Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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III.

»Erinnerst du dich noch, Zarewitsch, wie ich dich im Dorfe Preobrashenskoje, in deiner Schlafkammer vor dem heiligen Evangelium fragte, ob du mich, deinen geistlichen Vater, als einen Engel Gottes und Apostel und den Richter über alle deine Handlungen anerkennen würdest, und ob du glaubtest, daß auch ich Sünder die gleiche Priestergewalt, zu lösen und zu binden habe, die Christus den Aposteln verliehen hat. Und du antwortetest mir: Ich glaube es.«

Dies sagte dem Zarewitsch sein Beichtvater, der Protopop der Oberen Heilandskathedrale im Kreml, P. Jakow Ignatjew, der drei Wochen nach der Zusammenkunft Alexejs mit Fedoß aus Moskau nach Petersburg gekommen war.

Vor zehn Jahren war P. Jakow für den Zarewitsch dasselbe, was der Patriarch Nikon für seinen Großvater, den Sanftesten Zaren Alexej Michailowitsch, gewesen war. Der Enkel befolgte das Vermächtnis des Großvaters: »Die Geistlichkeit sollt ihr stets in Ehren halten und sich vor ihr ohne Widerspruch demütigen; denn die Priesterwürde steht über der Zarenwürde.« Bei der allgemeinen Beschimpfung und Knechtung der Kirche war es für den Zarewitsch ein süßes Gefühl, sich vor dem bescheidenen Popen Jakow bis zur Erde zu verneigen. In der Person des Priesters sah er die Person des Herrn und glaubte, daß der Herr das Haupt über alle Häupter und der König über alle Könige sei. Je gebieterischer P. Jakow auftrat, um so demütiger war der Zarewitsch und um so süßer war ihm diese Demut. Er gab seinem geistlichen Vater die ganze Liebe, die er seinem Vater im Fleische nicht zu geben vermochte. Es war eine eifersüchtige, zärtliche, leidenschaftliche Freundschaft; er war in ihn beinahe verliebt. »Ich bezeuge vor dem wahrhaftigen Gotte, daß ich im ganzen russischen Staate keinen solchen Freund wie Eure Heiligkeit habe,« schrieb der Zarewitsch dem P. Jakow aus dem Auslande. »Ich wollte eigentlich davon nicht sprechen, aber nun spreche ich es doch aus: Gott gebe Euch langes Leben; wenn es aber doch bestimmt sein sollte, daß Ihr aus dieser Welt ins Jenseits übersiedelt, so würde ich gar nicht wünschen, aus dem Auslande ins russische Reich zurückzukehren.«

Plötzlich wurde es ganz anders.

P. Jakow hatte einen Schwiegersohn, den Schreiber Peter Anfimow. Auf Fürbitte seines Beichtvaters nahm der Zarewitsch den Anfimow in seine Dienste und betraute ihn mit der Verwaltung seines Poretzkijschen Erbgutes im Alatyrschen Kreise des Nishnij-Nowgoroder Gouvernements. Der Schreiber richtete durch seine Willkür die Bauern zugrunde und brachte sie beinahe zu einer Empörung. Sie beklagten sich mehrere Male beim Zarewitsch über Petjka, den Dieb. Dieser verstand es aber immer, mit heiler Haut davonzukommen, da P. Jakow seinem Schwiegersohn jedesmal aus der Klemme half. Endlich kamen die Bauern auf den Gedanken, einen Abgesandten an ihren Landsmann und alten Freund, den Kammerdiener des Zarewitsch, Iwan Afanaßjitsch, zu schicken. Iwan reiste selbst nach dem Poretzkijschen Erbgute, untersuchte die Sache und erstattete nach seiner Heimkehr dem Zarewitsch einen solchen Bericht, daß kein Zweifel mehr an den Schwindeleien und sogar Verbrechen Petjkas und, was die Hauptsache war, darüber, daß P. Jakow von allen diesen Dingen wußte, bestehen konnte. Das war ein harter Schlag für Alexej. Der Zarewitsch empörte sich nicht um seiner selbst und seiner Bauern willen, sondern um der Kirche willen, die, wie er glaubte, in der Person des unwürdigen Hirten entehrt war. Lange Zeit wollte er P. Jakow nicht sehen, verheimlichte seinen Groll und schwieg; plötzlich hielt er es doch nicht aus.

