester zu Tode gemartert hat, seine Frau martert und wahrscheinlich auch den Sohn zu Tode martern wird.

* * *

Ist er wirklich so einfältig, wie er aussieht? Auch das ist eine Frage. Ich weiß, wieviel Anekdoten heute über den Zar-Zimmermann von Zaandam im Umlauf sind. Ich muß gestehen, daß diese Anekdoten mir immer höchst langweilig vorkamen: sie sind allzu moralisch und erinnern an Bildchen in Schreibvorlagen.

»Verstellte Einfalt,« sagte von ihm einmal ein kluger Deutscher. Ein russisches Sprichwort lautet: »Einfalt ist schlimmer als Gaunerei.«

In den kommenden Jahrhunderten werden natürlich alle Pedanten und Schuljungen wissen, daß Zar Peter sich aus Sparsamkeit selbst die Strümpfe gestopft und die Schuhe geflickt hat. Was mir aber neulich ein russischer Kaufmann, ein Holzlieferant, erzählte, werden sie wohl nie erfahren:

»Es liegen zahllose Eichenstämme am Ladogasee, vom Sande verschüttet, und faulen. Wenn aber jemand einen Baum fällt, so wird er mit der Knute bestraft und gehängt. Menschenblut und Menschenfleisch sind billiger als Eichenholz!«

Ich hätte hinzufügen können: billiger als zerrissene Strümpfe.

»C'est un grand poseur!« sagte jemand von ihm. Man muß gesehen haben, wie er, wenn er gegen irgendeinen Punkt des Narrenkomments verstoßen hat, dem Fürst-Cäsar die Hand küßt:

»Herr, verzeihe mir, bitte! Wir Schiffersleute kennen alle diese Regeln nicht gut.«

Man traut seinen Augen nicht: man kann unmöglich unterscheiden, wo der Zar aufhört und der Narr anfängt.

Er hat sich mit Masken umgeben. Ist nicht auch der »Zar-Zimmermann« eine Maske, »eine Maskerade nach holländischer Manier?«

Und steht nicht dieser als Zimmermann verkleidete Zar in seiner künstlichen Einfalt dem einfachen Volke ferner als die alten Moskauer Zaren in ihren goldgewebten Gewändern?

»Heut geht es viel grausamer zu als je,« klagte mir derselbe Kaufmann. »Niemand wagt es, dem Zaren etwas zu melden, der Zar erfährt niemals die Wahrheit. In alten Zeiten ging es viel einfacher zu!«

Der Beichtvater des Zaren, der Archimandrit Fedoß, lobte einmal in meiner Gegenwart den Zaren für seine »Dissimulation«, die »die Meister in politischen Dingen zu den ersten Regeln für einen Herrschenden zählen«.

* * *

Ich will ihn nicht richten. Ich sage nur, was ich selbst sehe und höre. Den Helden sehen alle, den Menschen – nur wenige. Und wenn ich auch irgendeinen Klatsch mitteile, so wird mir das verziehen werden: ich bin ja nur eine Frau. »Er ist ein sehr guter und zugleich auch ein sehr schlechter Mensch,« sagte von ihm jemand. Und ich wiederhole es: ob er besser oder schlechter ist, als die anderen, weiß ich nicht; zuweilen will es mir aber scheinen, daß er überhaupt kein Mensch ist.

* * *

Der Zar ist religiös. Er liest selbst die Apostelgeschichte in der Kirche und singt mit solcher Sicherheit vor wie die Popen; er kennt die ganze Liturgie auswendig. Für die Soldaten verfaßt er selbst Gebete.

Manchmal hebt er während eines Gesprächs über Kriegs- oder Staatsgeschäfte die Augen zum Himmel, bekreuzigt sich und spricht inbrünstig aus der Tiefe des Herzens das kurze Gebet: »Herr, entziehe uns auch in Zukunft deine Gnade nicht!« Oder: »Sende uns, Herr, deine Gnade, weil wir auf dich hoffen!«

Es ist keine Heuchelei. Natürlich glaubt er an Gott; er pflegt zu sagen, »daß er auf den Herrn der Schlachten baut.« Zuweilen scheint es aber, als ob sein Gott gar nicht der christliche Gott wäre, sondern der alte heidnische Mars oder die Nemesis, die Göttin des Schicksals. Wenn es je einen Menschen gegeben hat, der am allerwenigsten einem Christen gleicht, so ist es Peter. Was geht ihn Christus an? Was für eine Vereinigung kann es zwischen den Eisen des Mars und den Lilien des Evangeliums geben?

Und bei all der Frömmigkeit zeigt er oft eine fürchterliche Blasphemie.

Der Fürst-Papst, der Narrenpatriarch, trägt statt der Panagien Tonflaschen mit Glöckchen; statt des Evangeliums – eine Buchattrappe mit Branntweinflaschen und ein Kreuz aus Pfeifenrohren.

Bei der närrischen Hochzeit eines Zwergenpaares, die der Zar vor fünf Jahren veranstaltete, ging die Trauung unter allgemeinem Gelächter in der Kirche vor sich; auch der Priester konnte vor Lachen kaum ein Wort hervorbringen. Das Sakrament war wie eine Narrenposse.

Diese Blasphemie ist übrigens ebenso unbewußt, kindisch und wild wie alle seine andern Scherze.

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Ich las ein sehr interessantes Buch, das in Deutschland erschienen ist. Sein Titel lautet:

»Curieuse Nachricht von der itzigen Religion I.K.M. in Rußland Petri Alexieviz und seines großen Reiches, daß dieselbe itzo fast nach evangelisch-lutherischen Grundsätzen eingerichtet sei.«

Hier einige Auszüge daraus:

»Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir sagen, daß seine Majestät sich die wahre Religion als die lutherische vorstellt.«

»Der Zar hat das Patriarchat abgeschafft und sich nach dem Beispiele der protestantischen Fürsten zum Summus Episcopus und dem Patriarchen der russischen Kirche gemacht. Von seiner Reise durch die fremden Länder zurückgekehrt, begann er mit seinen Popen zu disputieren. Und als er sich überzeugt hatte, daß sie in Glaubenssachen nichts verstehen, gründete er für sie Schulen, wo sie fleißig lernen sollten; vorher verstanden sie aber kaum zu lesen.«

»Und jetzt, wo die Russen in den Schulen vernünftig unterrichtet und erzogen werden, müssen alle ihre abergläubischen Meinungen und Sitten ganz von selbst verschwinden; denn an diese Dinge kann doch niemand außer den einfältigsten und unwissendsten Menschen glauben. Das Unterrichtssystem in diesen Schulen ist durchaus lutherisch, und die Jugend wird in den Regeln der wahren evangelischen Religion erzogen. Die Klöster sind bedeutend eingeschränkt, so daß sie nicht mehr wie früher als Unterschlupf für eine Menge Müßiggänger, die für den Staat eine schwere Last und die Gefahr einer Empörung bilden, dienen können. Alle Mönche sind jetzt verpflichtet, irgend etwas Nützliches zu lernen, und alles ist auf die lobenswerteste Weise eingerichtet. Die Wunder und Reliquien genießen nicht mehr die gleiche Verehrung wie früher: in Rußland ist man bereits wie in Deutschland bei der Überzeugung angelangt, daß in diesen Dingen viel geschwindelt worden ist.«

Ich weiß, daß der Zarewitsch dieses Buch gelesen hat. Mit welchen Gefühlen mag er es wohl gelesen haben?

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Einmal war ich dabei, wie der Zar mit seiner Geistlichkeit im Eichenwäldchen nahe bei dem Schlosse im Sommergarten bei einem Glase Wein saß, und der Administrator der geistlichen Angelegenheiten, der Archimandrit Fedoß, über das Thema sprach: »Aus welchem Grunde und in welchem Sinne wurden die römischen Kaiser, die heidnischen wie die christlichen, als Pontifices oder Erzbischöfe der polytheistischen Religion genannt und hielten sich auch selbst für solche.« Aus seiner Rede folgte, daß der Zar zugleich der oberste Bischof, Hohepriester und Patriarch sei. Dieser russische Mönch folgerte sehr geschickt aus dem »Leviathan« des englischen Atheisten Hobbes, »civitatem et ecclesiam eandem rem esse«, d. h. »daß der Staat und die Kirche ein und dasselbe seien,« natürlich nicht, um den Staat in die Kirche, sondern umgekehrt: um die Kirche in den Staat umzuwandeln. Die ungeheuerliche Maschine, das Tier Leviathan, verschlang die Kirche Gottes, so daß von ihr nichts übrig blieb. Diese Betrachtungen können als höchst interessantes Beispiel für die mönchische Anpassungsfähigkeit an den Willen des Zaren und die Kriecherei vor ihm dienen.

