Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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II.

Am nächsten Margen nach der ersten Zusammenkunft Peters mit Alexej, am Montag, den 3. Februar 1718 wurden alle Minister, Senatoren, Generäle, Bischöfe und andere bürgerliche und geistliche Würdenträger nach dem Thronsaal, dem Audienzsaal des alten Kremlpalastes befohlen, um die Vorlesung des Manifestes von der Thronentsagung des Zarewitsch anzuhören und dem neuen Thronerben Peter Petrowitsch den Treueid zu leisten.

Innerhalb des Kremls waren auf allen Plätzen, Gängen und Treppen die Bataillone des Preobrashenkij-Leibgarderegiments aufgestellt. Man befürchtete einen Aufstand.

Im Audienzsaale war von der alten Ausstattung nur das Deckengemälde erhalten geblieben, das »den Gang der Gestirne, die zwölf Monate und die übrigen himmlischen Läufe« darstellte. Die ganze übrige Ausstattung war neu: holländische gewebte Tapeten, Kristallkandelaber, Stühle mit geraden Lehnen und schmale Pfeilerspiegel zwischen den Fenstern. In der Mitte des Saales stand unter einem rotseidenen Baldachin auf einem Podium, zu dem drei Stufen hinaufführten, der Zarenthron, ein vergoldeter Sessel, mit rotem Samt überzogen, auf dem ein goldener Doppeladler und die Schlüssel des heiligen Petrus gestickt waren.

Die durch die Fenster eindringenden schrägen Sonnenstrahlen fielen auf die weißen Perücken der Senatoren und die schwarzen Kapuzen der Bischöfe. Alle Gesichter drückten Furcht und jene Neugier aus, die sich der Zuschauer bei einer Hinrichtung bemächtigt. Es erscholl Trommelwirbel. Die Menge geriet in Bewegung und rückte auseinander. Der Zar trat ein und setzte sich auf den Thron.

Zwei riesengroße Gardisten vom Preobrashenskij-Regiment mit gezogenen Säbeln führten den Zarewitsch wie einen Arrestanten herein.

Ohne Perücke und Degen, im einfachen schwarzen Anzug, bleich doch ruhig, gleichsam in Gedanken versunken, ging er langsam mit gesenktem Kopf auf den Thron zu. Als er den Vater erblickte, erstrahlte sein Gesicht in einem leisen Lächeln, das an seinen Großvater, den Zaren Alexej den sanftesten, erinnerte.

Langaufgeschossen, mit schmalen Schultern und einem hageren, von schütteren, geraden, glatten Haaren umrahmten Gesicht glich er halb einem Dorfküster und halb dem heiligen Alexej, dem Mann Gottes, wie man ihn auf den Ikonen darstellt; unter allen den neuen Petersburger Gesichtern schien er allen fern und fremd, wie ein Gast aus einer andern Welt, wie ein Gespenst des alten Moskaus. Neben dem Ausdruck von Neugier und Furcht erschien auf manchem Gesicht etwas wie Mitleid mit diesem Gespenst.

Er blieb vor dem Throne stehen und wußte nicht, was er tun sollte.

»Auf die Knie, auf die Knie, und sprich, wie du es gelernt hast,« flüsterte ihm Tolstoi, der auf ihn von hinten zulief, ins Ohr.

Der Zarewitsch kniete nieder und sprach mit lauter ruhiger Stimme:

»Allergnädigster Herr Vater! Nachdem ich mein Verbrechen vor Eure Majestät als meinem Souverain und Vater erkannt, auch mich schon aus Neapolis durch ein Schreiben schuldig erklärt, so wiederhole solches anjetzo nachmalen und bekenne, daß ich wider meine kindliche Pflicht und Untertänigkeit entwichen und mich unter des Römischen Kaisers Protektion begeben, auch selbigen um Assistence gebeten, weswegen gnädigsten Pardon und Erbarmung suche.«

Nicht weil es durch das Zeremoniell vorgeschrieben war, sondern weil sein Herz ihn dazu drängte, verneigte er sich vor dem Vater bis zur Erde.

Auf einen Wink des Zaren begann nun der Vizekanzler Schafirow das Manifest zu lesen, das am gleichen Tage auch auf dem Roten Platze dem Volke vorgelesen werden sollte.