Der Protopop nahm unter dem Spitznamen »Pater Ad« zusammen mit Shibanda, Sassypka, Sachljustka und den andern Zechgenossen an der »Kumpanei«, »dem allertrunkensten Konzil« des Zarewitsch, das eine Nachbildung des Konzils des Vaters im kleinen war, teil. Bei einem der Zechgelage begann Alexej die russischen Geistlichen anzuklagen und sie »Judasse, die Verräter« und »Christusverkäufer« zu nennen.

»Wann wird sich endlich ein neuer Prophet Elias erheben, um euch Baalspriestern das Rückgrat zu zerschmettern?!« rief er aus, P. Jalow gerade in die Augen blickend.

»Zuchtlos ist deine Rede, Zarewitsch,« begann der Protopop mit strenger Miene. »Es geziemt dir nicht, uns Demütige, die wir für dich beten, so zu kränken und anzuklagen . . .«

»Wir kennen eure Gebete,« unterbrach ihn Alexej. »›Herr, erhöre meinen Jammer, laß mich in die Vorratskammer, laß mich viel zusammenraffen und es dann nach Hause schaffen!‹ – Mein Vater, Zar Peter Alexejewitsch – Gott gebe ihm Gesundheit – hat wohlgetan, als er euch den Flaum rupfte und die langen Bärte stutzte. Ich würde euch Pharisäer, Heuchler, Natterngezücht, ungetünchte Gräber noch ganz anders behandeln! . . .«

P. Jakow stand vom Tische auf, ging auf den Zarewitsch zu und fragte ihn feierlich:

»Wen meinst du, Zarewitsch? Etwa mich Demütigen?«

In diesem Augenblick glich der ehrwürdige Pater, Protopop der Oberen Heilandskathedrale, dem Patriarchen Nikon; aber der Sohn Peters glich nicht mehr dem sanftesten Zaren Alexej Michailowitsch.

»Auch dich meine ich,« erwiderte der Zarewitsch, sich gleichfalls erhebend und P. Jakow noch immer in die Augen blickend. »Auch dich, Vater, kann man nicht aus dem Dutzend streichen! Auch du hast deine Seele dem Teufel verschrieben, hast Christum nicht Christi wegen, sondern eines Stückes Brotes wegen gesucht, was tust du so stolz? Hast wohl Lust, Patriarch zu werden? Für dich ist die Zeit noch nicht gekommen. Die Schnepfe hat es noch weit zum Peter-Pauls-Tag! Warte nur, der Herr wird dich vom Goldenen Gitter der Oberen Heilandskathedrale mit den Fersen nach oben und der Fratze nach unten in den Schmutz, hinunterwerfen! Ja, in den Schmutz, in den Schmutz!«

Er fügte ein unflätiges Schimpfwort hinzu: Alle begannen zu lachen. Dem P. Jakow wurde es finster vor den Augen; auch er war berauscht, doch weniger vom Wein, als vor Wut.

»Schweig, Aljoschka!« rief er ihm zu. »Schweig, du junger Hund!«

»Wenn ich ein junger Hund bin, so bist du ein alter, heiliger Vater!«

P. Jakow wurde blaurot vor Zorn; er bebte am ganzen Körper, erhob seine beiden Hände über dem Kopfe des Zarewitsch und rief mit derselben Stimme, mit der er einst als Protodiakon in der Maria-Verkündigungs-Kathedrale zu Moskau von der Empore herab das Anathema über alle Ketzer und Abtrünnigen geschleudert hatte:

»Ich werde dich verfluchen! Ich werde dich verfluchen! Kraft der Gewalt, die mir der Herr selbst durch den Apostel Petrus verliehen hat . . .«

»Was schreist du so, Pope?« erwiderte der Zarewitsch mit bösem Lächeln. »Rede nicht vom Apostel Petrus, sondern von Peter Anfimow, dem Schreiber und Dieb, deinem herzlichsten Schwiegersohn! Er steckt in dir, er spricht aus dir, Petjka, der Schuft, Petjka, der Teufel!«

P. Jakow ließ seine Hand sinken und versetzte Alexej eine Ohrfeige: er »versperrte dem Gottlosen den Mund«.

Der Zarewitsch stürzte auf ihn zu, packte ihn mit der einen Hand am Bart und suchte mit der anderen nach einem Messer auf dem Tische. Das im Krampfe verzerrte bleiche Gesicht Alexejs mit den brennenden Augen bekam plötzlich eine furchtbare, gleichsam überirdische, gespenstische Ähnlichkeit mit dem Gesicht Peters. Es war einer jener Wutanfälle, die der Zarewitsch manchmal hatte und bei denen er imstande war, einen Mord zu begehen.