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Man sagt, daß der Zar bereits Ende des vergangenen Jahres, 1714, die geistlichen und weltlichen Würdenträger zusammengerufen und ihnen feierlich erklärt hätte, daß »er allein das Oberhaupt der russischen Kirche sein wolle und den Vorschlag mache, ein geistliches Kollegium unter dem Namen ›Heiligster Synod‹ zu gründen«.

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Der Zar trägt sich mit dem Plan, nach dem Beispiele Alexanders des Großen gegen Indien zu ziehen. Das Bestreben, Alexander und Cäsar nachzuahmen, den Orient mit dem Okzident zu verbinden und eine neue Weltmonarchie zu begründen, das ist der tiefste und heimlichste Gedanke des russischen Zaren.

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Fedoß sagt dem Zaren ins Gesicht: »Du bist ein irdischer Gott.« Das hat ja denselben Sinn wie »Divus Caesar« – göttlicher Cäsar, Gott Cäsar.

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Bei der Triumphfeier des Sieges bei Poltawa wurde der russische Zar auf einem der allegorischen Bilder in Gestalt des alten Sonnengottes Apollo dargestellt.

* * *

Ich habe erfahren, daß die Totenköpfe, die auf den Pfählen bei der Troitzkij-Kirche, dem Senat gegenüber, stecken, die Köpfe von den Raskolniki sind, die dafür hingerichtet wurden, daß sie den Zaren den Antichrist genannt hatten.

 

20. Oktober

Zu uns kommt manchmal in die Küche ein alter Invalide, der als Wärter an einem Zeughause angestellt ist. Ein elendes, wie von Motten zerfressenes Wesen mit zittrigem Kopfe, einer roten Nase und einem Stelzbeine. Er nennt sich selbst eine »Magazinratte«. Ich schenke ihm zuweilen etwas Tabak und Schnaps. Wir sprechen über russische Militärangelegenheiten.

Er lacht immer und gebraucht schnurrige Sprichwörter wie: »Der Soldat hat hundert Jahre gedient, hat aber noch keine hundert Steckrüben verdient; er ist satt von einem Graupenkorn, betrunken von Wasser; er rasiert sich mit einer Ahle und wärmt sich am Rauche; drei Ärzte hat er: Schnaps, Knoblauch und den Tod.«

Er war fast als Kind in die »Trommlerlehre« eingetreten und hat alle Feldzüge von Asow bis Poltawa mitgemacht; zum Lohne dafür bekam er vom Zaren eine Handvoll Nüsse und einen Kuß auf den Scheitel.

Aber wenn er vom Zaren spricht, ist er plötzlich ganz verändert.

Heute erzählte er mir von der Schlacht am Roten Hof.

»Tapfer verteidigten wir das Haus der heiligsten Muttergottes für seine Zarische Majestät und für den christlichen Glauben; der eine starb für den andern. Mit lauter Stimme riefen wir: ›Herr und Gott, hilf uns!‹ und dank der Fürbitte der Moskauer Wundertäter wurden die schwedischen Regimenter, sowohl Fußvolk als Reiterei, niedergemetzelt.«

Er versuchte auch, mir die Ansprache des Zaren an seine Truppen wiederzugeben:

»Kinderchen, ich habe euch aus dem Schweiße meiner Arbeit geboren. Der Staat kann ohne euch wie ein Körper ohne Seele nicht auskommen. Ihr habt immer Liebe zu Gott, zu mir und zum Vaterlande gezeigt, – ihr habt euer Leben nicht geschont . . .«

Plötzlich sprang er mit seinem Stelzbein auf; seine Nase war noch röter geworden; an ihrer Spitze hing eine Träne wie ein Tautropfen an einer reifen Pflaume; er schwenkte sein altes Hütchen und rief:

»Vivat! Vivat! Peter der Große, der Kaiser Allrußlands!«

Noch niemand hatte in meiner Gegenwart den Zaren Kaiser genannt. Ich war aber nicht erstaunt. In den trüben Äuglein der Magazinratte brannte ein solches Feuer, daß es mich kalt überlief, als ob vor mir die Vision des alten Roms aufgetaucht wäre: das Rauschen der Siegesfahnen, das Stampfen der ehernen Kohorten und der Gruß der Soldaten an den göttlichen Cäsar: »Divus Caesar Imperator!«

 

23. Oktober.

Wir fuhren heute nach dem Kaufhause auf dem Troitzkij-Platze. Es ist ein längliches, vom italienischen Architekten Trezzini aus Lehm erbautes Gebäude mit Ziegeldach und Arkaden wie irgendwo in Verona oder Padua. Wir besuchten den ersten und einzigen Buchladen von Petersburg, der auf Befehl des Zaren gegründet ist. Er wird vom Buchdrucker Wassilij Jewdokimow verwaltet. Man bekommt hier außer altslawischen und übersetzten Büchern Kalender, Ukase, Schlachtenberichte, Abcbücher, Schlachtenpläne, »Zarische Personen«, d. h. Bildnisse und Darstellungen feierlicher Umzüge zu kaufen. Die Bücher gehen schlecht. Von einzelnen Werken ist im Laufe von zwei oder drei Jahren kein einziges Exemplar abgesetzt worden. Am besten gehen die Kalender und die Ukase gegen bestechliche Beamte.

Der Zeugdirektor der ersten Petersburger Druckerei, ein gewisser Awramow, der zufällig im Laden war, ein sehr sonderbarer doch gar nicht dummer Mensch, erzählte uns, welche Mühe es koste, ausländische Bücher ins Russische zu übersetzen. Der Zar treibe beständig zur Eile an und verlange unter Androhung schwerer Strafen, d. h. der Knute, daß »das Buch nicht irgendwie, sondern verständlich und in gutem Stil übersetzt werde«. Und die Übersetzer klagen, daß »es wegen des furchtbar verwickelten deutschen Stils ganz unmöglich sei, die Sache schnell zu machen; die Werke seien oft ganz unverständlich und schwierig, und es käme vor, daß man an einem Tage nicht mehr als zehn Zeilen fertig bringe«. Boris Wolkow, ein Dolmetscher am Kollegium des Äußern, sei bei der Übersetzung des Gartenhandbuches »Le jardinage de Quintiny« in solche Verzweiflung geraten, daß er sich aus Furcht vor dem Zorn des Zaren die Adern durchschnitt.

Die Wissenschaft kommt den Russen nicht billig zu stehen.

Die meisten dieser Übersetzungen, die so ungeheure Arbeit, Schweiß und, man kann wohl auch sagen, Blut kosten, sind gänzlich unnütz und werden von keinem Menschen gelesen. Vor einiger Zeit wurden eine Menge Bücher, die unverkauft geblieben waren und im Buchladen keinen Platz fanden, in einem Schuppen am Arsenal eingelagert, während der Überschwemmung gerieten sie unter Wasser. Ein Teil wurde durch das Wasser, der andere durch Hanföl, das aus unbekanntem Grunde zusammen mit den Büchern lagerte, verdorben, und der Nest von Mäusen zerfressen.

 

14. November.

Wir waren im Theater. Die »Komödienscheune« ist ein großes hölzernes Gebäude in der Nähe des Litejnyj-PIatzes. Die Vorstellung beginnt um 6 Uhr abends. Die Eintrittskarten auf dickem Papier werden in einer besonderen Bude verkauft. Der letzte Platz kostet 40 Kopeken. Es gibt nur wenig Zuschauer, wenn der Hof nicht ab und zu das Theater besuchte, müßten die Schauspieler Hungers sterben. Obwohl die Wände mit Filz ausgeschlagen sind, ist es im Zuschauerraum kalt und feucht, und es zieht von allen Seiten. Die Talglichter qualmen entsetzlich. Das elende Orchester spielt in einemfort falsch. Im Parterre knackt man während der Vorstellung laut Nüsse und schimpft. Gespielt wurde die »Komödie von Don Pedro und Don Juan«, eine russische Übersetzung der deutschen Bearbeitung des französischen »Don Juan«. Nach jedem Akt wurde der Vorhang, das »Spalier«, herabgelassen, und wir blieben im Dunkeln; das sollte den Wechsel des Ortes der Handlung andeuten. Mein Nachbar, der Kammerherr Brandenstein, war ganz außer sich. Er flüsterte mir ins Ohr: »Welch ein Hund von Komödie ist das!« Ich konnte mich vor Lachen kaum halten. Don Juan spricht im Garten zu dem von ihm verführten Weibe:

»Komme zu mir, meine Liebe! Gedenke der Zeit voller Vergnügungen, als wir die Lust des Frühlings ohne Hindernisse und die Früchte der Liebe ohne Gewissensbisse genießen durften. Laß uns mit dem Anblick der Blumen unsere Augen und mit deren außerordentlichem Duft unsere Gefühle erfüllen.«

Mir gefiel das Liedchen:

Wer keine Liebe kennt,
Kennt auch keinen Betrug.
Man nennt die Liebe Gott,
Doch sie quält wie der Tod.