»Wir hoffen, daß es der Mehrzahl unserer treuen Untertanen bekannt ist, mit welchem Eifer und welcher Sorgfalt wir uns um die Erziehung Unseres erstgeborenen Sohnes Alexej bemüht haben. Aber unser ganzer Eifer nützte nichts, und die Saat der Belehrung fiel auf hartes Gestein, da er die ihm erteilten Lehren nicht nur nicht befolgte, sondern auch haßte, keinerlei Neigung weder zu militärischen noch zu bürgerlichen Angelegenheiten zeigte, und mit lauter schlechten und gemeinen Leuten, die rohe und häßliche Angewohnheiten hatten, Umgang pflegte.«

Alexej hörte fast gar nicht zu. Seine Blicke suchten einen Blick des Vaters aufzufangen. Dieser sah aber immer mit unbeweglichen, undurchdringlichen Augen an ihm vorbei.

»Es ist nur Verstellung, Dissimulation!« suchte sich der Zarewitsch zu trösten. »Jetzt kannst du mich schelten und schlagen so viel du willst: ich weiß, daß du mich liebst!«

»Und als wir seine Verstocktheit in allen seinen schlechten Handlungen sahen,« las Schafirow weiter, »erklärten wir ihm, daß wir ihn enterben werden, wenn er auch in Zukunft Unserem Willen nicht folgen würde. Und wir setzten ihm eine Frist zur Besserung aus. Er aber vergaß jede Furcht und die Gebote Gottes, welche befehlen, auch dem gewöhnlichen Vater, geschweige denn seinem Fürsten, Gehorsam zu erweisen, und lohnte Uns Unsere oben erwähnten väterlichen Mühen und Sorgen mit unerhörtem Undank. Denn als wir zu kriegerischen Handlungen nach dem dänischen Lande reisten und ihn in Sankt Petersburg zurückließen und ihm später schrieben, er solle zu Uns nach Kopenhagen kommen, um der Kampagne beizuwohnen und dabei etwas zu lernen, hat sich Unser Sohn, statt zu Uns zu reisen, unter Mitnahme einer Geldsumme und einer gewissen Dirne, mit der er ungesetzlich zusammenlebt, aus Unserem Reiche entfernt und sich unter die Protektion des Kaisers begeben. Indem er viele ungeheuerliche Verleumdungen gegen Uns, als seinen Vater und Souverain vorbrachte, bat er den Kaiser, ihn nicht nur zu verstecken, sondern ihm auch mit bewaffneter Hand gegen Uns als seinen Feind und Peiniger, von dem er den Tod zu befürchten hätte, Beistand zu leisten. Wie groß der Schimpf und die Schande sind, die er Uns und Unserm Staate vor der ganzen Welt damit angetan hat, kann jedermann beurteilen; denn ein ähnliches Beispiel ist selbst in der Geschichte schwerlich zu finden. Und obwohl er, Unser Sohn, für alle diese Verbrechen den Tod verdient, so erbarmen wir Uns seiner in Unserm väterlichen Herzen, verzeihen ihm und erlassen ihm jede Strafe. Aber . . .«

Da erklang, das Lesen unterbrechend, die dumpfe, etwas heisere, drohende Stimme Peters, dermaßen von Zorn und Gram erfüllt, daß alles Zeremonielle plötzlich verschwand, und alle Anwesenden das Grauen dessen empfanden, was hier geschah:

»Ich kann keinen Thronerben hinterlassen, der alles vergeudet, was sein Vater mit Gottes Hilfe gewonnen hat, und der den Ruhm, und die Ehre des russischen Volkes austilgt. Aus Furcht vor dem Gerichte Gottes kann ich ihm auch nicht diese Regierung übergeben, wenn ich seine Unfähigkeit kenne! Und du . . .«

Er blickte den Zarewitsch so an, daß ihm das Herz stille stand; nun schien es ihm, daß es keine Verstellung mehr war.

