Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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IV.

Peter sprach zu Alexej:

»Als der Krieg mit den Schweden ausbrach, wie groß war da die Niederlage, die wir wegen unserer Unwissenheit erlitten; mit wieviel Geduld und Leid sind wir in diese Schule gegangen, bis uns die Gnade zuteil wurde, zu sehen, daß dieser Feind, vor dem wir so zitterten, vor uns womöglich noch mehr zittert! Und alles das wurde durch meine Mühe und die Mühe der übrigen wahren Söhne Rußlands erreicht. Auch heute noch essen wir nach dem Worte des Herrn an unsern Urahnen Adam unser Brot im Schweiße unseres Angesichts. Wir mühten uns, soweit es in unsern Kräften lag, wie Noah mit der Arche Rußlands ab und hatten nur den einen Gedanken, daß der Ruhm Rußlands über die ganze Welt strahle. Und wenn ich dieses Glück, das der Herr auf unser Vaterland herabgesandt hat, überblicke und die Linie der Erbfolge betrachte, so verzehrt mich ein Kummer, der beinahe ebenso groß ist wie jenes Glück; denn ich sehe deine Unfähigkeit, die Staatsgeschäfte zu leiten . . .«

Während Alexej die Treppe im Winterpalais emporstieg und am Grenadier, der vor der Tür des »Kontors« – des Arbeitszimmers des Zaren Posten stand, vorbeiging, empfand er, wie vor jeder Zusammenkunft mit seinem Vater, eine sinnlose, tierische Angst. Es war ihm schwarz vor den Augen, seine Zähne klapperten, er hielt sich kaum auf den Beinen und fürchtete umzufallen.

Während aber der Vater mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme die lange, offenbar vorher zurechtgelegte und vielleicht auswendig gelernte Rede hielt, wurde Alexej allmählich ruhig. Alles war in ihm zu Stein erstarrt, und es war ihm wieder alles gleich, als ob der Vater gar nicht zu ihm und über ihn spräche.

Der Zarewitsch stand in strammer Haltung, wie ein Soldat, die Hand an der Hosennaht. Er hörte nur halb zu und ließ seine Blicke verstohlen mit zerstreuter und gleichgültiger Neugier über das Zimmer schweifen.

Drehbänke, Zimmermannswerkzeuge, Astrolabien, Wasserwagen, Kompasse, Globen und andere mathematische, artilleristische und fortifikatorische Instrumente füllten das enge Kontor und verliehen ihm eine Ähnlichkeit mit einer Kajüte. An den mit dunklem Eichenholz verkleideten Wänden hingen Marinebilder des von Peter bevorzugten holländischen Meisters Adam Silo, »nützlich zur Erfassung der Schiffsbaukunst. Der Zarewitsch sah lauter Gegenstände, die er von Kind auf kannte und die in ihm eine Reihe von Erinnerungen weckten: auf einem holländischen Zeitungsblatt lag die große eiserne Brille, deren Steg mit blauer Seide umwickelt war, damit er den Nasenrücken nicht wundreibe; daneben eine Nachtmütze aus gestreiftem weißem Baumwollzeug mit grüner Quaste, die Aljoscha einst im Spiele abgerissen und die der Vater, darüber gar nicht in Zorn geraten, eigenhändig wieder angenäht hatte, das Schreiben eines Ukases, mit dem er gerade beschäftigt war, unterbrechend.