Nach jedem Aufzug kam ein Intermezzo, das stets mit einer Rauferei endete.

Dem Kammerherrn Brandenstein, der eingeschlafen war, wurde aus der Tasche ein seidenes Tuch, und dem jungen Löwenwolde eine silberne Tabatiere gestohlen.

Es wurde noch folgendes Stück aufgeführt: »Daphne, durch die Verfolgung des verliebten Apollo in einen Lorbeerbaum verwandelt.«

Apollo droht einer Nymphe:

Ich werde dich zwingen in meine Gewalt,
Auf daß ich nicht leide dergestalt.

Und die Nymphe antwortet:

Wenn du handelst auf so gemeine Weise,
Ziehst du mich niemals in deine Kreise.

In diesem Augenblick begann am Theatereingang eine Schlägerei unter den betrunkenen Stallknechten. Man eilte hinaus, um sie zur Ruhe zu bringen und verabreichte ihnen an Ort und Stelle eine Tracht Prügel. Die Worte des Gottes und der Nymphe wurden vom Heulen und dem unflätigen Geschimpfe der Gezüchtigten übertönt.

Im Epilog traten »Maschinen und Flugvorrichtungen« in Aktion.

Endlich verkündete der Morgenstern Phosphorus:

Wir sind zu Ende. Das Stück war nett,
Wir danken bestens. Jetzt geht zu Bett.

Man gab uns eine handgeschriebene Affiche über ein Schauspiel, das in einer anderen Bude aufgeführt werden sollte: »Gegen Zahlung von je einem halben Rubel pro Person werden italienische Marionetten oder Puppen, je zwei Ellen lang, sich frei auf der Bühne bewegen und so kunstvoll, als ob sie lebendig wären, die ›Komödie von Doktor Faust‹ spielen. Ebenso wird auch ein gelehrtes Pferd gezeigt werden.«

Offen gestanden hätte ich es nicht erwartet, den Faust in Petersburg und dazu in Gesellschaft eines gelehrten Pferdes zu finden!

Unlängst wurden in diesem selben Theater die »Précieuses ridicules« von Molière aufgeführt. Ich verschaffte mir den Text. Die Übersetzung ist auf Befehl des Zaren von einem seiner Hofnarren, dem »König der Samojeden«, besorgt worden; höchstwahrscheinlich war er betrunken, als er sie machte, denn man kann kein einziges Wort verstehen. Der arme Molière! In den ungeheuerlichen samojedischen »Galanterien« liegt die Grazie eines tanzenden Eisbären.

 

23. November.

Ein fürchterlicher Frost mit durchdringendem Wind; ein wahrer Eissturm. Die Leute auf den Straßen merken gar nicht, wie ihnen die Nasen und Ohren erfrieren. Man sagt, daß in einer einzigen Nacht zwischen Petersburg und Kronschlot 700 Arbeiter erfroren seien.

Auf den Straßen, selbst im Stadtinnern, zeigen sich manchmal Wölfe. Dieser Tage haben sie nachts am Litejnyi-Platz, also in der Nähe des Theaters, wo »Daphne und Apollo« gespielt wurde, einen Wachtposten überfallen und umgeworfen; ein anderer Soldat, der zu Hilfe kam, wurde sofort von ihnen zerrissen und aufgefressen. Auf dem Wassiliewskij-Ostrow, in der Nähe des Palais des Fürsten Menschikow, haben neulich die Wölfe am hellen Tage eine Frau mit ihrem Kinde totgebissen.

Nicht weniger schrecklich als die Wölfe sind die Räuber. Die Schilderhäuschen, Schlagbäume, Barrieren, Wachtposten mit dicken »kantigen« Knüppeln und die nach dem Hamburger Muster organisierten Nachtwachen machen auf das Gesindel nicht den geringsten Eindruck. Jede Nacht gibt es entweder einen Einbruchsdiebstahl oder einen Raubmord.

 

30. November.

Heute war ein feuchter Wind, und alles zerschmolz im Nu. Es ist so schmutzig, daß man unmöglich über eine Straße gehen kann. Es stinkt nach Sumpf, Düngerjauche und faulen Fischen. Es herrschen epidemische Krankheiten: Halsgeschwüre, Fleck- und Bauchtyphus.

 

4. Dezember.

Wieder Frost. Glatteis. Es ist so glatt, daß man keinen Schritt gehen kann, ohne sich das Genick zu brechen.

Aus solchen plötzlichen Veränderungen besteht hier der ganze Winter.

Die Natur ist hier nicht nur grausam, sondern auch wahnsinnig.

Eine widernatürliche Stadt. Wie können hier Wissenschaften und Künste blühen! Ein hiesiges Sprichwort sagt: man denkt gar nicht an Fett, man denkt nur, wie man mit dem nackten Leben davonkommt.

 

10. Dezember.

Eine Assemblee bei Tolstoi.

Spiegel, Kristallgeschirr, Puder, Schönheitspflästerchen, Fischbeinmieder, Spitzentücher, Knickse – alles ganz wie in Europa, wie in Paris oder London.

Der Hausherr ist ein außerordentlich höflicher und gelehrter Mann. Er übersetzt die »Metamorphosen, d. i. Verwandlungen Ovids« und »Des edlen florentinischen Bürgers Nichola Machiavelli politische Ermahnungen«. Er tanzte mit mir ein Menuett. Er gebrauchte Komplimente aus dem Ovid und verglich mich mit der Galathea wegen meiner marmorweißen Haut und meiner Haare, die so schwarz seien, wie »die Farbe des Hyazinths«. Ein komischer Alter. Sehr klug, aber ein großer Gauner. Hier sind einige Aussprüche dieses neuen Machiavellis:

»Wenn das Glück kommt, soll man es nicht nur mit den Händen auffangen, sondern auch mit dem Munde schlucken.«

»In großem Reichtum leben ist wie auf gläsernem Fußboden gehen.«

»Eine zu stark gepreßte Zitrone gibt statt Wohlgeschmack nur Bitterkeit.«

»Sich im Verstand und in den Sitten der Menschen auszukennen, ist eine große Philosophie; es ist viel schwieriger, die Menschen zu kennen, als viele Bücher auswendig zu wissen.«

Während ich den klugen Reden Tolstois – er sprach mit mir bald russisch und bald italienisch – und den zarten Tönen eines französischen Menuetts lauschte und die elegante Gesellschaft der Kavaliere und Damen, die wirklich an Paris oder London erinnerten, betrachtete, mußte ich in einemfort an etwas denken, was ich soeben unterwegs gesehen hatte: an die Pfähle vor dem Zenat auf dem Troitzkij-Platze mit den gleichen Köpfen der Hingerichteten, die schon im Mai während des Maskenfestes auf ihnen gesteckt hatten. Sie trockneten aus, wurden naß, froren ein, tauten auf und froren wieder ein und waren doch nicht ganz verwest. Ein riesengroßer Mond ging hinter der Troitzkij-Kirche auf, und in seinem roten Scheine traten die schwarzen Köpfe unheimlich deutlich hervor. Auf einem von ihnen saß ein Rabe, riß Hautfetzen herunter und krächzte. Diese Vision verfolgte mich während des ganzen Balles. Europa war von Asien verdeckt.

Der Zar kam auf den Ball. Er war schlechter Laune: er schüttelte den Kopf und zuckte mit der Achsel, so daß es allen ängstlich zumute wurde. Als er in den Saal trat, wo getanzt wurde, fand er, daß es da zu heiß sei. Er wollte ein Fenster aufmachen, aber alle Fenster waren von außen zugenagelt. Der Zar ließ sich eine Axt geben und machte sich mit zwei Kammerjunkern an die Arbeit. Er lief einigemal auf die Straße hinaus, um nachzusehen, wie und mit welchen Nägeln das Fenster vernagelt sei. Endlich erreichte er, was er wollte, und nahm einen Fensterrahmen heraus. Das Fenster blieb nur kurze Zeit offen; es begann wieder Tauwetter, und der Wind kam gerade von Westen. Und trotzdem entstand in allen Zimmern ein solcher Zug, daß die leichtgekleideten Damen und die immer frierenden alten Herren gar nicht wußten, wo sie Schutz suchen sollten. Der Zar war müde geworden und schwitzte von der Arbeit; er war aber zufrieden und sogar lustig.

Der österreichische Resident Pleyer, ein großer Schmeichler, sagte: »Majestät haben soeben ein Fenster nach Europa durchgebrochen.«

* * *

Auf dem Siegel, mit dem während der ersten Auslandsreise des Zaren seine nach Rußland gerichteten Briefe gesiegelt wurden, war ein junger, von Schifferwerkzeugen und Geschützen umgebener Zimmermann dargestellt mit der Inschrift:

»Ich gehöre dem Schülerstande an und suche Lehrer.«

* * *

Ein anderes Emblem des Zaren ist: Prometheus, wie er mit der entzündeten Fackel zu den Menschen von den Göttern zurückkehrt.

