Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Der Fürst Menschikow, die Fürsten Jakow und Wassilij Dolgorukij, Scheremetjew, Schafirow, Jagushinskij, Golowkin, Apraxin und die andern drängten sich in dem kleinen Audienzzimmer, das neben der Drechslerwerkstätte lag.

Alle waren erschrocken. Sie erinnerten sich noch, wie vor zwei Jahren zwei bestechliche Senatoren, der Fürst Wolkonskij und Opuchtin öffentlich mit der Knute bestraft wurden und wie man ihnen die Zungen mit glühenden Eisen brannte. Man raunte sich seltsame Gerüchte zu: Gardeoffiziere und andere Militärs würden über die Senatoren zu Gericht sitzen.

Doch unter ihrer Angst barg sich die Hoffnung, daß das Ungewitter sich verziehen und alles wieder den alten Gang gehen würde. Man beruhigte sich mit den Aussprüchen uralter Weisheit: »Wer ist kein Sünder vor Gott, wer kein Verbrecher vor dem Zaren? Kann man denn alle aufhängen? Jedermann hat doch seine Privatgeschäfte. Jede Seele schmachtet nach einer warmen Semmel. Der Ehrliche und der Schelm sind alle beide Sünder, denn sie leben alle von der Sünde.«

Peter trat ins Zimmer. Sein Gesicht war finster und unbeweglich. Seine Augen leuchteten aber, und sein linker Mundwinkel zitterte leise wie im Krampfe.

Ohne jemanden zu begrüßen oder zum Sitzen aufzufordern, wandte er sich an die Senatoren mit einer Rede, die er sich offenbar vorher zurechtgelegt hatte:

»Meine Herren Senatoren! Ich habe euch schon so oft mündlich und brieflich eure Nachlässigkeit, eure Habgier und Mißachtung der bürgerlichen Gesetze vorgehalten; aber alle meine Worte nützten nichts, und meine Ukase hatten keine Wirkung; daher erkläre ich euch zum allerletzten Mal: es hat gar keinen Zweck, Gesetze zu verfassen, wenn man sie nachher nicht beachtet oder wenn man mit ihnen wie mit Karten spielt, indem man zu jeder Farbe eine passende wählt, was nirgends in der Welt als bei uns vorkommt. Was folgt nun daraus? Angesichts der Straflosigkeit der Diebereien, wird sich wohl niemand finden, der nicht in Versuchung fällt; allmählich werden alle so frech werden, daß sie das Volk zugrunde richten und Gottes Zorn heraufbeschwören werden. Daraus kann aber für den ganzen Staat nicht nur größeres Unheil entstehen, als aus Verrat, sondern auch endgültiger Untergang. Aus diesem Grunde muß man die bestechlichen Beamten so bestrafen, wie die, die während der Schlacht ihre Pflicht vergessen haben, oder wie Hochverräter . . .«

Er sagte dies, ohne ihnen in die Augen zu blicken. Er fühlte wieder seine Ohnmacht. Alle seine Worte prallten von ihnen wie Erbsen von der Wand ab. In allen diesen demütigen, erschrockenen Gesichtern, in den bescheiden gesenkten Augen lag der gleiche Gedanke: »Der Ehrliche und der Schelm sind alle beide Sünder, denn alle leben von der Sünde.«

»Von nun an darf niemand seine Hoffnung auf seine Verdienste setzen!« schloß Peter, und seine Stimme bebte vor Zorn. »Hiermit erkläre ich euch: jeder Dieb, welchen Rang er auch bekleiden mag, und selbst wenn er Senator ist, kommt vor das Kriegsgericht . . .«

»Das darf nicht sein!« sagte Fürst Jakow Dolgorukij, ein wohlbeleibter Greis mit langem weißen Schnurbart auf dem aufgedunsenen blauroten Gesicht, mit kindlich heiteren Augen, die dem Zaren gerade in die seinen blickten. »Es darf nicht sein, Majestät, daß Soldaten über Senatoren zu Gericht sitzen. Dies würde nicht nur unsere Ehre, sondern den ganzen russischen Staat mit Schande beflecken!«

»Fürst Jakow hat recht!« bestätigte Boris Scheremetjew, Ritter des Malteserordens. »Heute zählt ganz Europa uns Russen zu den ehrenhaften Kavalieren, warum willst du uns beschimpfen, Zar, und uns unsere Ritterehre nehmen? Nicht alle sind doch Diebe . . .«