Peter saß in einem alten, mit Leder überzogenen Sessel mit hoher Rücklehne, an einem mit Papieren überhäuften Tisch, den Rücken dem glühend heißen Ofen zugekehrt. Er trug einen verblichenen und abgetragenen blauen Schlafrock, den der Zarewitsch noch aus der Zeit vor der Schlacht bei Poltawa kannte, mit dem Flicken von grellerem Blau an der Stelle, wo er sich einmal mit der Pfeife ein Loch hineingebrannt hatte; eine rote wollene Jacke mit weißen Beinknöpfen, von denen der eine zur Hälfte abgebrochen war. Der Zarewitsch erkannte diesen Knopf wieder und zählte ihn, wie er es immer während der langen Predigten seines Vaters, er wußte selbst nicht warum, tat, – es war der sechste von unten; ein Unterkleid aus grobem blauen Wollstoff; graue, oft gestopfte Strümpfe aus Kamelgarn und alte, schiefgetretene Pantoffel. Der Zarewitsch betrachtete alle diese Einzelheiten, die ihm zugleich vertraut und fremd vorkamen. Aber das Gesicht des Vaters konnte er kaum sehen. Durchs Fenster, hinter dem die weiße Schneedecke der Newa schimmerte, fiel zwischen sie beide ein schräger Strahl der gelben Wintersonne, lang, spitz und scharf wie ein Schwert. Der Strahl trennte sie und verdeckte sie voreinander. Im viereckigen Sonnenfleck, den der Fensterrahmen am Fußboden zeichnete, schlief zusammengekauert Peters Liebling, die rothaarige Hündin Lisette.

Und der Zar sprach mit gleichmäßiger, von Husten etwas heiserer Stimme, so eintönig, als ob er einen geschriebenen Ukas ablese:

»Gott ist an deiner Unfähigkeit nicht schuld, denn er hat dir weder den Verstand genommen noch Körperkraft versagt; du bist zwar nicht von besonders kräftiger, aber auch nicht von schwacher Konstitution; vor allen Dingen willst du aber von den militärischen Angelegenheiten nichts wissen, dank denen wir aus der Finsternis ins Licht getreten sind und für die man uns, die man in der Welt bisher gar nicht kannte, jetzt überall ehrt. Ich verlange von dir nicht, daß du ohne jeden rechtlichen Grund Kriege führst; ich verlange nur, daß du die Kriegswissenschaft liebst, dich um sie kümmerst und sie studierst: denn sie ist die eine der beiden Grundlagen, die für die Regierung notwendig sind und die Ordnung und Landesverteidigung heißen. Die Verachtung des Krieges muß einen allgemeinen Verfall des Staates nach sich ziehen, wie es uns der Niedergang der griechischen Monarchie beweist: sind die Griechen nicht darum zugrunde gegangen, weil sie ihre Waffen niedergelegt haben und, vom Wunsche, in Frieden zu leben, beseelt, in allen Dingen den Feinden nachgaben, bis die letzteren den friedlichen griechischen Staat den Tyrannen zur ewigen Sklaverei überlieferten? Wenn du aber meinst, daß diese Angelegenheiten von Generälen auf Befehl erledigt werden können, so ist diese Ansicht falsch. Ein jeder blickt zum Oberbefehlshaber empor, um nach seinen Wünschen zu handeln: was der Oberbefehlshaber wünscht, das wünschen alle, und wovon er sich abkehrt, darum kümmern sich auch die andern nicht. Du hast aber kein Interesse, lernst nichts und weißt daher nichts von militärischen Dingen. Und wenn du selbst nichts von ihnen verstehst, wie kannst du dann die andern befehligen? Wenn du keine Ahnung von den Handlungen und Fähigkeiten deiner Untergebenen hast, wie kannst du den Guten mit Gutem belohnen und den Nachlässigen bestrafen? Wie ein junger Vogel wirst du ihnen ins Maul schauen müssen. Oder willst du dich mit deiner schwachen Gesundheit entschuldigen, daß du kriegerische Strapazen nicht ertragen kannst? Auch diese Ausrede ist nicht stichhaltig. Denn ich verlange von dir keine Strapazen, sondern ein Interesse, welches von keiner Krankheit geschwächt werden kann. Wirst du vielleicht darauf einwenden, daß viele Herrscher niemals in eigener Person in den Krieg ziehen und dennoch die Staatsgeschäfte besorgen? Manche gehen allerdings nicht in den Krieg, haben aber das nötige Interesse; der verstorbene König Ludwig von Frankreich war nur wenig im Felde, hat aber ein solches Interesse für kriegerische Handlungen gehabt und so wunderbare Taten vollführt, daß man seine Kriegführung ein Theater und eine Schule für die ganze Welt zu nennen pflegte; und nicht allein durch Kriegführung, sondern auch durch Staatskunst und Industrie verschaffte er seinem Lande den größten Ruhm. Nachdem ich dir dies alles dargelegt habe, komme ich wieder darauf zurück, womit ich begonnen habe. Denn ich bin nur ein Mensch und dem Tode untertan . . .«