Die Zechgenossen sprangen auf, fielen über die Streitenden her, packten sie an Armen und Beinen und brachten sie nach langen Bemühungen auseinander.

Dieser Streit hatte wie alle ähnlichen keine weiteren Folgen: wer betrunken ist, zählt nicht mit; eine gewohnte Sache: gesoffen – gerauft, ausgeschlafen – sich wieder vertragen. Und sie vertrugen sich wieder. Doch die frühere Liebe kehrte nicht mehr zurück. Nikon war in der Achtung des Enkels ebenso gesunken wie in der des Großvaters.

P. Jakow war der Vermittler zwischen dem Zarewitsch und einem Geheimbunde der Gegner Peters und Petersburgs, die »die Einsiedlerin«, die geächtete, im Kloster von Susdal eingekerkerte Zarin Awdotja umgaben, Als die Kunde von der angeblich tödlichen Krankheit des Zaren sich verbreitet hatte, eilte P. Jakow gemäß einem aus Susdal, wo man von der Thronbesteigung Alexejs große Dinge erwartete, erhaltenen Auftrage nach Petersburg.

Doch bei der Ankunft des Protopopen stand die Sache schon ganz anders. Der Zar genas so schnell, daß man die Genesung für ein Wunder, oder die Krankheit für eine Verstellung halten mußte. Die Prophezeiung Kikins war in Erfüllung gegangen: der Kater Kotabrys sprang auf, und der Mäusetanz nahm ein Ende: alle flohen auseinander und verkrochen sich in ihre Löcher. Peter hatte sein Ziel erreicht: nun wußte er, welche Macht der Zarewitsch haben würde, wenn er wirklich sterben sollte.

Dem Zarewitsch wurde hinterbracht, daß der Zar einen heftigen Zorn gegen ihn hege. Einer der Spione – vielleicht war es Fedoß? – hatte dem Vater zugeflüstert, daß der Zarewitsch sich über den Tod des Vaters gefreut und daß sein Gesicht so gestrahlt habe, als ob er seinen Namenstag hätte.

Wieder sah er sich von allen verlassen; alle mieden ihn wie einen Pestkranken. Wieder war er vom Throne auf das Blutgerüst gekommen. Und er wußte, daß es für ihn diesmal keine Gnade geben würde. Von Tag zu Tag wartete er auf die für ihn so schreckliche Zusammenkunft mit dem Vater.

Doch Haß und Empörung betäubten die Angst. Ekelhaft erschien ihm dieser Betrug, die Dissimulation, diese Katzenschlauheit, dieses gotteslästerliche Spiel mit dem Tode. Und er mußte an eine andere Dissimulation seines Vaters denken: der Brief, in dem die Enterbung angedroht wurde, die »Mitteilung an meinen Sohn«, die der Zarewitsch am Todestage der Kronprinzessin Charlotte, am 22. Oktober 1715, erhalten hatte, war mit dem 11. Oktober, d. h. dem Tage vor dem Geburtstage seines Sohnes Peter Alexejewitsch datiert. Damals hatte er auf das Datum gar nicht geachtet. Jetzt begriff er aber die List: nachdem ihm ein Sohn geboren worden war, mußte sein Vater dieses Ereignis in seiner »Mitteilung« erwähnen und konnte ihm im Augenblick, wo es einen neuen Thronerben gab, nicht mehr mit bedingungsloser Enterbung drohen. Durch die Fälschung des Datums bekam die Gesetzwidrigkeit den Anschein des Gesetzlichen.

Der Zarewitsch mußte bitter lächeln, als er daran dachte, wie sein Vater sich stets bemühte, als gerechter Mann zu erscheinen.

Alles hätte er dem Vater verziehen, alle seine großen Lügen und Verbrechen, nur diese kleine List nicht.

P. Jakow traf den Zarewitsch in dieser Stimmung an. Alexej freute sich in seiner Einsamkeit über seinen Besuch, wie er sich über jede lebende Seele gefreut hätte. Doch im Protopopen lebte der trotzige Geist Nikons: als er merkte, daß der Zarewitsch mehr als je seines Beistandes bedurfte, entschloß er sich, ihn an die alte Kränkung zu erinnern.