* * *

Der Zar pflegt zu sagen: »Ich will ein neues Menschengeschlecht schaffen.«

* * *

Etwas aus den Erzählungen der »Magazinratte«: Der Zar hatte den Wunsch, daß überall Eichen wachsen, und legte eines Tages eigenhändig an der von Petersburg nach Peterhof führenden Landstraße Eicheln in den Boden. Als er merkte, daß einer der dabeistehenden Würdenträger über seine Mühe lächelte, rief er zornig aus:

»Ich verstehe dich. Du glaubst, ich werde die ausgewachsenen Eichen nicht mehr erleben. Du hast recht. Aber du bist ein Narr. Ich gebe den anderen ein Beispiel, damit die Nachkommen mit der Zeit Eichenstämme für Schiffsbauten haben. Nicht für mich mühe ich mich ab. Das Wohl des Staates geht voran.«

* * *

Hier noch eine von den Erzählungen der »Magazinratte«:

»Durch einen Ukas seiner Majestät wurde befohlen, alle Adelskinder aufzuschreiben und in den Ssucharew-Turm zu Moskau zwecks Erlernung der Navigationswissenschaft zu schicken. Der Adel aber ließ seine Kinder in das Spasskij-Kloster, das sich in Moskau hinter der Ikonenzeile befindet, einschreiben, damit sie dort Latein lernen. Als der Zar das hörte, wurde er sehr zornig und gab dem Moskauer Statthalter Romodanowskij den Befehl, die erwähnten Adelskinder aus dem Spasskij-Kloster nach Petersburg zu schicken, um sie dort mit dem Einrammen der Pfähle für die neuen Hanfspeicher am Moikaflusse zu beschäftigen. Der General-Admiral Graf Fjodor Matwejewitsch Apraxin, der erlauchte Fürst Menschikow, Fürst Jakob Dolgorukij und die übrigen Senatoren wollten sich für diese Kinder verwenden; da sie aber Seine Majestät damit nicht zu behelligen wagten, baten sie kniefällig und unter Tränen seine allergnädigste Gehilfin, die Zarin Jekaterina Alexejewna. Doch es ist niemandem möglich, Seine Majestät den Zaren zu besänftigen, wenn er zornig ist. Und der erwähnte Graf und General-Admiral Apraxin übernahm es, auf den Zaren einzuwirken; er ließ aufpassen, wann Seine Majestät an den Hanfspeichern, an jenen dort arbeitenden Adelskindern vorbeifahren würde. Und als er hörte, daß der Zar sich zu jenen Speichern begeben hatte, legte er seinen Rock mit allen Orden ab, hing ihn an einen Pfahl und begann zusammen mit den Kindern die Pfähle einzurammen. Als der Zar sah, wie sich der Admiral mit den Kindern abmühte, ließ er den Wagen halten und sagte zum Grafen:

›Fjodor Matwejewitsch, du bist General-Admiral und hoher Orden Ritter, – warum rammst du die Pfähle ein?‹

Und der Admiral antwortete dem Zaren:

›Meine Neffen und Enkelsöhne sind mit dieser Arbeit beschäftigt. Und was bin ich für ein Mensch? Was habe ich für Vorrechte gegen meine Verwandten? Was aber die mir von Eurer Majestät verliehenen Orden betrifft, so hängen sie hier am Pfahl, – ich tue ihnen keine Unehre an.‹

Nachdem der Zar diese Worte gehört hatte, kehrte er in sein Palais zurück und erließ schon nach 24 Stunden einen Ukas, laut welchem die Adelskinder von der Arbeit befreit und nach den fremden Ländern zur Erlernung verschiedener Künste und Wissenschaften geschickt werden sollten: sein Zorn war also noch immer so groß, daß die Kinder, selbst nachdem sie die Strafe des Einrammens überstanden hatten, doch noch zur Erlernung der Künste und Wissenschaften verurteilt wurden.«

* * *

Einer der wenigen Russen, die mit den neuen Zuständen zufrieden sind, sagte mir vom Zaren:

»Alles, was es in Rußland gibt, hat seinen Ursprung in ihm; und was auch in Zukunft geschaffen werden wird, wird immer aus dieser selben Quelle kommen. Er hat Rußland erneuert oder vielmehr wiedergeboren.«

 

28. Dezember.

Der Zarewitsch ist ebenso plötzlich zurückgekehrt, wie er abgereist war.

 

6. Januar 1715.

Heute hatten wir Besuch: Baron Löwenwolde, den österreichischen Resident Pleyer, den hannoverschen Sekretär Weber und den Leibmedikus des Zaren Blumentrost. Nach dem Abendessen sprach man bei einem Glase Rheinwein von den Neueinführungen des Zaren. Da kein Fremder und auch niemand von den Russen zugegen war, konnte man ganz ungezwungen sprechen.

»Die Moskowiten«, sagte Pleyer, »tun alles unter Zwang; wenn der Zar stirbt, so ist es mit allen Wissenschaften zu Ende. Rußland ist ein Land, wo man alles beginnt und nichts zu Ende führt. Der Zar wirkt auf das Land ebenso wie Königswasser auf Eisen. Er treibt die Wissenschaft seinen Untertanen mit Stöcken und Knüppeln ein, genau wie es in ihrem Sprichwort heißt: Der Stock ist stumm, gibt aber Verstand; mit der Faust in dem Nacken kann man am meisten erreichen. Durchaus richtig ist das Urteil Puffendorfs über dieses Volk: ›Das sklavische Volk hat sklavische Demut, und kann nur durch grausame Zucht in Gehorsam erhalten werden.‹ Man kann von ihnen auch dasselbe sagen, was Aristoteles von den Barbaren im allgemeinen gesagt hat: ›Quod in libertate mali, in servitute boni sunt. – In Freiheit bösartig, in Knechtschaft gutmütig.‹ Die wahre Aufklärung erzeugt Haß gegen jede Sklaverei. Und der russische Zar ist von Natur aus Despot und braucht Sklaven. Darum bringt er seinen Untertanen mit solchem Eifer die Mathematik, Navigationslehre, Fortifikation und die übrigen niederen angewandten Wissenschaften bei; niemals wird er aber seinen Untertanen die wahre Aufklärung, die die Freiheit erheischt, beibringen wollen. Auch hat er selbst weder Verständnis noch Liebe für die wahre Aufklärung. In der Wissenschaft sucht er nur das Nützliche. Das Perpetuum mobile des Scharlatans Orphyreus zieht er der ganzen Leibnizschen Philosophie vor. Den Äsop hält er für den größten Philosophen. Er verbot, den Juvenal zu übersetzen. Er versprach, ›jeden Verfasser einer Satire mit den härtesten Foltern zu bestrafen‹. Die Aufklärung ist für die Gewalt der russischen Zaren dasselbe, was die Sonne für den Schnee ist: solange sie schwach ist, glänzt und funkelt der Schnee; wenn sie aber stark scheint, schmilzt er.«

»Wer weiß,« bemerkte Weber mit seinem Lächeln, »vielleicht tun die Russen, wenn sie Europa zum Beispiel nehmen, ihm mehr Ehre an, als es verdient? Die Nachahmung ist immer gefährlich: man eignet sich viel leichter die Laster an als die Tugenden. Recht gut hat einmal ein Russe gesagt: ›Die ansteckende Fäulnis der Ausländer verzehrt die ehemalige Gesundheit der russischen Seelen und Leiber; die Roheit der Sitten hat zwar abgenommen, doch an ihre Stelle ist nur Schmeichelei und Kriecherei getreten; sie haben den alten Verstand eingebüßt, aber keinen neuen gewonnen; als Dummköpfe werden wir alle sterben!‹«

»Der Zar,« meinte Baron Löwenwolde, »ist gar nicht der demütige Schüler Europas, für den man ihn immer hält. Als man einmal in seiner Gegenwart mit Anerkennung von den französischen Sitten und Gebräuchen sprach, sagte er: ›Es ist gut, von den Franzosen Künste und Wissenschaften zu übernehmen; im übrigen stinkt aber die Stadt Paris.‹ Und er fügte wie prophetisch hinzu: ›Es tut mir leid, daß diese Stadt vor Gestank aussterben wird.‹ Ich habe es zwar selbst nicht gehört, aber man teilte mir zuverlässig einen anderen Ausspruch von ihm mit, den sich alle Freunde des russischen Volkes in Europa merken sollten: ›L'Europe nous est nécessaire pour quelques dizaines d'années; après cela nous lui tournerons le dos. – Wir brauchen Europa einige Jahrzehnte; nachher kehren wir ihm den Rücken.‹«

Graf Piper zitierte einige Stellen aus dem kürzlich erschienenen Buche vom russisch-schwedischen Kriege: »La Crise du Nord«; es wird darin bewiesen, daß »die Siege der Russen Vorboten eines nahen Weltendes seien«, und daß »die Schwäche Rußlands eine Bedingung für das Wohl Europas sei«. Der Graf erinnerte auch an einen Ausspruch Leibnizens, den er noch vor der Schlacht bei Poltawa, also als er noch für die Schweden Partei nahm, gemacht hatte: »Moskowien wird eine zweite Türkei werden und einer neuen Barbarei den Weg bahnen, die die ganze europäische Zivilisation vernichten wird.«

Blumentrost beruhigte uns damit, daß der Branntwein und die venerische Seuche, die sich in den letzten Jahren mit erstaunlicher Schnelligkeit von den Grenzen Polens bis ans Weiße Meer verbreitet hätte, Rußland in weniger als hundert Jahren verwüsten würden. Der Branntwein und die Syphilis seien zwei Geißeln, die die göttliche Vorsehung selbst gesandt habe, um Europa von einem neuen Einfall der Barbaren zu retten.

