Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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II.

Peter wurde krank. Er hatte sich während der Überschwemmung, als er, bis zum Gürtel im Wasser stehend, die Habe der Armen aus den Kellern rettete, erkältet. Anfangs schenkte er der Krankheit keine Beachtung und blieb auf. Am 15. November legte er sich aber ins Bett, und der Leibarzt Blumentrost erklärte, daß das Leben des Zaren in Gefahr sei.

In diesen selben Tagen entschied sich das Schicksal Alexejs. Als Peter am Tage der Beerdigung der Kronprinzessin, dem 28. Oktober, aus der Peter-Pauls-Kathedrale ins Haus seines Sohnes zum Leichenschmaus gekommen war, übergab er diesem einen »Mitteilung an meinen Sohn« überschriebenen Brief, in dem er von ihm unter Androhung seines Zornes und der Enterbung sofortige Besserung forderte.

»Ich weiß gar nicht, was ich tun soll,« sagte der Zarewitsch zu seinen Nächsten. »Ob ich die Armut auf mich nehmen und mich, bis die Zeit kommt, unter Bettlern verstecken soll, oder in ein Kloster gehen und unter den Mönchen leben, oder in ein anderes Land ziehen, wo man die Fremdlinge aufnimmt und sie niemandem ausliefert?«

»Geh ins Kloster,« riet der Admiralitätsrat Alexander Kikin, der langjährige Gesinnungsgenosse und Vertraute Alexejs. »Die Mönchskappe ist am Kopfe nicht angenagelt: man kann sie auch wieder ablegen. Du wirst Ruhe haben, wenn du allen diesen Dingen den Rücken kehrst . . .«

»Ich habe dich vom Blutgerüst gerettet, auf das dich dein Vater bringen wollte,« sagte Fürst Wassilij Dolgorukij. »Jetzt kannst du dich freuen, denn du hast keine Sorgen mehr. Du kannst ruhig tausend Absagebriefe schreiben. Bis die Frist kommt, kann sich noch manches ändern. Ein altes Sprichwort sagt: Die Schnecke reist, aber man weiß nicht, ob sie überhaupt je ankommt. Ein solcher Absagebrief ist kein Vertrag mit Konventionalstrafe . . .«

»Es ist gut, daß du auf die Erbschaft verzichtest,« tröstete ihn Fürst Jurij Trubetzkoj. »Bedenke doch: fließen denn wegen des Goldes wenig Tränen?«

Der Zarewitsch sprach mit Kikin viel über die Möglichkeit einer Flucht ins Ausland, »um da zu bleiben, ohne irgendwelche Pläne, nur um in Ruhe von allem entfernt zu leben.«

»Wenn sich eine Gelegenheit bietet,« riet Kikin, »so reise nach Wien zum Kaiser. Der wird dich niemandem ausliefern. Der Kaiser sagte, daß er dich wie einen Sohn aufnehmen wird. Oder auch zum Papst oder an den französischen Hof. Dort gewährt man auch Königen Schutz; und einen solchen wie dich aufzunehmen, wäre ihnen ein Leichtes . . .«

Der Zarewitsch hörte alle die Ratschläge an, konnte sich aber zu nichts entschließen und lebte von Tag zu Tag in Erwartung »des göttlichen Ratschlusses«.

Plötzlich wurde alles anders. Peters Tod drohte nicht nur die Geschicke Rußlands, sondern auch die der ganzen Welt umzustürzen. Der, der sich gestern unter Bettlern verstecken wollte, konnte morgen den Thron besteigen.

Der Zarewitsch sah sich plötzlich von neuen Freunden umgeben; sie versammelten sich um ihn, flüsterten und tuschelten.

»Wir wollen warten, etwas muß doch kommen.«

»Wenn der Würfel fällt, ist das Schicksal entschieden, und wenn es entschieden ist, kann man ihm nicht entrinnen.«