Der Sonnenstrahl, der sie trennte, war etwas weggerückt, und Alexej blickte Peter ins Gesicht. Das Gesicht war so verändert, als ob nicht ein Monat, sondern Jahre vergangen wären, seit er den Vater zum letztenmal gesehen hatte. Damals war Peter ein Mann in der Blüte seiner Kraft und Männlichkeit gewesen, und jetzt sah er beinahe wie ein Greis aus. Und der Zarewitsch begriff, daß die Krankheit des Vaters keine Verstellung gewesen war und daß er dem Tode vielleicht näher gewesen war, als alle glaubten. Im kahlen Schädel – die Haare waren vorne ausgefallen –, in den Backen unter den Augen, im hervortretenden Unterkiefer, im ganzen gelblich-blassen, aufgedunsenen, geschwollenen Gesicht lag etwas schweres, Unbewegliches, starres wie auf einer Totenmaske. Nur in den unnatürlich glänzenden, gleichsam entzündeten großen, weitgeöffneten und wie bei einem gefangenen Raubvogel hervorstehenden Augen lag noch der frühere jugendliche, jetzt aber unendlich müde, schwache, fast elende Ausdruck.

Alexej begriff auch, daß er, obwohl er viel an den Tod des Vaters gedacht und ihn herbeigewünscht hatte, ihn eigentlich niemals vollkommen erfaßt habe, als ob er niemals ernsthaft geglaubt hätte, daß der Vater wirklich sterben könne. Erst jetzt glaubte er zum erstenmal an diese Möglichkeit. In diesem Gefühl lag ein tiefes Erstaunen und eine neue, von ihm niemals empfundene Angst; er war nicht mehr um sich selbst, sondern um ihn besorgt; was würde der Tod für einen solchen Menschen sein? Wie würde er sterben?

»Denn ich bin nur ein Mensch und dem Tode untertan,« fuhr Peter fort. »Wem soll ich diese mit Hilfe des Höchsten begonnene, zu einiger Blüte großgezogene Pflanzung hinterlassen? Etwa dem, der wie der faule Knecht im Evangelium sein Talent in die Erde vergraben und das, was Gott ihm gegeben, verworfen hat? Ich will noch erwähnen, von welch böser und trotziger Gemütsart du bist. Wie oft habe ich dich dafür gescholten, und nicht nur gescholten, sondern auch geschlagen; außerdem habe ich mit dir viele Jahre fast gar nichts gesprochen. Doch es half und nutzte nichts; alles war vergebens. Du willst nichts tun, willst nur ruhig zu Hause leben und deinen Vergnügungen nachgehen, ganz gleich, was draußen geschieht. Einerseits fließt Zarenblut edler Abstammung in deinen Adern, andererseits hast du eine gemeine Gesinnung wie der niedrigste unter den niederen Sklaven, denn du pflegst Umgang mit verwerflichen Leuten, von denen du nichts als Böses und Gemeines lernen kannst. Womit willst du deinen Vater für deine Geburt lohnen? Hilfst du denn mir, nachdem du ein so reifes Alter erreicht hast, in meinen vielen schier unerträglichen Sorgen und Mühen? Nein, daran denkst du gar nicht. Noch mehr, du hassest meine Taten, die ich zum Nutzen meines Volkes, ohne meine Gesundheit zu schonen, vollbringe und die du nach meinem Tode sicherlich zerstören wirst! Nachdem ich dies alles mit Schmerz erwogen habe und zur Überzeugung gelangt bin, daß ich dich durch nichts zum Guten bekehren kann, habe ich es für gut befunden, dir mein Testament mitzuteilen und noch ein wenig zu warten, ob du dich nicht aufrichtig besserst. Geschieht das nicht, so tue ich dir kund . . .«