»Rußland,« sagte zum Schluß Pleyer, »ist ein eherner Koloß auf tönernen Füßen. Er wird zusammenstürzen, zerbrechen, und nichts wird von ihm zurückbleiben!«

Ich selbst habe keine sonderliche Liebe für die Russen; und doch hätte ich es nicht erwartet, daß meine Landsleute sie so sehr hassen. Zuweilen scheint es mir, daß in diesem Haß eine geheime Angst liegt; als ob wir Deutsche ahnten, daß der eine den andern einmal auffressen wird: entweder wir sie, oder sie uns.

 

17. Januar.

»Also was glauben sie, Fräulein Juliane, bin ich ein Narr oder ein Schuft?« fragte mich der Zarewitsch, als er heute früh auf der Treppe mit mir zusammenstieß.

Ich verstand ihn im ersten Augenblick nicht und glaubte, er sei betrunken. Ich wollte schweigend an ihm vorübergehen. Er verstellte mir aber den Weg und fuhr fort, mir gerade in die Augen blickend:

»Es wäre auch recht interessant, zu wissen, wer wen auffressen wird – wir euch, oder ihr uns?«

Nun begriff ich erst, daß er in meinem Tagebuche gelesen hatte. Ihre Hoheit hatte es für kurze Zeit geliehen, um darin zu lesen; der Zarewitsch war wohl zu ihr ins Zimmer gekommen, als niemand da war, hatte das Buch liegen sehen und darin geblättert.

Ich war so sehr verwirrt, daß ich gerne in die Erde versunken wäre. Ich errötete bis an die Haarwurzeln und war nahe daran, wie ein bei einem dummen Streich ertapptes Schulmädchen in Tränen auszubrechen. Er sah mich aber immer an und schwieg, als ob er sich an meiner Verlegenheit ergötzte. Endlich machte ich eine verzweifelte Anstrengung und versuchte wieder fortzulaufen. Er ergriff aber meine Hand. Ich war halbtot vor Angst.

»Nun haben Sie sich erwischen lassen, Fräulein,« sagte er mit fröhlichem und gutmütigem Lachen. »Seien sie aber in Zukunft vorsichtiger. Es ist noch gut, daß ich es gelesen habe und niemand anderes. Ein scharfes Zünglein haben aber Euer Gnaden – wie ein Rasiermesser ist es! Alle haben von Ihnen etwas abbekommen. Ich muß aber gestehen: es ist viel Wahres darin, was Sie über uns sagen, bei Gott! Sie streicheln uns zwar gegen das Fell, aber für die Wahrheit muß ich Ihnen doch danken!«

Er hörte zu lachen auf und drückte mir mit heiterem Lächeln wie ein guter Kamerad die Hand, als ob er mir tatsächlich für die Wahrheit dankbar wäre.

Ein sonderbarer Mensch! Alle diese Russen sind übrigens sonderbare Menschen. Man weiß niemals im voraus, was sie sagen oder tun werden.

Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr habe ich den Eindruck, daß sie etwas an sich haben, was wir Europäer nicht verstehen und auch niemals begreifen werden: sie sind für uns wie die Bewohner eines anderen Planeten.

 

2. Februar.

Als ich heute abend durch die untere Galerie ging, rief mich der Zarewitsch, der wohl meine Schritte gehört hatte, und bat mich, ins Speisezimmer zu kommen, wo er ganz allein in der Dämmerung vor dem Kamin saß. Ich mußte mich in einem Sessel ihm gegenüber niedersetzen, und er begann mit mir zuerst deutsch, dann russisch so freundlich zu sprechen, als ob wir in der Tat alte Freunde wären. Ich bekam von ihm manches Interessante zu hören.

Ich will aber doch nicht alles aufschreiben: solange ich in Rußland bin, könnte es für mich und auch für ihn gefährlich sein. Hier nur einige einzelne Gedanken.

Am meisten mußte ich darüber staunen, daß er durchaus nicht der eifrige Verteidiger des Alten und Gegner des Neuen ist, für den ihn alle halten.

»Alles, was alt ist, prahlt mit seiner Glatze,« führte er mir ein russisches Sprichwort an. »Doch das Unrecht ist bei uns in Rußland so tief eingewurzelt, daß man den alten Bau von dieser Fäulnis unmöglich säubern kann, wenn man nicht alle Balken auseinander nimmt und jeden einzelnen genau untersucht . . .«

Der größte Fehler des Zaren bestehe darin, daß er sich zu sehr übereile:

»Der Vater muß alles so schnell als möglich haben: eins, zwei, drei – fertig ist das Schiff. Er kann aber gar nicht begreifen, daß etwas, was schnell gemacht wird, unmöglich gut werden kann. Zwei Axthiebe, und das Rad ist fertig; er setzt sich in den Wagen und fährt. Ach wie schön! Ehe er sich aber umsieht, sind schon alle Speichen herausgefallen.«

 

18. Februar.

Der Zarewitsch hat ein Heft, in das er Auszüge aus den Annalen des Baronius einträgt; wie er selbst sagt, Stellen, die auf ihn und auf seinen Vater Bezug haben und beweisen sollen, daß es früher anders war, als jetzt. Er gab mir dieses Heft zum Lesen. Bei einigen allzu wunderlichen Legenden, allerdings katholischen Ursprungs, steht in Klammern die Anmerkung: »Mit der griechischen Darstellung zu vergleichen«, oder: »Eine zweifelhafte Sache«, oder: »Das kann nicht ganz stimmen.«

Am meisten interessierten mich einige Notizen, in denen Altes und Fremdes mit Gegenwärtigem und Russischem verglichen wurde.

»Anno 395. Kaiser Arkadius befahl, alle, die auch nur durch etwas ganz Geringfügiges von der Rechtgläubigkeit abweichen, Ketzer zu nennen.« Es ist eine Anspielung auf die Nichtrechtgläubigkeit des russischen Zaren.

»Anno 455. Kaiser Valentinianus wurde wegen Verunstaltung der kirchlichen Satzungen und Ehebruchs ermordet.« Eine Anspielung auf die Abschaffung des Patriarchats in Rußland und auf die Ehe des Zaren mit Katharina bei Lebzeiten seiner ersten Gemahlin Awdotja Lopuchina.

»Anno 514. In Frankreich trug man lange Kleider. Karl der Große verbot, kurze Kleider zu tragen; ein Lob auf die langen und eine Verurteilung der kurzen Kleider.« Eine Anspielung auf die Veränderung der russischen Tracht.

»Anno 814. Ein Mönch verführte den Kaiser Leo zum Kampfe gegen die Bilder. Dasselbe ist heute bei uns.« Eine Anspielung auf den Beichtvater des Zaren, den Mönch Fedoß, der angeblich den Zaren zu überreden sucht, die Verehrung der Heiligenbilder zu verbieten.

»Anno 854. Kaiser Michael spielte mit den kirchlichen Sakramenten.« Eine Anspielung auf die Gründung des Narrenkonzils auf die Hochzeit des Narrenpatriarchen und auf die anderen Späße des Zaren.

Hier sind noch einige seiner Gedanken:

Von der päpstlichen Gewalt: »Christus hat alle Apostel gleichgestellt. Und wenn sie sagen, daß man außerhalb ihrer Kirche nicht selig werden könne, so ist auch das eine offenkundige Lüge; denn Christus hat selbst gesagt: ›Wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben‹; an mich, und nicht an die römische Kirche, die es um jene Zeit gar nicht gab; bevor die Predigt der Apostel nach Rom gelangt war, sind schon viele Menschen selig geworden.«

»Der mohammedanische Irrglauben ist durch die Weiber verbreitet worden. Alle Weiber haben eine Schwäche für die falschen Propheten.«

In vielen gelehrten Abhandlungen über Mohammed ist weniger enthalten als in diesen wenigen Worten, die des großen Skeptikers Rayle würdig sind.