»Auch für uns wird die Zeit kommen, daß wir unser Liedchen singen.«

»Es kommt auch vor, daß die Mäuse den Kater auf den Friedhof schleppen.«

In der Nacht vom 1. auf den 2. Dezember fühlte sich der Zar so schlecht, daß er seinen Beichtvater, den Archimandriten Fedoß, kommen ließ, um zu beichten und zu kommunizieren. Jekaterina und Menschikow blieben ständig im Krankenzimmer. Die Residenten der fremden Höfe, die russischen Minister und Senatsmitglieder nächtigten in den Gemächern des Winterpalais. Als der Zarewitsch am Morgen ins Palais kam, um sich nach dem Befinden des Zaren zu erkundigen, wollte ihn der Vater nicht empfangen. Aber am plötzlichen Schweigen der vor ihm ausweichenden Menge, an den sklavischen Verbeugungen, suchenden Blicken und bleichen Gesichtern, besonders der Stiefmutter und des Fürsten Menschikow konnte Alexej erkennen, daß das, was ihm immer so fern und beinahe unmöglich erschienen, bald in Erfüllung gehen konnte. Sein Herz stand still, sein Atem stockte, er wußte selbst nicht warum: vor Freude oder vor Entsetzen.

Am Abend desselben Tages besuchte er Kikin und unterhielt sich mit ihm lange unter vier Augen. Kikin wohnte am Ende der Stadt, in der Nähe des Smoljnyjhofes, der Ochtavorstadt gegenüber, von Kikin kehrte er nach Hause zurück.

Der Schlitten glitt schnell durch den leeren Wald und durch die an Walddurchhaue gemahnenden, ebenso leeren breiten Straßen mit den kaum sichtbaren dunklen Reihen vom Schnee verwehter Holzhütten. Der Mond war nicht zu sehen, aber die Luft war von grellen Mondlichtfunken, wie von blendenden Nadeln erfüllt. Der Schnee fiel nicht von oben herab, sondern wirbelte wie Rauch vom Winde getrieben von unten in die Höhe. Das mondlichtdurchflutete Schneegestöber spielte und schäumte im bläulich-trüben Himmel wie der Wein in einer Schale.

Alexej atmete mit Genuß die frostige Luft ein. Es war ihm so lustig zumute, als ob auch in seiner Seele ein lichtdurchfluteter, wilder, trunkener und berauschender Schneesturm spielte. Und ebenso wie hinter dem Schneegestöber der Mond schien, so schwebte hinter seiner Lustigkeit ein Gedanke, den er selbst noch nicht sah, den zu erkennen er fürchtete, der ihn aber berauschte und sein Herz mit Entsetzen und Lust erfüllte.

Durch den bläulichen Mondnebel hindurch flimmerten in den vereisten Fenstern der Hütten unter den von den Dächern herabhängenden Eiszapfen trübe Flämmchen wie trunkene Augen unter grauen Brauen. »Vielleicht«, dachte sich Alexej, auf die erleuchteten Fenster blickend, »lassen sie jetzt dort mich, die Hoffnung Rußlands, hochleben!« Und es wurde ihm noch lustiger zumute.

Nach Hause zurückgekehrt, setzte er sich vor den Kamin mit der glimmenden Kohlenglut und befahl seinem Kammerdiener Afanaßjewitsch, einen Punsch zu bereiten. Im Zimmer war es dunkel, und es wurde kein Licht gemacht, denn Alexej liebte es, in der Dämmerung zu sitzen. Im rosigen Widerschein der Kohlenglut flackerte plötzlich die blaue Weingeistflamme empor. Der monddurchschienene Schneesturm blickte mit blauen Augen durch die durchsichtigen Eisblumen herein, und es schien, als ob auch dort hinter den Fensterscheiben eine lebende, riesige, trunkene blaue Flamme flackerte.

Alexej weihte Afanaßjitsch in sein Gespräch mit Kikin ein: es war ein richtiger Verschwörungsplan für den Fall einer Flucht und einer Rückkehr aus dem Auslande nach dem Tode des Vaters, der doch bald kommen mußte: – der Zar litt an Epilepsie, und solche Menschen leben nicht lange. Die Minister und Senatoren – Tolstoi, Golowkin, Schafirow, Apraxin, Streschnjow, die Dolgorukijs – alle seien sie seine Freunde und würden sich ihm sofort anschließen; ebenso Bauer in Polen, der Archimandrit des Petscherskij-Klosters in der Ukraine und Scheremetjew bei der Hauptarmee.

»Die ganze europäische Grenze würde mir gehören!«

Afanassjitsch hörte ihm mit seiner gewöhnlichen trotzigen und finsteren Miene zu, als ob er sagen wollte: das klingt ja alles recht schön, ob es aber gelingt?

»Und Menschikow?« fragte er, als Alexej zu Ende war.