»Wer kein Dieb ist, der ist Verräter!« schrie Peter mit vor Wut verzerrtem Gesicht. »Glaubst du vielleicht, ich kenne euch nicht? Ich kenne euch, mein Lieber, ich durchschaue euch alle! Wenn ich heute sterbe, wirst du dich als erster auf die Seite meines Sohnes, des Bösewichts, stellen! Ihr alle steckt mit ihm unter einer Decke! . . .«

Und er beherrschte wieder mit ungeheurer Willensanstrengung seinen Zorn. Er suchte mit den Augen aus der Gruppe der Senatoren den Fürsten Menschikow heraus und sagte mit dumpfer, gepreßter, aber bereits ruhiger Stimme:

»Alexander, komm' mal mit!«

Sie gingen zusammen in die Drechslerwerkstätte. Der Fürst, ein kleines, dürres, anscheinend gebrechliches, in der Tat aber wie Eisen festes und wie Quecksilber bewegliches Männchen mit einem hageren, angenehmen Gesicht und ungewöhnlich lebhaften, schnellen und klugen Augen, die an den kleinen Bäckerjungen erinnerten, der einst auf den Straßen »warme Piroggen!« ausgerufen hatte, schlüpfte, zusammengekrümmt wie ein Hündchen, das Schläge erwartet, hinter dem Zaren durch die Türe.

Der kleine dicke Schafirow keuchte schwer und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Der wie eine Hopfenstange lange und hagere Golowkin zitterte am ganzen Leibe, bekreuzigte sich und flüsterte ein Gebet. Jagushinskij ließ sich in einen Sessel fallen und stöhnte; er hatte vor Schreck Leibschmerzen bekommen.

Als aber hinter der Türe die zornige Stimme des Zaren und die eintönig jammernde Stimme Menschikows – die Worte konnte man nicht verstehen – ertönten, beruhigten sich allmählich alle wieder. Manche spürten sogar Schadenfreude: »Der durchlauchtigste Fürst erlebt solches nicht zum erstenmal! Er hat ja feste Knochen und ist von Jugend auf an den Knüppel des Zaren gewöhnt. Das macht ihm nichts! Er wird sich schon irgendwie aus der Affaire ziehen!«

Plötzlich hörte man aber hinter der Türe einen Lärm, Geschrei und Stöhnen. Beide Türflügel öffneten sich, und Menschikow flog heraus. Sein goldgestickter Rock war zerrissen, das blaue Andreasband zerfetzt, die Orden und Sterne auf seiner Brust hingen, halb abgerissen, an einzelnen Fäden; die aus den Haaren des Zaren angefertigte Perücke – Peter pflegte ihm einst als Zeichen der Freundschaft seine Haare zu schenken, sooft er sie sich schneiden ließ – war auf die Seite gerutscht; sein Gesicht war blutig. Hinter ihm kam der Zar gelaufen mit gezogenem Hirschfänger und wildem Geschrei:

»Ich werde dich, du Hundesohn! . . .«

»Petinjka! Petinjka!« ertönte die Stimme der Zarin, die wie immer im entscheidenden Augenblick wie aus der Erde geschossen auf der Bildfläche erschien.

Sie hielt ihn an der Schwelle zurück, schloß die Türe der Drechslerwerkstätte und schmiegte sich, als sie mit ihm allein geblieben war, mit ihrem ganzen Körper an ihn und umschlang seinen Hals.

»Laß mich, laß! ich will ihn töten! . . .« schrie er in seiner rasenden Wut.

Sie umarmte ihn aber immer fester und fester und wiederholte:

»Petinjka! Petinjka! Gott sei mit dir, mein Herzensfreund! Leg das Messer weg, leg das Messer weg, sonst kann noch ein Unglück geschehen . . .«

Der Hirschfänger entfiel endlich seiner Hand. Er selbst ließ sich in einen Sessel fallen. Seine Glieder zuckten in einem schrecklichen Krampfe.