* * *

Tolstoi sagte mir neulich, als die Rede vom Zarewitsch war, mit seinem fuchsschlauen Lächeln:

»Um sich beliebt zu machen, ist dies das beste Mittel: man muß verstehen, sich im Notfalle in die Haut des einfältigsten Viehs zu hüllen.«

Damals verstand ich es nicht. Jetzt fange ich an, es zu verstehen.

Im Werke eines alten englischen Schriftstellers, dessen Name mir entfallen ist: »Tragödie von Hamlet, Prinz von Dänemark«, stellt sich dieser unglückliche, von Feinden verfolgte Prinz halb dumm und halb verrückt.

Folgt nicht der russische Prinz dem Beispiele Hamlets? Hüllt er sich nicht in die Haut des einfältigsten Viehs?

* * *

Man sagt, der Zarewitsch hätte einmal den Mut gehabt, dem Zaren aufrichtig über all die unerträglichen Leiden des Volkes zu berichten. Seit jener Zeit sei er in Ungnade gefallen.

 

23. Februar.

An seinem Töchterchen Natascha hängt er mit zärtlicher Liebe.

Heute saß er den ganzen Morgen mit ihr auf dem Fußboden und baute für sie aus Holzklötzchen Buden und Häuser; er kroch auf allen Vieren umher und stellte einen Hund, ein Pferd oder einen Wolf dar. Er warf den Ball, und wenn dieser unter das Bett oder hinter den Schrank rollte, kroch er ihm nach und beschmutzte sich mit Staub und Spinngeweben. Er trug die Kleine auf den Armen in sein Zimmer, zeigte sie allen und fragte:

»Ist doch ein hübsches Mädel? Wo findet man ein zweites, das so hübsch wäre?«

Er selbst benahm sich dabei wie ein kleiner Junge.

Natascha ist viel zu klug für ihr Alter. Wenn sie etwas haben will, was sie nicht haben darf, und man ihr droht, daß man es der Mutter sagen werde, so wird sie gleich still; wenn man ihr aber einfach befiehlt, aufzuhören, so macht sie noch größeren Lärm als zuvor. Wenn sie sieht, daß der Zarewitsch schlechter Laune ist, wird sie ganz still und wendet keinen Blick von ihm; und wenn er sie nur anschaut, beginnt sie laut zu lachen und mit den Händchen zu fuchteln. Sie liebkost ihn wie eine Erwachsene.

Ich habe immer ein eigentümliches Gefühl, wenn ich diese Liebkosungen sehe: es ist, als ob die Kleine den Zarewitsch nicht nur liebte, sondern auch bemitleidete; als ob sie etwas sehe oder wisse, was noch niemand weiß. Es ist ein seltsames, unheimliches Gefühl, wie damals, als ich im dunklen Spiegel wie in einem Zauberspiegel ihre beiden Eltern sah.

»Daß sie mich liebt, weiß ich: sie hat ja meinetwegen alles verlassen,« sagte er mir eines Tages von seiner Gemahlin.

Jetzt, wo ich den Zarewitsch besser verstehe, mache ich ihn nicht mehr allein dafür verantwortlich, daß ihr Zusammenleben so unerträglich ist. Beide sind schuldig und beide sind unschuldig. Sie sind zu verschieden und zu unglücklich, ein jeder auf seine Art. Ein kleines und ein mittelmäßiges Leid vereint die Menschen; ein großes Leid trennt sie.

Sie sind wie zwei Schwerkranke oder Verwundete im gleichen Bett. Sie können einander nicht helfen; jede Bewegung des einen macht dem anderen Schmerzen.

Es gibt Menschen, die so sehr ans Leid gewohnt sind, daß ihre Seele sich in den Tränen wie der Fisch im Wasser fühlt, und ohne Tränen – wie der Fisch auf dem Trockenen. Ihre Gedanken und Gefühle sind schon einmal abwärts gerichtet und können sich, wie die Zweige der Trauerweide, niemals erheben. Ihre Hoheit gehört zu solchen Menschen.

Der Zarewitsch hat auch am eigenen Kummer genug; und jedesmal, wenn er zu ihr kommt, sieht er einen fremden Kummer, dem er nicht abhelfen kann. Er hat Mitleid mit ihr, aber Liebe und Mitleid ist nicht ein und dasselbe, wer geliebt sein will, soll sich vor Mitleid in acht nehmen. Ach, ich weiß es aus eigener Erfahrung, wie qualvoll es ist, jemand zu bemitleiden, wenn man ihm nicht helfen kann! schließlich beginnt man denjenigen zu fürchten, mit dem man zuviel Mitleid gehabt hat.

Ja, beide sind unschuldig, beide sind unglücklich, und niemand kann ihnen helfen außer Gott. Die Armen, Armen! Es ist schrecklich, daran zu denken, womit das enden soll; so schrecklich ist es, und doch wäre es besser, wenn das Ende schon käme.

 

7. März.

Ihre Hoheit ist wieder schwanger.

 

12. Mai.

Wir befinden uns in Roshdestwenno, dem Landgute des Zarewitsch, im Koporschen Kreise, siebzig Werst von Petersburg.

Ich war lange Zeit krank. Man glaubte, ich würde sterben. Noch schrecklicher als der Tod war mir der Gedanke, in Rußland sterben zu müssen. Ihre Hoheit nahm mich hierher nach Roshdestwenno mit, um mir die Möglichkeit zu geben, auszuruhen und mich in der reinen Luft zu erholen.

Rings umher ist Wald. Es ist ganz still. Ich höre nur das Rauschen der Räume und das Zwitschern der Vögel. Das Flüßchen Oredesh fließt so schnell wie ein Bergstrom unten zwischen den steilen roten Lehmufern, auf denen das erste Grün der Birken wie Rauch liegt und das Grün der Tannen wie schwarze Kohlen schimmert.

Die aus Holz erbauten Häuser gleichen einfachen Bauernhütten. Das zweistöckige Hauptgebäude mit einem hohen Turmgeschoß, wie auf den alten Moskauer Zarenschlössern, ist noch nicht fertig. In der Nähe befindet sich eine kleine Kapelle mit einem Glockenturm und zwei kleinen Glocken, die der Zarewitsch selbst gerne läutet, vor dem Tore steht eine alte schwedische Kanone und eine Pyramide verrosteter, von grünem Gras und Frühlingsblumen überwucherter Kanonenkugeln. Alles zusammen sieht wie ein Kloster im Walde aus.

Die Innenwände sind aus runden Balken gezimmert und noch kühl. Es riecht nach Harz; überall hängen bernsteingelbe Harztropfen wie Tränen, vor den Heiligenbildern brennen Lämpchen. Alles ist so heiter, frisch, rein, unschuldig und jung.

Der Zarewitsch liebt diesen Fleck Erde. Er sagt, daß er gerne immer hier leben würde und nichts anderes wünsche, wenn man ihn nur in Ruhe ließe.

Er liest und schreibt im Bibliothekszimmer, betet in der Kapelle, arbeitet im Garten und Gemüsegarten, angelt und irrt durch die Wälder.

Ich sehe ihn auch jetzt, während ich dies schreibe, aus dem Fenster meines Zimmers. Er hat soeben in den Blumenbeeten gegraben und Harlemer Tulpenzwiebeln gesetzt. Nun ruht er stehend, auf den Spaten gestützt, aus; er steht ganz still und scheint auf etwas zu lauschen. Es ist eine unendliche Stille. Nur ganz in der Ferne klingt die Axt des Holzhauers im Walde, und ein Kuckuck ruft. Alexejs Gesicht ist so ruhig und heiter. Er flüstert etwas vor sich hin oder singt, wahrscheinlich eines seiner Lieblingsgebete, den Lobgesang auf seinen heiligen Alexej, den Mann Gottes, oder den Psalm:

»Ich will den Herrn loben, so lange ich lebe, und meinem Gott lobsingen, weil ich hier bin.«

Noch nirgends habe ich solche Sonnenuntergänge gesehen wie hier, heute war ein besonders seltsames Abendrot. Der ganze Himmel war wie in Blut getaucht. Die roten Wolken waren über den ganzen Himmel zerstreut wie Fetzen blutbesudelter Kleider, als ob im Himmel ein Mord oder irgendeine furchtbare Opferung geschehen wäre. Und vom Himmel tropfte Blut auf die Erde herab. Der rote Lehm sah zwischen den kohlschwarzen spitzen Borsten der Tannenbäume wie Blutflecken aus.