»Menschikow kommt auf den Pfahl!«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Warum redest du so kühn, Zarewitsch? Wenn es jemand hört und dem Vater hinterbringt? Fluche dem Könige nicht in deinem Herzen und fluche dem Reichen nicht in deiner Schlafkammer; denn die Vögel des Himmels führen die Stimme, und die Fittiche haben, sagen es nach.«

»Nun fängst du schon wieder zu brummen an!« sagte der Zarewitsch mit abwehrender Handbewegung, geärgert, doch voller unbändiger Freude.

Afanassjitsch wurde böse.

»Ich brumme nicht, sondern rede zur Sache. Man soll einen Traum nur rühmen, wenn er in Erfüllung gegangen ist. Du geruhst, Hoheit, spanische Luftschlösser zu bauen. Auf mich Niedrigen willst du nicht hören. Du vertraust den andern, die dich betrügen. Der Judas Tolstoi und der gottlose Kikin sind Verräter! Nimm dich vor ihnen in acht, Zarewitsch: du wärest nicht der erste, den sie auffressen . . .«

»Ich spucke auf sie alle, wenn nur die Geistlichkeit auf meiner Seite ist!« rief der Zarewitsch aus. »Wenn die Zeit kommt, wo der Vater nicht mehr ist, sage ich den Bischöfen nur ein einziges Wort, die Bischöfe geben es den Pfarrern weiter, und die Pfarrer der Gemeinde. Dann werde ich Zar, auch wenn sie es nicht wollen!«

Der Alte schwieg mit demselben trotzigen und finsteren Ausdruck: das klingt ja alles recht schön; ob es aber gelingt?

»Was schweigst du?« fragte Alexej.

»Was soll ich sagen, Zarewitsch? Tue was du willst, aber wenn es vor dem Vater zu fliehen gilt, will ich nicht dein Ratgeber sein.«

»Warum?«

»Darum: wenn es gelingt, so ist es gut; und wenn nicht, so wirst du deinen ganzen Zorn an mir auslassen. Ich habe auch so genug von dir ausstehen müssen. Wir sind kleine Leute, und unser Fell ist dünn . . .«

»Paß auf, Afanaßjitsch, daß du es niemandem erzählst! Nur du und Kikin wissen etwas davon, wenn du es verrätst, wird dir niemand glauben; ich werde alles leugnen, und dich wird man foltern . . .«

Von der Folter sprach der Zarewitsch nur zum Scherz, um den Alten zu necken.

»Was wirst du erst tun und sprechen, wenn du Zar wirst, wenn du schon jetzt deinen treuen Dienern mit der Folter drohst?«

»Fürchte nichts, Afanaßjitsch! Wenn ich Zar werde, werdet ihr alle belohnt und geehrt werden . . . Aber ich werde niemals Zar,« fügte er traurig hinzu.

»Du wirst es! Du wirst es!« entgegnete der Alte so überzeugt, daß Klexej vor Freude wieder der Atem stockte.

Schlittenschellen, das Knirschen von Kufen, das Schnauben von Pferden und Menschenstimmen erklangen unter dem Fenster. Alexej wechselte mit Afanaßjitsch einen schnellen Blick: wer konnte zu einer so späten Stunde kommen? Vielleicht jemand aus dem Palais, vom Vater?

Iwan lief auf den Flur hinaus. Es war der Archimandrit Fedoß. Als der Zarewitsch ihn erblickte, glaubte er, sein Vater sei schon gestorben. Er wurde so furchtbar blaß, daß der Mönch es trotz der Dunkelheit sah und bei der Segenserteilung leise lächelte.

Als sie unter vier Augen geblieben waren, setzte sich Fedoska vor dem Kamine dem Zarewitsch gegenüber und blickte ihn schweigend mit kaum wahrnehmbarem Lächeln an; er wärmte sich die erfrorenen Hände über den Kohlen, wobei er seine krummen, an Vogelkrallen gemahnenden Finger bald zusammenballte und bald ausstreckte.

»Nun, was gibt es, Ehrwürden?« fragte endlich Alexej, seinen ganzen Mut zusammennehmend.

