Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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VI.

Am gleichen Tag wurde er noch einmal gefoltert. Man gab ihm fünfzehn Knutenschläge, nahm ihn dann aber, ohne die Tortur zu beenden, von der Wippe herunter, weil Blumentrost erklärt hatte, der Zarewitsch sei zu schwach und könne unter der Knute sterben.

Nachts ging es ihm so schlecht, daß der wachthabende Offizier erschrak und dem Kommandanten der Festung meldete, der Zarewitsch liege im Sterben; er könne jeden Augenblick ohne Beichte den Geist aufgeben. Der Kommandant schickte zu ihm den Garnisonspopen P. Matfej. Dieser wollte anfangs nicht hingehen und flehte den Kommandanten an:

»Entbindet mich davon, Euer Wohlgeboren! Ich bin derartige Dinge nicht gewöhnt. Es ist eine schreckliche Sache, eine Staatssache. Wenn man hinterher zur Verantwortung gezogen wird, kann man sich nicht mehr herauswinden. Ich habe aber Weib und Kinder . . . Habt Erbarmen!«

Der Kommandant versprach, die ganze Verantwortung auf sich zu nehmen, und P. Matfej faßte sich ein Herz und ging hin.

Der Zarewitsch lag bewußtlos da, erkannte niemand und phantasierte.

Plötzlich schlug er die Augen auf und blickte P. Matfej an.

»Wer bist du?«

»Der Garnisonspriester P. Matfej. Man hat mich hergeschickt, dir die Beichte abzuhören.«

»Die Beichte abzuhören? Warum hast du, ehrwürdiger Vater, einen Kalbskopf? . . . Dein Gesicht ist ja mit Wolle bewachsen, und auf der Stirne hast du Hörner . . .«

P. Matfej schwieg und schlug die Augen nieder.

»Wie ist es nun, Herr Zarewitsch, wirst du beichten?« sagte er schließlich in der leisen Hoffnung, daß er sich weigern würde.

»Kennst du, Pope, den Ukas des Zaren, der euch geistlichen Vätern befiehlt, über jeden Verrat, von dem ihr in der Beichte erfahrt, an die Geheime Kanzlei Anzeige zu erstatten?«

»Ich kenne ihn, Eure Hoheit!«

»Und wenn ich dir in der Beichte etwas anvertraue, wirst du mich anzeigen?«

»Was soll ich tun, Zarewitsch? Wir sind unfreie Menschen . . . Ich habe ja Weib und Kinder . . .« stammelte P. Matfej und sagte sich: Jetzt fängt es an!

»Hinaus von hier, hinaus, du Kalbskopf!« schrie der Zarewitsch wütend. »Ein leibeigener Sklave des russischen Zaren! Ihr seid Sklavenseelen, alle ohne Ausnahme! Ihr seid Adler gewesen und seid jetzt Zugochsen geworden! Ihr habt die Kirche dem Antichrist verkauft! Ich will lieber ohne Beichte sterben, als aus deinen Händen das Abendmahl empfangen! . . . Es ist das Blut der Schlange und der Leib des Teufels . . .«

P. Matfej taumelte entsetzt zurück. Seine Hände zitterten so sehr, daß er beinahe den Kelch mit den Sakramenten zu Boden fallen ließ.

Der Zarewitsch blickte den Kelch an und wiederholte die Worte des alten Raskolnik:

»Weißt du, wem euer Lamm gleicht? Es gleicht einem Hundeaas, das auf den Gassen der Stadt herumliegt! Wenn einer von diesem Abendmahl empfangen hat, so ist es um diesen Menschen geschehen: denn euer Abendmahl ist wie Arsenik oder Sublimat; es verbreitet sich schnell durch Mark und Gehirn und dringt bis zur verderbten Seele; hinterher kann er sich in den Flammen der Hölle wie Kain, der unbußfertige Sünder, ausruhen . . . Ihr wollt mich vergiften, ich ergebe mich euch aber nicht!«

P. Matfej lief aus der Kasematte.

Der schwarze Kater sprang dem Zarewitsch an die Kehle, begann ihn zu würgen und ihm das Herz mit den Krallen zu zerfleischen.

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« stöhnte er und warf sich in Todesangst hin und her.

Plötzlich hatte er das Gefühl, als ob vor seinem Bett, auf derselben Stelle, wo eben P. Matfej gesessen hatte, jemand anderes säße. Er schlug die Augen auf und blickte hin.

Es war ein kleiner Greis mit schlohweißem Haar. Er hielt den Kopf gesenkt, so daß der Zarewitsch sein Gesicht nicht erkennen konnte. Der Greis glich P. Iwan, dem Bewahrer der Kirchengewänder an der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, und zugleich auch dem hundertjährigen Imker, den der Zarewitsch einst in der Tiefe des Nowgoroder Waldgebiets kennengelernt hatte und der immer in seinem Bienengarten zwischen den Bienenstöcken zu sitzen und sich in der Sonne zu wärmen pflegte; der Imker hatte schlohweiße Haare gehabt und nach Wachs und Honig geduftet; auch er hatte Iwan geheißen.

»P. Iwan? Oder bist du es, Großvater?« fragte der Zarewitsch.

»Ja, ich bin Iwan!« sagte der Alte freundlich mit leisem Lächeln, und seine Stimme klang so sanft wie das Summen von Bienen oder wie fernes Glockengeläute. Vor dieser Stimme wurde es dem Zarewitsch so unheimlich und zugleich so freudig zumute. Er bemühte sich immer, dem Alten ins Gesicht zu blicken, konnte es aber nicht.

»Fürchte dich nicht, fürchte dich nicht, mein Kind! Fürchte dich nicht, mein Teurer!« sagte der Greis noch leiser und noch freundlicher. »Der Herr hat mich zu dir gesandt und kommt bald auch selbst her.«

Der Alte hob den Kopf. Und der Zarewitsch erblickte ein ewig jugendliches Antlitz und erkannte den Evangelisten Johannes.

»Christ ist erstanden, Aljoschenjka!«

»Er ist in Wahrheit erstanden!« antwortete der Zarewitsch, und eine große Freude erfüllte sein Herz, wie damals bei der Ostermesse in der Dreifaltigkeitskathedrale.

Johannes hielt in den Händen etwas, das wie die Tonne war: es war der Kelch mit dem Leib und dem Blut.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Er reichte dem Zarewitsch das Abendmahl. Und die Sonne trat in seinen Leib, und es war ihm, als gäbe es keine Trauer und keine Angst mehr, keinen Schmerz und keinen Tod, nur ein ewiges Leben, die ewige Sonne, Christus.


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