»Zarewitsch,« sagte P. Jakow, »du hast dein Versprechen, das du uns einst in Preobrashenskoje vor dem heiligen Evangelium gegeben hast, mißachtet und in Scherz und Spott verwandelt. Du hältst uns nicht für einen Engel Gottes, nicht für einen Apostel Christi und nicht für den Richter über alle deine Taten; du richtest uns selbst und verletzest uns mit schimpflichen Reden. In der Sache unseres Schwiegersohnes Peter Anfimow mit den Poretzkijschen Bauern hast du viele Tränen in unser armes Haus gebracht; du hast mich, deinen geistlichen Vater, am Barte gezerrt, was deine Gnaden aus Furcht vor dem lebendigen Gott nicht hätte tun sollen. Obwohl ich ein unwürdiger Sünder bin, so bin ich doch Diener des allerreinsten Leibes und Blutes des Herrn. Unser Streit, mein Sohn, wird vor dem Richterstuhle des Königs aller Könige, wo es kein Ansehen der Person gibt, am Tage der Wiederkunft Christi entschieden werden, wenn die irdische Gewalt erloschen ist, so steht auch ein Zar wie einer der Ärmsten da . . .«

Der Zarewitsch blickte ihn schweigend mit einem Ausdrucke an, der nicht von Gram und Verzweiflung, sondern von gefühlloser, toter Leere zeugte, sodaß P. Jakow plötzlich verstummte. Er begriff, daß es nicht der Augenblick war, um alte Abrechnungen auszugraben. Er war ein guter Mensch und liebte Alexej wie ein eigen Kind.

»Nun, Gott wird es dir verzeihen,« schloß er seine Rede. »Auch du, Freund, verzeihe mir . . .«

Dann fügte er mit zärtlicher Sorge hinzu, dem Zarewitsch in die Augen blickend:

»Warum bist du so traurig, Aljoschenjka?«

Der Zarewitsch ließ den Kopf sinken und sagte nichts.

»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht,« sagte P. Jakow lächelnd mit lustiger und geheimnisvoller Miene. »Einen Brief von deinem Mütterchen. Ich war bei der ›Einsiedlerin‹. Große Freude herrscht dort: man hat wieder Gesichte gehabt und Stimmen gehört, daß es bald in Erfüllung gehen werde . . .«

Er steckte die Hand in die Tasche, um den Brief hervorzuholen.

»Ich will nicht,« sagte der Zarewitsch abweisend. »Ich will nicht, Ignatjitsch! Zeige ihn mir lieber nicht, was habe ich davon? Auch so ist es mir schwer genug. Man wird es noch dem Vater hinterbringen. Viele Spione passen auf uns auf. Reise nicht mehr zu der Einsiedlerin und bringe mir keine Briefe. Ich will nicht . . .«

P. Jakow blickte ihn wieder lange und unverwandt an. – So weit ist's mit ihm gekommen, – dachte er sich, – daß der Sohn sich von seiner Mutter, das Blut sich vom Blute lossagt!

»Hast du es denn schlecht beim Vater?« fragte er im Flüsterton.

Alexej winkte abwehrend mit der Hand und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

P. Jakow verstand nun alles. Tränen traten dem Alten in die Augen. Er beugte sich zum Zarewitsch, legte eine Hand auf seine Hand und begann, ihm mit der andern das Haar so zärtlich wie einem kranken Kinde zu streicheln. Er sprach:

»Was hast du, mein Lieber? Was fehlt dir, mein Kind? Der Herr sei mit dir! Wenn du etwas auf dem Herzen hast, so sag es mir, verheimliche es nicht, es wird dir leichter ums Herz werden, wenn wir es zusammen besprechen. Ich bin ja dein Beichtvater. Ich bin zwar ein großer Sünder, vielleicht wird mich aber der Herr doch mit seiner Weisheit erleuchten . . .«

Der Zarewitsch schwieg noch immer und wandte sich von ihm weg. Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht, und seine Lippen erbebten. Mit dumpfem, tränenlosem Schluchzen fiel er P. Jakow zu Füßen.

»Es ist mir so schwer, Vater, so schwer! . . . Ich weiß gar nicht, was ich tun soll . . . Ich habe keine Kräfte mehr . . . Ich habe ja meinem Vater . . .«

Er sprach nicht zu Ende, als ob er selbst über das, was er sagen wollte, erschrocken wäre.

»Komm, gehen wir in das Kreuzzimmer! Gehen wir schnell hin! Dort will ich dir alles sagen. Ich will beichten. Sei du der Richter vor Gott zwischen mir und meinem Vater! . . .«

Im kleinen Kreuzzimmer, das sich neben dem Schlafzimmer befand, waren die Wände von oben bis unten mit alten Ikonen in goldenen und silbernen edelsteinbesäten Fassungen – einem Erbe des Zaren Alexej Michailowitsch – bedeckt. Kein einziger Sonnenstrahl drang herein; im ewigen Dunkel brannten ewige Lampen.