»Schlecht steht es,« sagte der Mönch mit einem schweren Seufzer, »sehr schlecht, und wir hoffen nicht mehr, daß er am Leben bleibt . . .«

Der Zarewitsch bekreuzigte sich und sagte:

»Es ist Gottes Wille . . .«

»Ich sah einen Mann, mächtig wie eine Zeder vom Libanon,« sagte Fedoß im singenden Kirchentone. »Ich ging vorbei, und da war er nicht mehr. Denn des Menschen Geist muß davon, und er muß wieder zur Erde werden, alsdann sind verloren alle seine Anschläge . . .«

Er brach plötzlich ab, brachte sein kleines zusammengeschrumpftes Gesichtchen dem Gesicht Alexejs ganz nahe und flüsterte schnell und einschmeichelnd:

»Der Herr wartet lange und straft hart. Die tödliche Krankheit des Zaren kommt von maßlosem Trinken, von Unzucht mit Weibern und ist Gottes Rache für seine Angriffe auf die Geistlichkeit und das Mönchtum, die er abschaffen will. Solange die Kirche solcher Tyrannei ausgesetzt ist, kann man nichts Gutes erwarten. Wie kann da das Christentum gedeihen?! Es ist, als ob wir den türkischen Glauben annehmen sollten, aber auch bei den Türken geschieht so etwas nicht. Verloren ist unser Land! . . .«

Der Zarewitsch hörte zu und traute seinen Ohren nicht. Alles hatte er von der Frechheit Fedoßkas erwartet, nur das nicht.

»Und ihr, Bischöfe und Hirten der russischen Kirche, was tut ihr dagegen? Wer soll für die Kirche eintreten, wenn nicht ihr?« fragte er, Fedoßka gerade in die Augen blickend.

»Was sprichst du, Zarewitsch? Was sind wir für Hirten? Unsere Bischöfe sind so aufgezäumt, daß du sie lenken kannst, wohin du willst. Wie die kleinen Beamten werden sie eingesetzt. Von wem sie einen Bissen Brot erhalten, den rühmen sie. Zu jeder Stunde sind sie bereit, sich nach dem Winde zu richten. Sie sind keine Bischöfe, sondern ein Gesindel . . .«

Er senkte den Kopf und fügte leise, wie für sich, hinzu – Alexej glaubte in den leisen Worten des Mönches die Stimme der Jahrhunderte zu hören:

»Wir waren Adler und sind nächtliche Fledermäuse geworden!«

In seiner schwarzen Mönchskappe, mit den schwarzen Flügeln der Kutte, mit dem häßlichen spitzigen Gesichtchen, von unten durch den rötlichen Schein der verglimmenden Kohlenglut beleuchtet, erinnerte er in der Tat an eine riesige Fledermaus. Nur in seinen klugen Augen glimmte ein Fünklein, das eines Adlerblickes würdig war.

»Dir geziemt es nicht, das zu sagen, und mir geziemt es nicht, das zu hören, Ehrwürden!« sagte endlich der Zarewitsch, der sich nicht länger beherrschen konnte. »Wer hat die Kirche der Zarengewalt unterworfen? Wer redet dem Zaren zu, lutherische Bräuche im Volke einzuführen, die Kapellen niederzureißen, die Ikonen zu beschimpfen und den Mönchsstand abzuschaffen? Wer gibt ihm die Absolution?«

Plötzlich hielt er inne. Der Mönch starrte ihn so durchdringend und scharf an, daß es ihm ganz unheimlich zumute wurde, war nicht das Ganze eine List, eine Falle? Hatte nicht Menschikow oder der Vater selbst diesen Fedoßka zu ihm als Spion geschickt?

»Kennst du, Hoheit,« begann Fedoßka, mit unendlich verschlagenem Lächeln ein Auge zusammenkneifend, »kennst du die Figur, die man in der Logik ›reductio ad absurdum‹ – Zurückführung auf das Sinnlose nennt? Dieses ist es, was ich tue. Der Zar hat seinen Fuß auf die Kirche gesetzt, hat aber nicht den Mut, sie offen zu bekämpfen; darum verwüstet er sie heimlich und läßt sie langsam verfaulen. Ich meine aber: wenn man etwas zerstören will, so soll man es gründlich tun! Was du tust, das tue bald. Besser ist ein unverhülltes Luthertum, als eine krumme Rechtgläubigkeit; und besser auch unverhüllter Atheismus, als ein krummes Luthertum. Je schlimmer, um so besser. Das strebe ich an. Was der Zar beginnt, das bringe ich zur Vollendung; was er mir ins Ohr flüstert, das schreie ich hinaus, daß mich das ganze Volk hört. Ich gebrauche ihn als Zeugen gegen ihn selbst: sollen nur alle wissen, wie die Kirche Gottes beschimpft wird. Geduld bringt Huld, und wenn sie keine Huld bringt, so werden wir im richtigen Augenblick aus unserem Versteck hervortreten. Die Katze wird für die Tränen der Maus zu büßen haben!«