Genau wie damals nach der letzten Begegnung des Vaters mit dem Sohne setzte sich Katenjka auf die Armlehne des Sessels, umschlang seinen Kopf mit den Armen, drückte ihn an ihre Brust und begann ganz leise seine Haare zu streicheln, ihn zu liebkosen und einzulullen wie eine Mutter ihr krankes Kind. Unter dieser stillen Liebkosung wurde er allmählich ruhig. Die Krämpfe ließen nach. Ab und zu ging noch ein Zucken durch seinen ganzen Körper, aber immer seltener und seltener. Er schrie nicht mehr, sondern stöhnte nur und schluchzte ohne Tränen:

»Ach, so schwer hab ich es, Katenjka! Ich habe keine Kraft mehr . . . Mit niemand kann ich mich beraten. Habe keinen Gehilfen. Alles muß ich immer allein machen! . . . Kann denn ein Mensch mit allem fertig werden? Es geht nicht nur über die Kräfte eines Menschen, sondern auch über die eines Engels! . . . Eine unerträgliche Last . . .«

Sein Stöhnen wurde immer leiser und leiser und verstummte endlich ganz: er war eingeschlafen.

Sie lauschte eine Weile seinen Atemzügen, sein Atem ging gleichmäßig. Nach solchen Anfällen schlief er gewöhnlich sehr fest, so daß man ihn gar nicht wecken konnte; aber Katenjka durfte nicht von seiner Seite weichen.

Mit der einen Hand seinen Kopf umschlingend, betastete sie mit der andern, gleichsam liebkosend, seine Brust und suchte mit flinken Fingern so geschickt wie ein Dieb unter seinem Rocke herum. Sie fand in seiner Brusttasche einen Pack Briefe, zog sie heraus, sah sie durch und entdeckte darunter einen großen schmierigen, wahrscheinlich anonymen Brief in blauem Umschlag mit rotem Wachssiegel; er war noch nicht geöffnet; sie erriet, daß es jener Brief war, den sie suchte: die zweite Denunziation über sie und Mons, noch gefährlicher als die erste. Mons hatte sie von diesem blauen Brief in Kenntnis gesetzt; er selbst hatte davon aus den Gesprächen der betrunkenen Kammerlakaien erfahren.

Katenjka wunderte sich, daß ihr Mann den Brief noch nicht erbrochen hatte. Fürchtete er vielleicht, die Wahrheit zu erfahren?

Sie erblaßte ein wenig, biß die Zähne fest zusammen, verlor aber die Geistesgegenwart nicht und blickte ihm ins Gesicht. Er schlief süß und ruhig wie ein kleines Kind, das lange geweint hat. Sie legte seinen Kopf vorsichtig auf die Sessellehne, knöpfte sich an der Brust einige Knöpfe auf, ballte den Brief zusammen, steckte ihn in die Vertiefung ihres Busens, beugte sich noch einmal, hob den Hirschfänger vom Boden auf und schlitzte die Tasche, in der die Briefe gelegen hatten, ebenso wie die Naht am Rocksaume auf, so daß man diese Einschnitte auch für zufällige Löcher halten konnte; schließlich legte sie die übrigen Briefe an die frühere Stelle in die Tasche zurück. »Wenn er den Verlust des blauen Briefes bemerken sollte, würde er wohl glauben, daß er unter das Unterfutter gerutscht und aus dem Schlitz im Saume des Rockes herausgefallen und verloren gegangen sei.« In den abgetragenen Kleidern des Zaren kamen Löcher nicht selten vor.

Katenjka hatte das alles in einem Nu gemacht. Dann nahm sie wieder Petenjkas Kopf in die Arme, legte ihn sich an die Brust und begann ihn leise zu streicheln, zu liebkosen und einzulullen, indem sie den schlafenden Riesen so ansah, wie eine Mutter ihr krankes Kind oder wie eine Löwenbändigerin das schreckliche Raubtier ansieht.

Nach einer Stunde erwachte der Zar munter und frisch, als ob nichts gewesen wäre.

Vor kurzem war der Lieblingszwerg des Zaren gestorben. An diesem Tage sollte seine Beerdigung stattfinden, eine jener närrischen Maskeraden, die Peter so sehr liebte. Katenjka versuchte ihn zu überreden, die Leichenfeier auf den nächsten Tag zu verschieben und heute nicht mehr auszugehen, sondern ordentlich auszuruhen. Peter hörte aber nicht auf sie. Er ließ die Trommel schlagen, die Flagge als Signal zum Sammeln hissen, machte sich mit solcher Hast, als ob es sich um eine wichtige Sache handelte, fertig, legte eine Kleidung, die halb Trauerkleidung und halb Maskierung war, an und fuhr hin.


 << zurück weiter >>