Der Zarewitsch kniete vor dem Betpulte nieder, auf dem das Evangelium lag. P. Jakow stand vor ihm im Priesterornat feierlich und wie verändert da: sein Gesicht war, in der Nähe betrachtet, ein einfaches, etwas unbewegliches, vor Alter aufgedunsenes Bauerngesicht; doch in der Ferne erschien es noch immer wohlgestaltet und gemahnte an das Antlitz Christi auf den alten Ikonen. Er hielt das Kreuz in der Hand und sprach:

»Siehe, Kind, Christus steht unsichtbar da und hört deine Beichte an. Schäme dich nicht, fürchte nichts und verheimliche vor mir nichts. Sage mir alles ohne Scheu, was du getan hast, auf daß du Verzeihung findest bei unserm Herrn Jesus Christus.«

Und während der Beichtvater alle Sünden in der vorgeschriebenen Ordnung aufzählte und der Beichtende die Fragen beantwortete, wurde es ihm immer leichter und leichter ums Herz, als ob jemand Starker ihm eine Last nach der andern von der Seele nähme, als ob jemand Leichter mit leichten Fingern die Wunden seines Gewissens berühre und sie heile. Es war ihm so süß und zugleich so schrecklich zumute: sein Herz brannte, als ob vor ihm nicht P. Jakow, sondern Christus selbst stünde.

»Sage mir, mein Kind, ob du einen Menschen mit Absicht oder ohne Absicht getötet hast?«

Das war die Frage, die der Zarewitsch erwartete und fürchtete.

»Ich habe diese Sünde begangen, Vater,« flüsterte er kaum hörbar, »nicht mit der Tat und nicht mit dem Wort, sondern mit dem Gedanken. Ich habe meinem Vater . . .«

Und er stockte wie früher, als ob er selbst vor dem, was er sagen wollte, zurückschreckte. Doch der allsehende Blick drang in die heimlichsten Tiefen seiner Seele ein. Vor diesem Blick konnte er nichts verbergen.

Mit Anstrengung, zitternd und erblassend, in kalten Schweiß gebadet, sprach er weiter:

»Als Väterchen krank war, wünschte ich ihm den Tod.«

Er krümmte sich ganz zusammen, senkte den Kopf und schloß die Augen, um den nicht zu sehen, der vor ihm stand; er erstarrte vor Schreck, wie auf ein donnerndes Wort wartend – auf die letzte Verurteilung oder Freisprechung beim Jüngsten Gericht.

Plötzlich sprach aber die ihm vertraute, gewöhnliche, menschliche Stimme des P. Jakow:

»Gott wird dir vergeben, mein Kind, wir wünschen ihm alle den Tod.«

Der Zarewitsch hob den Kopf, schlug die Augen auf und erblickte vor sich das bekannte, gewöhnliche, menschliche, durchaus nicht schreckliche Gesicht – die feinen Runzeln um die gutmütigen, ein wenig listigen braunen Augen, die Warze mit den drei Härchen auf der runden vollen Wange, den rötlichen, mit grauen Haaren untermengten Bart, denselben Bart, an dem er einst im Rausche seinen Beichtvater gezerrt hatte. Er hatte einen ganz gewöhnlichen Popen vor sich, und niemand stand hinter ihm. Aber wenn über den Zarewitsch wirklich ein Donnerschlag erdröhnt wäre, wäre er wohl weniger bestürzt gewesen, als über diese einfachen Worte: »Gott wird dir vergeben, mein Kind. Wir wünschen ihm alle den Tod.«

Der Priester fuhr aber so ruhig, als ob nichts vorgefallen wäre, in der vorgeschriebenen Ordnung fort:

»Sage mir, mein Kind, ob du etwas vom Aas, oder von Blut, oder von Erwürgtem, oder von Wölfen Zerrissenem, oder von Raubvögeln Getötetem gegessen hast? Oder ob du dich mit irgend etwas anderm, was vom heiligen Gesetz verboten ist, verunreinigt hast? Oder ob du in den heiligen vierzigtägigen Fasten, oder am Mittwoch, oder am Freitag Butter oder Käse genossen hast?«

»Vater!« rief der Zarewitsch. »Groß ist meine Sünde. Gott sieht, wie groß sie ist . . .«

»Hast du die Fasten verletzt?« fragte P. Jakow beunruhigt.