»Und du merke dir dieses: obwohl ich dir verzeihe, darfst du mich nicht anklagen, wenn du deine Schuld verheimlichst und das Verheimlichte später ans Licht kommt: denn dann gilt dieser Pardon nicht. Du wirst mit dem Tode bestraft werden!«

Alexej hatte schon die Hände erhoben und sie nach dem Vater ausgestreckt, in der Absicht, etwas zu sagen oder aufzuschreien, – dieser sah aber schon wieder mit seinem unbeweglichen, undurchdringlichen Blicke an ihm vorbei. Auf einen Wink des Zaren las Schafirow weiter:

»Da wir also um Unser Reich und Unsere Untertanen besorgt sind, entziehen Wir kraft Unserer väterlichen Gewalt und als Selbstherrscher ihm, Unserm Sohn Alexej für alle seine Vergehen und Verbrechen das Recht der Erbfolge auf dem russischen Throne, auch wenn nach Unserm Tode kein einziges Mitglied Unserer Familie außer ihm zurückbleiben sollte. Und wir bestimmen und erklären zum Erben des erwähnten Thrones Unseren andern Sohn Peter, obwohl er minderjährig ist. Wir haben aber keinen andern volljährigen Erben. Und wir beschwören Unsern Sohn unter Androhung Unseres väterlichen Fluches, nach diesem Erbe nicht zu streben, wir verlangen von allen Unseren treuen Untertanen und dem ganzen russischen Volke, daß sie kraft dieser Unserer Verfügung den von Uns zum Thronerben erklärten Sohn Peter als den rechtmäßigen Thronfolger anerkennen und verehren und dies durch einen Eid vor dem heiligen Altar, über dem heiligen Evangelium und durch das Küssen des Kreuzes bestätigen. Alle diejenigen aber, die jemals dieser Unserer Verfügung entgegen handeln, Unsern John Alexej auch weiterhin als den Thronerben ansehen und ihm darin beistehen werden, erklären wir für Verräter an Uns und an dem Vaterlande.

Der Zar erhob sich, stieg vom Podium herab und befahl den Anwesenden, ohne auf ihn zu warten, sich in die Mariä-Himmelfahrtskathedrale zu begeben, um den Eid durch das Küssen des Kreuzes zu bekräftigen.

Als alle, außer Tolstoi, Schafirow und einigen andern bevorzugten Würdenträgern sich aus dem Saale entfernt hatten, sagte Peter zu Alexej:

»Geh!«

Sie gingen zusammen durch den Vorraum des Thronsaales in die Geheimkammer des Gerichtssaales, in der vor alten Zeiten die Moskauer Zaren, hinter Taftvorhängen verborgen, den Beratungen der Gesandten zu lauschen pflegten. Es war ein kleines Zimmer, eine Art Klosterzelle mit nackten Wänden und einem Glimmerfensterchen, das nur ein bernsteingelbes Licht, so schwach wie der Schein der Abendsonne durchließ. In der Ecke vor dem Bilde des Heilands mit dunklem Antlitz, der Dornenkrone und dem sanften, traurigen Blick, brannte eine ewige Lampe. Peter schloß die Türe und ging auf seinen Sohn zu.

Wieder wie damals in Neapel, während des Deliriums, zitterte der Zarewitsch ununterbrochen am ganzen Körper, wie von einem Frostschauer durchschüttelt. Er hoffte aber noch immer: gleich wird ihn der Vater umarmen, liebkosen und ihm sagen, daß er ihn liebe, und die ganze Angst wird für immer weichen.

»Ich weiß, daß du mich liebst! Ich weiß, daß du mich liebst!« wiederholte der Zarewitsch wie eine Beschwörungsformel vor sich hin. Und doch bebte sein Herz vor Furcht.

Er schlug die Augen nieder und wagte nicht, sie zu heben, denn er fühlte auf sich den schweren, unverwandten Blick des Vaters ruhen. Beide schwiegen. Es war sehr still.

»Hast du gehört,« sagte endlich Peter, »was vorhin vor dem ganzen Volke verkündet worden ist: daß, wenn du etwas verheimlichst, dich der Tod erwartet?«

»Ich hab es gehört, Väterchen.«

»Und hast du dem nichts hinzuzufügen, was du mir vorgestern eröffnet hast?«

Der Zarewitsch gedachte seiner Mutter und fühlte wieder, daß er sie nicht verraten würde, selbst wenn ihm ein sofortiger Tod drohe.

»Nein, nichts,« sagte er leise mit fremder Stimme, als ob nicht er, sondern jemand anderer aus seinem Munde spräche.

»Also nichts?« wiederholte Peter.

Alexej schwieg.