»Ausgezeichnet!« sagte der Zarewitsch lachend. Er bewunderte beinahe Fedoßka, glaubte ihm aber kein Wort. »Schlau bist du, Ehrwürden, wie der Teufel . . .«

»Verachte nicht den Teufel, Zarewitsch. Manchmal dient der Teufel gegen seinen Willen dem Herrn . . .«

»Willst du dich mit dem Teufel vergleichen, Ehrwürden?«

»Ich bin Politiker,« erwiderte der Mönch bescheiden. »Mit den Wölfen muß man heulen. Nicht nur die Lehrer der Politik zählen die Dissimulation zu den ersten Regeln der Regierungskunst, auch Gott selbst lehrt uns die Politik: wie ein Fischer auf seinen Angelhaken einen Wurm steckt, so hat auch der Herr seinen heiligen Geist mit dem Fleische seines Sohnes verkleidet, die Angel in die Tiefe des Weltalls versenkt und so den bösen Feind, den Teufel überlistet und gefangen. Das ist die List der göttlichen Weisheit! Das ist himmlische Politik!«

»Glaubst du an Gott, heiliger Vater?« fragte der Zarewitsch, ihn wieder scharf anblickend.

»Ist denn die Politik ohne die Kirche denkbar, und die Kirche ohne Gott? Es ist keine Obrigkeit ohne von Gott . . .«

Mit einem seltsamen halb frechen und halb scheuen Kichern fügte er hinzu:

»Du bist klug, Alexej Petrowitsch! Klüger als der Vater! Der Vater ist zwar klug, kennt aber die Menschen nicht; gar oft führen wir ihn an der Nase herum. Du kannst aber den klugen Menschen leichter erkennen . . . Du Lieber! . . .«

Er beugte sich plötzlich herab und küßte dem Zarewitsch die Hand so schnell und geschickt, daß dieser sie nicht mehr zurückziehen konnte und nur am ganzen Leibe erzitterte.

Obwohl er fühlte, daß die Schmeichelei des Mönches wie Honig an der Spitze eines Dolches war, so war der Honig doch süß. Er errötete und begann, um seine Verlegenheit zu verbergen, mit geheuchelter Strenge zu sprechen:

»Paß auf, Bruder Fedoß, daß du nicht hereinfällst! Der Krug geht solange zu Wasser, bis er bricht. Du neckst den Zaren wie eine Katze den Bären mit der Pfote; wenn sich aber dieser Bär umdreht und über dich herfällt, so ist's um dich geschehen.«

Fedoßkas Gesichtchen schrumpfte wie vor Schmerz zusammen, die Augen erweiterten sich, er sah sich um, als ob jemand hinter seinem Rücken stünde, und begann wie früher in fieberhafter Hast zusammenhanglose Worte zu flüstern:

»Ach, mein Lieber, so schrecklich ist es! Ich glaubte immer, daß ich von seiner Hand den Tod empfangen würde. Als ich in jungen Jahren mit dem übrigen Adel nach Moskau kam, und man uns ins Schloß führte und zum Handkuß zuließ, verbeugte ich mich zuerst vor deinem Onkel, dem Zaren Iwan Alexejewitsch; als ich aber die Hand des Zaren Peter Alexejewitsch küssen sollte, befiel mich eine solche Angst, eine so schreckliche Angst, daß meine Knie zitterten und ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, von jenem Tage an sagte ich mir immer, daß ich von seiner Hand den Tod empfangen werde!«

Er zitterte auch jetzt vor Schreck. Der Haß war aber mächtiger als die Angst. Er sprach von Peter in solchem Tone, daß es Alexej vorkam, als ob Fedoska nicht lüge oder nicht ganz lüge. In den Gedanken des Mönches erkannte er seine eigenen heimlichen bösen Gedanken über den Vater.