»Nicht davon rede ich, Vater! Ich rede vom Zaren. Wie ist es nun? Ich bin ja sein leiblicher Sohn, ein Blut von seinem Blute. Der Sohn wünschte dem Vater den Tod. Und wer jemand den Tod wünscht, der ist sein Mörder. Ich bin in meinen Gedanken der Mörder meines Vaters. Es ist so schrecklich, Ignatjitsch, so schrecklich. Bei Gott, Vater, ich beichte dir wie Christo selbst. Richte mich, hilf mir, erbarme dich meiner, Herr! . . .«

P. Jakow sah ihn zuerst erstaunt, dann zornig an.

»Daß du dich gegen deinen Vater im Fleische erhoben hast, das beichtest du; und daß du dich gegen deinen Vater im Geiste empört hast, daran denkst du nicht mehr? Ebenso wie der Geist mehr ist als das Fleisch, so ist auch der geistliche Vater mehr als der leibliche . . .«

Und er hielt wieder eine lange, wie aus den Büchern geschöpfte, hohle Rede über ein und dasselbe Thema: »Ihr sollt die Geistlichkeit über alles ehren.«

»Du hast das Gebot verletzt, mein Kind, und eigenmächtig gehandelt, wie ein rasender oder toller Bock hast du mich angeschrien. Der Herr möge es dir nicht anrechnen, denn es kommt nicht von dir selbst: es ist der Satan, der mich durch deinen Mund beschimpft, – er hat dich wie eine Schindmähre aufgezäumt, er reitet auf dir so stolz wie auf einem Schweine – so sagen die heiligen Väter –, er lenkt dich wohin er will, bis er dich gänzlich ins Verderben stürzt . . .«

Er brachte die Rede allmählich auf die Poretzkijschen Bauern und seinen Schwiegersohn Peter Anfimow.

Etwas wie ein graues Spinngewebe, etwas Einschläferndes und Klebriges schwebte dem Zarewitsch vor den Augen, und das Gesicht dessen, der vor ihm stand, zerfloß und verdoppelte sich wie im Nebel, als ob aus diesem Gesicht ein anderes, ebenso bekanntes, mit roter, spitzer, immer schnüffelnder Nase und kurzsichtigen, tränenden, listigen, raubgierigen Augen – das Gesicht Petjkas, des Schreibers, hervorträte; als ob im Gesicht »seiner Exzellenz, des hochwürdigen Protopopen der Oberen Heilandskathedrale«, das so wohlgestaltet war und an das Antlitz Christi auf alten Ikonen erinnerte, sich auf eine schreckliche und blasphemische Weise die abscheuliche Fratze Petjkas des Diebs, Petjkas des Teufels mit dem Antlitze des Herrn vermengte.

»Unser Herr und Heiland Jesus Christus vergebe dir, mein Sohn Alexius, durch die Gnade und den Segen seiner Barmherzigkeit alle deine Sünden,« sagte P. Jakow, den Kopf des Zarewitsch mit dem Beichttuch verhüllend. »Und ich unwürdiger Priester vergebe dir durch seine mir verliehene Gewalt alle deine Vergehen und spreche dich von ihnen los, im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.«

Im Herzen Alexejs gähnte eine Leere, und die Worte des Priesters klangen für ihn hohl, ohne Kraft, ohne Geheimnis, ohne Schrecken. Er fühlte, daß ihm hier unten, aber nicht dort oben verziehen wurde; daß er auf Erden, doch nicht im Himmel freigesprochen worden war.

P. Jakow ging am Abend desselben Tages ins Dampfbad. Nach dem Bade setzte er sich dem Zarewitsch gegenüber vor den Kamin und trank einen heißen Aufguß aus Honig und Lorbeerblättern, der in einem glänzend roten Kupferkessel dampfte, in dem sich das kupferrote Gesicht des Protopopen spiegelte. Er trank ohne Übereilung eine Tasse nach der andern und wischte sich fortwährend mit einem großen karierten Tuche den Schweiß von der Stirn. Das Schwitzen im Dampfbade und das Trinken des heißen Aufgusses waren für ihn wie kirchliche Handlungen. Auch in der Art, wie er die heiße Flüssigkeit schlürfte und dazu eine knusprige Buttersemmel aß, zeigte er die gleiche schöne Würde und Wichtigkeit wie bei einem Gottesdienst; man sah ihm den Hüter der altväterlichen Gebräuche an, man hörte in seiner Stimme das Vermächtnis der alten rechtgläubigen Kirche: »Sei unbeweglich wie eine Marmorsäule und neige dich weder nach rechts noch nach links.«