Während ich dieses Bild betrachtete, erklang von oben, wie von diesem schrecklichen Himmel herab, eine Stimme:

»Fräulein Juliane! Fräulein Juliane!«

Es war der Zarewitsch, der oben auf dem Taubenschlag mit einer langen Stange in der Hand, mit der man hier die Tauben zum Fliegen antreibt, stand. Er ist ein großer Liebhaber von Tauben.

Ich stieg auf einer schwankenden Leiter zu ihm hinauf, und als ich oben auf der Plattform stand, flatterten die weißen Tauben wie Schneeflocken, vom Abendrot rosa gefärbt, empor, und von ihren rauschenden Flügeln erhob sich ein leiser Wind.

Wir setzten uns auf eine Bank und begannen, wie so oft in der letzten Zeit, vom Glauben zu sprechen.

»Euer Martin Luther hat alle seine Satzungen auf der Weisheit dieser Welt und auf seinem eigenen Geschmack und nicht auf der Kraft des Geistes aufgebaut. Und ihr Armen habt euch über dieses leichte Leben gefreut und den leichtsinnigen Worten des Verführers Glauben geschenkt; aber den schmalen und beschwerlichen Pfad, den Christus selbst gewiesen, habt ihr verlassen. Dieser Martin hat sich als der größte Tor dieser Welt gezeigt, und in seinen Satzungen ist das gefährliche Gift der höllischen Schlange enthalten . . .«

Ich bin an derartige russische Liebenswürdigkeiten gewöhnt und überhöre sie gewöhnlich. Mit Vernunftgründen dagegen zu streiten, ist dasselbe wie mit einem Degen gegen einen Eichenknüppel zu kämpfen. Diesmal wurde ich aber zornig und sagte ihm alles, was ich auf dem Herzen hatte.

Ich bewies ihm, daß die Russen, die sich für besser als die anderen christlichen Völker hielten, schlimmer als alle Heiden lebten; sie behaupteten, sich zum Gesetz der Liebe zu bekennen und verübten dabei Grausamkeiten, wie man sie sonst nirgends in der Welt finde; sie hielten alle Fasten und betränken sich während der Fasten wie die Schweine; sie besuchten die Kirche und beschimpften einander im Gotteshause mit dem Mutterschimpfwort. Sie seien so unwissend, daß bei uns Deutschen ein fünfjähriges Kind mehr vom Glauben wisse als bei ihnen die Erwachsenen und selbst die Priester; von einem halben Dutzend Russen könne kaum einer das Vaterunser aufsagen. Auf meine Frage, wer die dritte Person der heiligen Dreifaltigkeit sei, hätte mir eine fromme alte Frau Nikola den Wundertäter genannt. Dieser Nikola sei der wahre russische Gott, und man könnte glauben, daß sie keinen anderen Gott hätten. Nicht umsonst hätte im Jahre 1620 der schwedische Theologe Johannes Botwid an der Akademie von Upsala eine Dissertation verteidigt: »Sind die Moskowiter Christen?«

Ich weiß nicht, was ich ihm noch alles gesagt hätte, wenn der Zarewitsch, der die ganze Zeit über ruhig zugehört hatte – und diese Ruhe ärgerte mich am meisten –, mich nicht unterbrochen hätte.

»Ich wollte Sie schon längst fragen, Fräulein: glauben Sie an Christus?«

»Ob ich an Christus glaube? Wissen denn Eure Hoheit nicht, daß wir alle Lutheraner sind?«

»Ich spreche nicht von allen, sondern nur von Euer Gnaden. Ich fragte einmal darüber Ihren Lehrer Leibniz; er machte Ausflüchte und führte mich an der Nase herum; ich dachte mir aber gleich, daß er keinen richtigen Glauben an Christus hat. Und wie verhält es sich mit Ihnen?«

Er blickte mich unverwandt an. Ich schlug die Augen nieder und mußte unwillkürlich an alle meine Zweifel, an meine Dispute mit Leibniz und an die unlösbaren Widersprüche zwischen der Metaphysik und der Theologie denken.

»Ich denke,« begann ich, statt ihm direkt auf seine Frage zu antworten, »daß Christus der gerechteste und weiseste Mensch gewesen ist . . .«

»Und kein Sohn Gottes?«

»Wir sind alle Kinder Gottes . . .«

»Und er war wie alle?«

Ich wollte nicht lügen und schwieg.

»Nun habe ich also doch recht!« sagte er mit einem Gesichtsausdruck, den ich bei ihm noch niemals wahrgenommen hatte. »Ihr seid weise, stark, ehrlich und lobenswert. Ihr habt alle Tugenden. Aber den Heiland habt Ihr nicht. Was braucht Ihr ihn auch? Ihr rettet euer Seelenheil selbst, wir sind aber dumme, elende, nackte, betrunkene, stinkende Barbaren, ärger als das Vieh und gehen immer zugrunde. Und doch ist Väterchen Christus mit uns und wird ewig mit uns bleiben. Durch ihn und durch sein Licht werden wir erlöst werden!«

Er sprach von Christus ebenso, wie hier die einfachsten Leute und Bauern über ihn sprechen: ich habe bemerkt, daß sie von ihm so sprechen, als ob er ihr Verwandter, Hausgenosse und ein Bauer wie sie wäre. Ich weiß nicht, was es ist: der höchste Hochmut und Blasphemie, oder die größte Demut und Heiligkeit.

Nun schwiegen wir beide. Die Tauben flogen wieder zurück, und ihre weißen Flügel zitterten zwischen uns beiden, uns gleichsam verbindend.

Ihre Hoheit schickte nach mir.

Als ich vom Taubenschlag herabgestiegen war, blickte ich zum letztenmal auf den Zarewitsch zurück. Er fütterte die Tauben. Sie umkreisten ihn und setzten sich ihm auf die Arme, Schultern und auf den Kopf. Er stand hoch oben über dem schwarzen, wie verkohlten Walde, im roten, blutigen Himmel, ganz in weiße Flügel wie in ein Kleid eingehüllt.

 

31. Oktober 1715.

Jetzt, wo alles zu Ende ist, schließe ich auch dieses Tagebuch.

Mitte August (wir waren Ende Mai aus Roshdestwenno nach Petersburg zurückgekehrt), ungefähr zehn Wochen vor der Niederkunft fiel Ihre Hoheit auf der Treppe hin und schlug mit der linken Hüfte an die oberste Stufe an. Man sagt, sie sei gestolpert, weil an ihrem Schuh der Absatz gebrochen wäre. In Wirklichkeit war sie aber ohnmächtig geworden, als sie sah, wie der betrunkene Zarewitsch unten vor der Treppe seine Geliebte, die leibeigene Dirne Afrossinja, umarmte und küßte.

Er lebt mit ihr seit langer Zeit ganz öffentlich zusammen. Als er aus Karlsbad zurückgekehrt war, nahm er sie zu sich ins Haus. Ich habe es in meinem Tagebuch nicht erwähnt, weil ich fürchtete, Ihre Hoheit könnte es lesen.

Ob sie es wußte? Wenn sie es auch wußte, so wollte sie es jedenfalls nicht wissen; sie glaubte nicht daran, bis sie es mit eigenen Augen sah. Eine leibeigene Magd – die Nebenbuhlerin der Herzogin von Wolfenbüttel, der Schwiegertochter des Kaisers! »In Rußland ist auch das Unmögliche möglich,« sagte mir einmal ein Russe. Der Vater lebt mit einer Wäscherin, der Sohn – mit einer Magd.

Die einen sagen, sie sei eine Finnin, die ebenso wie die Zarin von Soldaten gefangengenommen worden wäre; die andern behaupten, sie sei eine leibeigene Magd des Erziehers des Zarewitsch, Nikifor Wjasemskij. Das letztere erscheint mir wahrscheinlicher.

Sie ist recht hübsch, aber man sieht ihr gleich die gemeine Abstammung an. Sie ist groß, rothaarig und weiß. Sie hat eine Stulpnase und große, helle Augen mit einem schrägen, länglichen Schlitz wie eine Kalmückin; der Blick ist wild und erinnert an den Blick einer Ziege; sie hat überhaupt etwas von einer Ziege, wie das Satyrweibchen auf Rubens Bacchanal. Es ist eines jener Gesichter, die uns Frauen empören und den Männern fast immer gefallen.

Der Zarewitsch soll in sie sterblich verliebt sein. Als er sie kennenlernte, war sie angeblich unschuldig gewesen und hatte sich lange seinen Nachstellungen widersetzt. Er gefiel ihr nicht im geringsten und konnte weder mit Versprechungen noch mit Drohungen etwas erreichen. Aber einmal nach einem Trinkgelage fiel er betrunken, in einem Anfall von Raserei, wie er sie manchmal genau wie sein Vater hat, über sie her, schlug sie halb tot, bedrohte sie mit einem Messer und nahm von ihr gewaltsam Besitz. Russische Grausamkeit, russischer Schmutz!