»Sprich! . . .«

Dem Zarewitsch wurde es finster vor den Augen, seine Beine knickten ein. Und er antwortete wieder so, als ob jemand anderes für ihn spräche:

»Nichts.«

»Du lügst!« schrie Peter, packte ihn an einer Schulter und preßte sie so zusammen, daß es schien, er würde ihm alle Knochen zermalmen. »Du lügst! Du hast vor mir das von deiner Mutter verheimlicht, das von deiner Tante, vom Onkel, vom Dossifej von Rostow, von ihrem ganzen verfluchten Nest, darin die Wurzel der verbrecherischen Verschwörung steckt! . . .«

»Wer hat dir das gesagt, Väterchen?« stammelte der Zarewitsch und blickte dem Vater zum erstenmal ins Gesicht.

»Ist es vielleicht nicht wahr?« sagte der Vater, ihm gerade in die Augen blickend.

Seine Hand lastete immer schwerer auf Alexejs Schulter. Der Zarewitsch schwankte plötzlich wie ein Rohr unter dieser Last und fiel dem Vater vor die Füße.

»Verzeih! Verzeih! Sie ist ja meine Mutter! Meine einzige Mutter! . . .«

Peter beugte sich über ihn und erhob unter Mutterschimpfworten die Fäuste über seinem Kopf.

Alexej streckte die Hände vor sich aus, wie wenn er sich gegen einen tödlichen Schlag wehren wollte, hob die Augen und erblickte über sich in einer blitzschnellen doch umgekehrten Verwandlung des Werwolfs statt des lieben Gesichts, jenes andere fremde, wie eine Totenmaske schreckliche Gesicht, das Gesicht des Tieres.

Er stieß einen schwachen Schrei aus und bedeckte sich die Augen mit den Händen.

Peter wandte sich um, um das Zimmer zu verlassen. Als aber der Zarewitsch diese Bewegung des Vaters vernahm, stürzte er ihm auf den Knieen rutschend nach, wie ein Hund, den man schlägt und der trotzdem um Verzeihung bittet; er umarmte seine Füße und klammerte sich an sie fest an.

»Geh nicht fort! Geh nicht fort! Töte mich lieber! . . .«

Peter wollte ihn wegstoßen und sich von ihm befreien. Aber Alexej hielt ihn fest, ließ ihn nicht los und klammerte sich immer fester an ihn an.

Die Berührung der sich an ihn krampfhaft anklammernden Arme rief in Peters Körper dasselbe eiskalte Zittern eines Ekelgefühls hervor, das er immer vor Spinnen, Küchenschaben und anderen kriechenden Geschöpfen empfand.

»Fort, fort, fort! Ich töte dich!« schrie er voller Wut und Schrecken.

Endlich schüttelte er ihn mit verzweifelter Kraftanstrengung von sich ab, schleuderte ihn zur Seite und stieß ihn mit dem Fuß ins Gesicht.

Der Zarewitsch fiel mit dumpfem Stöhnen wie ein Toter mit dem Gesicht auf den Boden.

Peter lief aus dem Zimmer, als ob er sich vor etwas Fürchterlichem retten wollte.

Als er an den Würdenträgern, die ihn im Thronsaale erwarteten, vorüberging, lasen sie in seinem Gesicht, das etwas Schlimmes geschehen sei.

Er rief ihnen nur zu:

»In die Kathedrale!«

Und ging hinaus.

Die einen liefen ihm nach, die andern – darunter Tolstoi und Schafirow – eilten in die Geheimkammer zum Zarewitsch.

Er lag noch immer wie ein Toter, das Gesicht zu Boden gekehrt.

Sie hoben ihn auf und versuchten, ihn ins Bewußtsein zurückzurufen, seine Glieder wollten sich nicht biegen, sie waren wie erstarrt oder durch einen Krampf gelähmt. Er war aber nicht ohnmächtig. Er atmete hastig, und seine Augen waren offen.

Endlich richtete man ihn auf und stellte ihn auf die Füße. Man wollte ihn ins Nebenzimmer führen, um ihn da auf eine Bank zu legen.