Der Zarewitsch hörte seine Erörterungen, welche Badequasten die weichsten seien; welches Kraut, Minze oder Rainfarn, im Dampfbade angenehmer dufte; und die Geschichte, wie die Frau des Protopopen sich am Tage des heiligen Nikola, am 6. Dezember, im Dampfbade beinahe zu Tode verbrüht hatte. Nebenbei auch belehrende und erbauende Worte aus den heiligen Vätern: »Der Wurm ist demütig und bescheiden, du aber bist hochmütig und stolz; wenn du vernünftig bist, so vermindere deinen Stolz und denke daran, daß deine Stärke und Kraft dereinst den Würmern als Speise dienen wird, hüte dich vor Hochmut, nimm dich vor Zorn in acht . . .«

Und er brachte die Rede wieder auf die Poretzkijschen Bauern und auf den unvermeidlichen Schwiegersohn Peter Antimow.

Der Zarewitsch hatte Lust einzuschlafen, und zuweilen schien es ihm, als ob da kein Mensch vor ihm redete, sondern ein Ochse wiederkäue und aufstoße und immer von neuem wiederkäue.

Eine traurige Dämmerung füllte allmählich das Zimmer; draußen war Tauwetter mit einem trüben gelben Nebel. Die bleichen Eisblumen am Fenster schmolzen und flossen in Tränen herab. Zum Fenster blickte der Himmel herein, so trüb, blind und tränend wie die listigen, gemeinen Augen Petjkas, des Schreibers.

P. Jakow saß dem Zarewitsch gegenüber auf dem gleichen Platz, wo vor drei Wochen der Archimandrit Fedoß gesessen hatte. Und Alexej verglich unwillkürlich die beiden Hirten, den der alten und den der neuen Kirche, miteinander.

»Es sind keine Bischöfe, sondern ein Gesindel! Wir waren Adler und sind nächtliche Fledermäuse geworden,« hatte der Pope Fedoß gesagt, »wir waren Adler und sind Ochsen unter dem Joch geworden,« hätte der Pope Jakow sagen können.

Hinter Fedoßka stand der ewige Politiker, der alte Fürst dieser Welt; auch hinter P. Jakow stand derselbe Politiker, der neue Fürst dieser Welt, Petjka, der Dieb. Der eine war des andern wert; das Alte war des Neuen würdig, steckte denn wirklich zwischen diesen beiden Antlitzen, dem der Vergangenheit und dem der Zukunft, als einziges drittes Antlitz das Antlitz der ganzen Kirche?

Bald blickte er auf den trüben Himmel, bald auf das rote Gesicht des Protopopen. Hier wie dort war etwas ungemein Flaches Abgeschmacktes und in seiner Abgeschmacktheit Ewiges, etwas, was immer besteht und doch gespenstischer ist als der wildeste Fiebertraum. Eine Leere gähnte in seinem Herzen und eine Langeweile so schrecklich wie der Tod.

Und genau wie damals erklang wieder ein Schellengeläute, anfangs dumpf, in der Ferne, dann aber immer lauter und näher.

Der Zarewitsch horchte auf und wurde plötzlich unruhig.

»Da fährt jemand,« sagte P. Jakow. »Vielleicht zu dir?«

Schon hörte man das Aufschlagen der Pferdehufe im geschmolzenen Schnee, das Knirschen der Kufen auf den vom Schnee entblößten Steinen, dann Stimmen im Flur und Schritte im Gang. Die Türe ging auf, und ein Riese mit hübschem und dummem Gesicht, ein sonderbares Gemisch eines römischen Legionärs mit Iwanuschka, dem Narren aus dem russischen Märchen, trat ein. Es war der Kammerherr des Zaren, Hauptmann im Preobrashenskij-Garderegiment, Alexander Iwanowitsch Rumjanzew.

Er reichte dem Zarewitsch einen Brief. Dieser öffnete ihn und las:

»Sohn. Komme morgen zu uns ins Winterpalais. – Peter.«

Alexej erschrak nicht und wunderte sich nicht, wie wenn er diese Zusammenkunft schon früher vorausgewußt hätte. Es war ihm alles gleich.

* * *

In der folgenden Nacht hatte der Zarewitsch einen Traum, den er schon früher oft gehabt hatte.

Dieser Traum beruhte auf einer Erzählung, die er in seiner Kindheit gehört hatte.