Und das ist derselbe Mensch, der ganz wie ein Heiliger aussah, als er im Walde von Roshdestwenno den Lobgesang auf Alexej, den Mann Gottes, sang und, von den Tauben umgeben, vom »Väterchen Christus« sprach! Es ist übrigens ein besonderes russisches Talent, solche äußersten Gegensätze zu vereinen; uns dummen Deutschen ist Gott sei Dank das Verständnis dafür nicht gegeben.

»Wir Russen,« sagte mir einmal der Zarewitsch, »verstehen in keinem Dinge Maß zu halten; wir irren immer am äußersten Rande und an den Abgründen umher.«

Ihre Hoheit fühlte nach dem Sturze auf der Treppe Schmerzen in der linken Hüfte. »Es ist mir, als ob man mich am ganzen Körper mit Nadeln steche,« sagte sie. Sie war aber ganz ruhig, als ob sie irgendeinen Entschluß gefaßt hätte und wüßte, daß nichts in der Welt diesen Entschluß ändern könne. Über den Zarewitsch sprach sie mit mir nicht mehr und klagte auch nicht mehr über ihr Los. Nur einmal sagte sie mir:

»Ich halte mein Ende für unvermeidlich. Ich hoffe, daß meine Leiden bald ein Ende nehmen werden. Nichts in der Welt wünsche ich mir sehnlicher, als den Tod. In ihm ist meine einzige Rettung.«

Am 12. Oktober kam sie glücklich mit einem Knaben nieder, mit dem zukünftigen Thronerben Peter Alexejewitsch. In den ersten Tagen nach der Niederkunft fühlte sie sich recht wohl, wenn man ihr aber gratulierte und Genesung wünschte, wurde sie böse und bat alle, zu beten, daß Gott ihr den Tod schicke.

»Ich will sterben und werde sterben,« sagte sie mit jener schrecklichen ruhigen Entschlossenheit, die sie bis zu ihrem Ende nicht mehr verließ. Sie hörte nicht auf die Ärzte und die Hebammen und tat wie absichtlich alles, was man ihr verbot. Am vierten Tag setzte sie sich in einen Sessel, ließ sich in ein anderes Zimmer tragen und stillte selbst ihr Kind. In der folgenden Nacht trat eine Verschlimmerung in ihrem Zustand ein; sie bekam Fieber, Erbrechen, Krämpfe und solche Leibschmerzen, daß sie lauter als bei der Geburt schrie.

Als der Zar, der in jenen Tagen selbst krank war, davon erfuhr, schickte er den Fürsten Menschikow mit den vier Leibärzten – Areskin, Polikola und den beiden Blumentrost –, um ein Konsilium abzuhalten. Sie fanden sie in den letzten Zügen – in mortis limine.

Als man sie bat, Arznei einzunehmen, warf sie das Glas zu Boden und sagte:

»Quält mich nicht. Laßt mich ruhig sterben. Ich will nicht leben.«

Am Tage vor ihrem Tode ließ sie den Baron Löwenwolde kommen und teilte ihm ihren letzten Willen mit: daß niemand von ihren Nächsten, sowohl hier als in Deutschland, es wagen solle, auch nur ein böses Wort über den Zarewitsch zu reden; sie sterbe in jungen Jahren, viel früher, als sie gedacht hätte, sie wäre aber mit ihrem Los zufrieden und habe niemandem etwas vorzuwerfen.

Dann nahm sie von allen Abschied. Mich segnete sie wie eine Mutter.

Am letzten Tag wich der Zarewitsch nicht von ihrer Seite. Er sah ganz schrecklich aus. Dreimal fiel er in Ohnmacht. Sie sprach nicht mit ihm, als ob sie ihn gar nicht sehe. Nur kurz vor dem Ende, als er ihre Hand küßte, sah sie ihn mit einem langen Blick an und flüsterte ihm etwas zu; ich verstand nur die Worte:

»Bald . . . bald . . . sehen wir uns wieder . . .«

Sie starb so leicht, als ob sie einschliefe. Die Tote hatte ein so glückliches Gesicht, wie es die Lebende niemals gehabt hatte.

Auf Befehl des Zaren wurde die Leiche seziert. Er selbst wohnte der Sektion bei.

Die Beerdigung fand am 27. Oktober statt. Es wurde lange herumgestritten, ob nach der Hofetikette bei der Beerdigung einer Kronprinzessin mit Kanonen geschossen werden müsse; und wenn ja, wievielmal. Man befragte auch die fremden Gesandten darüber. Der Zar war wegen dieser Schießerei mehr besorgt als wegen des ganzen Schicksals Ihrer Hoheit. Es wurde beschlossen, nicht zu schießen.

Der Sarg wurde auf einem eigens zu diesem Zwecke errichteten Bretterstege von der Haustüre bis an die Newa getragen. Dem Sarge folgten der Zar und der Zarewitsch. Die Zarin wohnte der Beerdigung nicht bei. Sie erwartete von Stunde zu Stunde ihre eigene Niederkunft. Auf der Newa stand eine Trauerfregatte, mit schwarzer Flagge und ganz mit schwarzem Tuch ausgeschlagen.

Ganz langsam, zu den Tönen der Trauermusik fuhr man zu der noch nicht fertigen Peter-Pauls-Kathedrale, wo das Grab der Kronprinzessin bis zur Vollendung des Baues unter freiem Himmel stehen mußte. Nun wird es auf die Tote regnen, wie es auf die Lebende geregnet hatte.

Der Abend war grau und still. Der Himmel sah wie ein Grabgewölbe aus, die Newa – wie ein dunkler Spiegel; die ganze Stadt im Nebel – wie ein Gespenst oder ein Traumgesicht. Und alles, was ich in dieser schrecklichen Stadt erfahren, gesehen und gehört hatte, erschien mir in diesem Augenblick noch mehr als je wie ein Traum.

Aus der Kathedrale kehrte man nachts ins Palais des Zarewitsch zum Leichenschmause zurück. Hier übergab der Zar seinem Sohn einen Brief, in dem er ihm, wie ich später erfuhr, drohte, ihn zu enterben und zu verstoßen, wenn er sich nicht besserte.

Am nächsten Tag kam die Zarin mit einem Sohn nieder.

Zwischen diesen beiden Kindern – dem Sohne und dem Enkel des Zaren – schwanken die Geschicke Rußlands.

 

1. November.

Gestern abend begab ich mich zum Zarewitsch, um mich mit ihm über meine Rückkehr nach Deutschland zu besprechen. Er saß vor einem Ofen und verbrannte Papiere, Briefe und Handschriften. Er befürchtete wohl eine Haussuchung.

Er hielt in der Hand ein kleines Büchlein in abgeriebenem Ledereinband und war eben im Begriff, es ins Feuer zu werfen, als ich ihn mit plötzlicher Unbescheidenheit, über die ich selbst erstaunt war, fragte, was es sei. Er reichte mir das Buch. Ich blickte hinein und sah, daß es ein Notizbuch oder ein Tagebuch des Zarewitsch war. Die stärkste Leidenschaft aller Frauen, und meine insbesondere, die Neugierde, bewog mich zu einer noch größeren Unbescheidenheit: ich bat den Zarewitsch, mir dieses Tagebuch zum Lesen zu geben.

Er überlegte es sich einen Augenblick, blickte mir scharf ins Gesicht und lächelte plötzlich mit seinem lieben, kindlichen Lächeln, das mir an ihm so gefällt.

»Vertrauen gegen Vertrauen. Ich las Ihr Tagebuch, lesen sie das meine.«

Er nahm mir aber das Wort ab, daß ich niemals und mit niemand über seine Aufzeichnungen sprechen werde und daß ich ihm das Buch morgen zur Verbrennung zurückgebe.

Ich saß die ganze Nacht über diesem Buche. Es ist eigentlich ein alter russischer, in Kijew gedruckter Kalender. Der verstorbene Metropolit Dimitrij von Rostow, den man im Volke für einen Heiligen hält, hatte ihn im Jahre 1708 dem Zarewitsch geschenkt. Der Zarewitsch hatte seine Gedanken und Erlebnisse teilweise an den Seitenrändern und den weißen Stellen im Buche und teilweise auf einzelnen lose eingelegten und auch eingeklebten Blättern eingetragen.

Ich entschloß mich, dieses Tagebuch abzuschreiben.

Ich werde mein Wort halten: solange ich lebe, und solange der Zarewitsch lebt, wird niemand von seinen Aufzeichnungen erfahren. Sie dürfen aber nicht spurlos untergehen.

Über den Sohn und den Vater wird Gott zu Gericht sitzen. Die Menschen haben aber den Zarewitsch verleumdet. Möge nun dieses Tagebuch, falls es zu den Nachkommen gelangt, ihn anklagen oder freisprechen, jedenfalls aber die Wahrheit enthüllen.


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