»Man sagt, er sei ein großer Herrscher. Worin liegt aber seine Größe? Nach Tyrannenart herrscht er über das Land. Mit dem Beil und der Knute bringt er Aufklärung ins Volk. Mit der Knute kann man aber nicht weit kommen. Das Beil ist nur ein eisernes Werkzeug und höchstens zwanzig Kopeken wert. Überall wittert er Verschwörungen und Aufstände. Und er sieht nicht, daß die ganze Verschwörung von ihm kommt. Er selbst ist der größte Aufwiegler. Er bricht und stürzt alles, haut mit dem Beil nach rechts und links, ganz ohne Sinn. Wieviel Menschen hat er hingerichtet, wieviel Blut vergossen! Die Verbrechen hören aber nicht auf. Das Gewissen der Menschen läßt sich nicht fesseln. Und Blut ist kein Wasser: es schreit nach Rache. Bald, bald wird der Zorn Gottes das russische Land treffen, und wenn eine Zwietracht im Staate ausbricht, dann werden es alle vom Größten bis zum Geringsten sehen: dann wird ein solches Beben ins Land kommen, ein solches Morden beginnen, daß die Köpfe nur so fliegen werden . . .«

Er fuhr mit der Hand über die Gurgel und ahmte mit der Zunge das Klopfen des Richtbeiles nach.

»Und aus diesem Blute wird die Kirche Gottes rein gewaschen, weißer als Schnee erstehen, wie ein mit der Sonne bekleidetes Weib, wie eine über alles herrschende Königin . . .«

Alexej blickte auf sein vor Wut verzerrtes Gesicht und seine wild brennenden Augen und meinte, einen Verrückten vor sich zu sehen. Ihm fielen die Worte eines der Klosterdiener ein: »Vater Feodossij hat manchmal Anfälle von Melancholie: wie vom Teufel besessen, fällt er zu Boden und weiß später selbst nicht, was mit ihm gewesen.«

»Dieses erhoffte ich und nach diesem Ziele strebte ich,« schloß der Mönch. »Der Herr hat sich wohl Rußlands erbarmt: er hat den Zaren gestraft und das Volk begnadigt. Dich hat er uns gesandt, dich, unsern Retter, dich, strahlendes Kind der Kirche, unsere Freude, den allerfrömmsten Selbstherrscher Allrußlands, deine Majestät!«

Der Zarewitsch sprang entsetzt auf. Auch Fedoska erhob sich, stürzte ihm zu Füßen, umschlang seine Knie und flehte mit lauter Stimme wild und inständig, beinahe drohend:

»Schaue auf deinen Knecht herab und erbarme dich seiner! Alles, alles will ich dir geben! Deinem Vater wollte ich es nicht geben, wollte es für mich behalten, wollte selbst Patriarch werden. Jetzt will ich es nicht, jetzt brauche ich gar nichts! . . . Alles für dich, mein Liebster, meine Freude, mein Herzensfreund Aljoschenjka! So lieb habe ich dich! . . . Du wirst Zar und Patriarch zugleich sein! Du wirst das Irdische mit dem Himmlischen vereinen, die Krone des heiligen Konstantins, die weiße Mönchskappe mit der Zarenkrone des Wladimir Monomachos! Du wirst größer als alle Zaren der Erde sein! Du bist der Erste, und du bist der Einzige! Du – und Gott! . . . Und ich bin dein Knecht, dein Hund, ein Wurm vor deinen Füßen, der armselige Fedoska! Ja, Majestät, ich verbeuge mich vor dir und umschlinge deine Beine wie meinem Heiland!«

Er verneigte sich vor ihm bis zur Erde, und die schwarzen Flügel der Kutte breiteten sich aus wie die Flügel einer Riesenfledermaus. Das edelsteingeschmückte Brustmedaillon mit dem Bildnisse des Zaren und dem Kruzifix schlug gegen den Boden und erklirrte. Ekel erfüllte die Seele des Zarewitsch, und es überlief ihn kalt wie bei der Berührung mit einem Reptil. Er wollte ihn wegstoßen, schlagen, anspucken, konnte sich aber nicht rühren, gleich als ob er im Banne eines schweren Traumes wäre. Und es schien ihm, als ob er nicht mehr den Gauner, den »armseligen Fedoßka«, vor sich hätte, sondern als ob ein Mächtiger, schrecklicher, Königlicher zu seinen Füßen läge – derjenige, der ein Adler gewesen und zu einer Fledermaus geworden war –, vielleicht gar die der Zarengewalt unterworfene und entehrte Kirche selbst? Und bei all dem Ekel und Entsetzen schwindelte es ihn vor wahnsinnigem Entzücken und dem Rausche des Machtbewußtseins. Es war ihm, als ob ihn jemand auf schwarzen Riesenfittichen in die Höhe höbe, ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeigte und zu ihm spräche: »Dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.«

Die Kohlen im Kamin glimmten unter der Asche. Das blaue Herz der Weingeistflamme flackerte kaum sichtbar. Auch das blaue Licht des monddurchschienenen Schneegestöbers hinter dem Fenster war erloschen. Jemand blickte mit blassen Augen zum Fenster herein. Und die Eisblumen an den Fensterscheiben schimmerten matt und weiß wie die Gespenster gestorbener Blumen.