Während des Strelitzen-Prozesses hatte Zar Peter befohlen, die in der Vorhalle der Kirche »Nikola-auf-den-Säulen« in Moskau beigesetzte Leiche seines Feindes, des Freundes Sofjas und Hauptaufrührers, des Bojaren Iwan Miloslawskijs, die siebzehn Jahre in der Erde gelegen hatte, auszugraben; den offenen Sarg auf einem mit Schweinen bespannten Fuhrwerk nach Preobrashenskoje zu bringen und dort in der Folterkammer unter das Gerüst, wo man die Verräter köpfte, zu stellen, so daß ihr Blut in den Sarg strömte; die Leiche nachher in Stücke zu hauen und in der gleichen Folterkammer unter den Galgen und Richtblöcken einzuscharren, »damit«, wie es im Ukas hieß, »die schändlichen Überreste des Spitzbuben Miloslawskij ewig mit dem beständig fließenden Blute der Verbrecher begossen werden nach dem Worte des Psalmisten: ›Der Herr hat Greuel an den Blutgierigen und Falschen.‹«

In diesem Traume sah Alexej anfangs nichts; er hörte nur das leise schreckliche Liedchen aus dem Märchen vom Schwesterlein Alenuschka und Brüderlein Iwanuschka, das er als Kind von seiner Großmutter, der alten Zarin Natalja Kirilowna Naryschkina, der Mutter Peters, oft gehört hatte; im Traume hörte er aber statt des Namens »Alenuschka« den Namen »Aljoschenjka«; schrecklich und unheildrohend erschien ihm der Gleichklang der Namen.

Aljoschenjka, Aljoschenjka,
Das Feuer brennt,
Das Wasser kocht,
Man schleift das Messer,
Um dich zu schlachten . . .

Dann sah er eine leere einsame Straße, weichen, schmelzenden Schnee, eine Reihe schwarzer Holzhütten und die bleiernen Kuppeln der alten Kirche »Nikola-auf-den-Säulen«. Es ist ein früher Morgen, so dunkel wie ein Abend. Am Rande des Himmels schwebt ein riesengroßer Schweifstern, ein blutroter Komet. Fette, nackte, schwarze Tschudowsche Schweine mit rosa Flecken schleppen einen Narrenschlitten. Auf dem Schlitten steht ein offener Sarg. Im Sarge liegt etwas Schwarzes und Schlüpfriges, das wie ein Haufen fauler Blätter in einer Baumhöhlung aussieht. Die blassen Kirchenkuppeln schimmern im Lichte des Kometen rötlich wie Blut. Die dünne Eisdecke der Frühlingspfützen kracht unter den Schlittenkufen, und der schwarze Schmutz spritzt wie Blut. Es ist so still wie vor dem Weltuntergang, wie vor der Posaune des Erzengels. Man hört nur das Grunzen der Schweine. Und eine Stimme, die an die Stimme des kleinen alten Männchens im grünen verblichenen Priestergewande, an die Stimme des heiligen Dmitrij von Rostow, den Aljoscha in seiner Kindheit gesehen hatte, erinnert, flüstert ihm ins Ohr: »Der Herr hat Greuel an den Blutgierigen und Falschen.« Und der Zarewitsch weiß, daß der Blutgierige – Peter selbst ist.

Er erwachte, wie jedesmal nach diesem Traum, außer sich vor Angst. Zum Fenster blickte ein früher, dunkler Morgen herein, der wie ein Abend war. Es war so still wie vor dem Weltuntergang.

Plötzlich hörte er ein Klopfen an der Türe und die verschlafene, mürrische Stimme des Afanaßjitsch:

»Steh auf, steh auf, Zarewitsch! Es ist Zeit, zum Vater zu gehen!«

Alexej wollte aufschreien und aufspringen, konnte es aber nicht. Alle seine Glieder waren wie gelähmt. sein ganzer Leib kam ihm wie der eines Fremden vor. Er lag wie tot da, und es schien ihm, daß er noch weiterschliefe, daß er nur im Traume erwacht sei. Zugleich hörte er aber das Klopfen und die Stimme des Afanaßjitsch:

»Es ist Zeit, es ist Zeit, zum Vater zu gehen!«

Und die gebrechliche, wie das Meckern eines Zickleins zitternde stimme der Großmutter sang über ihm leise das schreckliche Liedchen:

Aljoschenjka, Aljoschenjka,
Das Feuer brennt,
Das Wasser kocht,
Man schleift das Messer,
Um dich zu schlachten . . .


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