Er blickte mit trüben Augen, die nichts zu sehen schienen, um sich und stammelte, als wollte er sich an etwas erinnern:

»Was war es? . . . Was war es? . . .«

»Fürchte dich nicht, mein Guter!« suchte ihn Tolstoi zu beruhigen. »Dir ist schlecht geworden, bist hingefallen, hast dich wohl am Boden angeschlagen. Bis zu deiner Hochzeit wirds schon vergehen. Trinke etwas Wasser. Gleich kommt der Doktor.«

»Was war es? . . . Was war es? . . .« wiederholte der Zarewitsch ganz sinnlos vor sich hin.

»Soll man es nicht dem Zaren melden?« flüsterte Tolstoi Schafirow zu.

Der Zarewitsch hörte es, wandte sich um, und sein blasses Gesicht wurde plötzlich rot. Er begann am ganzen Körper zu zittern und den Hemdkragen aufzureißen, als ob er erstickte.

»Welchem Zaren?« fragte er. Er lachte und weinte zugleich so wahnsinnig, daß es allen ganz unheimlich zumute wurde.

»Welchem Zaren? Ihr Dummköpfe! Seht ihr es denn nicht? Er ist es gar nicht! Er ist nicht der Zar und nicht mein Vater, sondern ein Trommler, ein verruchter Jude, Grischka Otrepjew, der falsche Demetrius, ein Werwolf! Man soll ihm einen Espenpfahl in die Gurgel jagen und fertig!«

Der Leibarzt Areskin kam herbeigelaufen.

Tolstoi zeigte hinter dem Rücken des Zarewitsch zuerst auf ihn und dann auf seine Stirne: der Zarewitsch sei wohl irrsinnig geworden.

Areskin setzte den Kranken in einen Sessel, fühlte den Puls, gab ihm Spiritus zu riechen, zwang ihn, beruhigende Tropfen einzunehmen und wollte ihn zur Ader lassen; in diesem Augenblick kam aber ein Bote und meldete, daß der Zar in der Kathedrale warte und den Zarewitsch sofort zu sehen verlange.

»Melde dem Zaren, daß Seiner Hoheit unwohl ist . . .« begann Tolstoi.

»Nein,« unterbrach ihn der Zarewitsch, wie aus einem tiefen Schlafe erwachend. »Nein. Ich gehe gleich hin. Ich will nur noch einen Augenblick ausruhen, wenn ich einen Schluck Wein haben könnte . . .«

Man brachte ihm Ungarwein. Er trank ihn mit Gier aus. Areskin legte ihm ein mit kaltem Wasser und Essig durchtränktes Handtuch auf den Kopf.

Man ließ ihn in Ruhe. Alle gingen beiseite und berieten sich, was nun zu tun sei.

Nach einigen Minuten sagte er:

»Jetzt geht es. Es ist vorüber, wir wollen gehen.«

Man half ihm aufstehen und führte ihn an den Armen hinaus.

In der frischen Luft auf dem Wege aus dem Palaste zur Kathedrale erholte er sich fast gänzlich.

Als er aber durch die Volksmenge ging, fiel allen seine Blässe auf.

Auf der Kanzel vor der offenen Zarenpforte erwartete ihn der neuernannte Bischof von Pskow, Feofan Prokopowitsch im vollen Ornat mit dem Kreuz und dem Evangelium. Neben ihm stand der Zar.

Alexej betrat die Kanzel, nahm aus den Händen Schafirows ein Schriftstück und begann mit schwacher, kaum hörbarer Stimme zu lesen; in der Menge herrschte aber eine solche Stille, daß man jedes Wort verstehen konnte.

»Dieweil ich Endesunterfertigter für das von mir an meinem Vater und meinem Vaterlande begangene Verbrechen der Thronfolge für verlustig erklärt worden bin, so schwöre ich beim heiligen Evangelium, daß ich solches als rechtmäßig anerkenne. Ich verspreche bei dem allmächtigen, in der Dreifaltigkeit gepriesenen Gotte, mich in den Willen meines Vaters zu fügen und unter keinem Vorwande die Thronfolge zu erstreben, zu wollen oder anzunehmen. Und ich erkenne meinen Bruder, den Zarewitsch Peter Petrowitsch als den rechtmäßigen Thronfolger an. Zur Bekräftigung dessen küsse ich nun das heilige Kreuz und unterschreibe Obiges mit eigener Hand.«

Er küßte das Kreuz und unterschrieb die Urkunde.

Zur selben Zeit wurde das Manifest dem Volke vorgelesen.


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