Als der Zarewitsch wieder zu sich kam, war er wieder allein im Zimmer. Fedoska war verschwunden, wie in die Erde versunken oder als hätte er sich in der Luft aufgelöst.

»Was redete er da? Was phantasierte er?« fragte sich Alexej, wie aus dem Schlafe erwachend. »Die weiße Mönchskappe . . . Die Zarenkrone des Monomachen . . . Wahnsinn, Melancholie! . . . Und woher weiß er, woher weiß er, daß der Vater sterben wird? Wo hat er das her? Jo oft war er schon aufgegeben, und jedesmal hat sich Gott seiner erbarmt . . .«

Plötzlich erinnerte er sich an die Worte, die er an diesem Tage von Kikin gehört hatte:

»Dein Vater ist nicht ernstlich krank. Er hat absichtlich gebeichtet und kommuniziert, damit die Leute glauben, daß er schwer krank sei. Aber es ist nur Verstellung: er will dich und die anderen prüfen, wie ihr euch verhalten werdet, wenn er nicht mehr ist. Du kennst doch die Fabel: die Mäuse machen sich auf, den Kater zu begraben; sie hüpfen und tanzen, er springt aber auf und schlägt mit der Tatze hinein, – sofort hört der Tanz auf . . . Er hat kommuniziert, weil er seine eigenen Absichten hat und sich nicht nach den Bräuchen der Mäuse richtet . . .«

Diese Worte machten auf ihn damals einen beschämenden, häßlichen Eindruck und stachen ihn ins Herz. Er stellte sich aber so, als ob er sie überhört hätte: es war ihm gar zu heiter zumute, und er wollte an nichts denken.

»Kikin hat recht!« sagte er sich jetzt, und er hatte plötzlich ein Gefühl, als ob ihm eine Totenhand das Herz zusammenpreßte. »Ja, alles ist Verstellung, Betrug, Dissimulation, teuflische Politik, das Spiel der Katze mit der Maus, wenn er aufspringt und dreinschlägt . . . Es ist nichts und es war nichts. All meine Hoffnungen, all mein Entzücken, die Gedanken an Freiheit und Macht waren nur ein Traum, ein Fieberwahn, ein Wahnsinn . . .«

Die blaue Flamme zuckte zum letztenmal empor und erlosch. Es wurde ganz finster. Eine einzige glimmende Kohle blickte noch unter der Asche hervor und blinzelte ihm wie ein listiges Auge zu. Dem Zarewitsch wurde es unheimlich zumute; es war ihm, als ob Fedoska nicht fortgegangen wäre, als ob er sich irgendwo in einem Winkel verborgen hielte; plötzlich würde er auf seinen schwarzen Flügeln raschelnd emporfliegen, über seinem Kopfe wie eine Fledermaus flattern und ihm ins Ohr flüstern: »Diese Macht will ich dir alle geben und ihre Herrlichkeit; denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie, wem ich will . . .«

»Afanaßjitsch!« schrie der Zarewitsch. »Mach Licht! Schnell Licht!«

Der Alte stieg hustend und brummend von seiner warmen Ofenbank herab.

»Worüber habe ich mich so gefreut?« fragte sich der Zarewitsch, zum ersten Male in diesen Tagen bei vollem Bewußtsein. »Ist es denn möglich? . . .«

Afanaßjitsch kam barfuß herbei und brachte ein angebranntes Talglicht. Der nach der Finsternis blendende und stechende Lichtschein fiel dem Zarewitsch gerade in die Augen.

Auch in seiner Seele leuchtete etwas wie ein blendendes Licht auf: er sah plötzlich das, was er nicht sehen wollte, was zu sehen er nicht wagte, – was ihn so lustig machte: die Hoffnung, daß sein Vater sterben würde.


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