Bei diesem Worte wurde er von einem langen quälenden Hustenanfall, der von seiner Krankheit zurückgeblieben war, unterbrochen. Sein Gesicht lief blaurot an, seine Augen quollen hervor. Schweiß trat ihm auf die Stirn, und die Adern schwollen an. Er rang nach Atem und würgte bei den vergeblichen Versuchen, den Schleim auszuhusten, wie ein kleines Kind, das mit einem Hustenanfall nicht fertig zu werden versteht. In diesem kindlich-greisenhaften Gebaren lag etwas Komisches und zugleich Grauenhaftes.

Lisette erwachte, hob die Schnauze und richtete ihren klugen, gleichsam mitleidsvollen Blick auf ihren Herrn. Auch der Zarewitsch sah den Vater an, – und plötzlich durchbohrte etwas unerträglich scharfes sein Herz: »Der Hund hat mit ihm Mitleid, und ich . . .«

Peter gelang es schließlich, den Schleim auszuspucken; er ließ sein gewohntes unflätiges Schimpfwort fallen, wischte sich mit dem Tuche Schweiß und Tränen aus dem Gesicht und fuhr an derselben Stelle fort, wo er stehengeblieben war; seine Stimme klang zwar heiserer, aber noch immer ebenso leidenschaftslos und eintönig, wie früher, als ob er einen geschriebenen Ukas ablese:

»Ich tue dir also dieses kund . . .«

Er ließ das Tuch versehentlich fallen und wollte sich beugen, um es aufzuheben. Alexej aber kam ihm zuvor, hob das Tuch auf und reichte es dem Vater. Diese kleine Dienstleistung rief in ihm plötzlich jenes scheue, zärtliche, beinahe verliebte Gefühl wach, das er einst gegen den Vater empfunden hatte.

»Väterchen!« rief er mit einem solchen Ausdruck in Gesicht und Stimme, daß Peter ihn aufmerksam musterte und dann sofort die Augen senkte. »Gott sei mein Zeuge, daß ich nichts Arglistiges gegen dich verbrochen habe. Und was die Enterbung betrifft, so wünsche ich sie wegen meiner Schwäche selbst; warum soll man etwas auf sich nehmen, was man gar nicht tragen kann? wie komme ich dazu! Bin ich denn, Väterchen . . . für dich, für dich . . . oh mein Gott! . . .«

Seine Stimme versagte. Er hob in seiner Verzweiflung beide Hände krampfartig in die Höhe, als ob er sich an den Kopf fassen wollte, und erstarrte in dieser Stellung mit einem seltsamen zerstreuten Lächeln auf den Lippen, blaß und am ganzen Leibe bebend. Er wußte selbst nicht, was er hatte, – er fühlte nur, wie in seiner Brust etwas anschwoll und sich mit erschütternder Kraft hinausdrängte. Nur ein einziges Wort, ein Blick, ein Zeichen des Vaters hätte genügt, und der Sohn wäre ihm zu Füßen gefallen, hätte sie umklammert und hätte solche Tränen geweint, daß die schreckliche trennende Mauer zwischen ihnen eingestürzt und wie Eis in der Sonne geschmolzen wäre. Er hätte ihm alles erklärt, er hätte solche Worte gefunden, daß der Vater ihm verziehen und begriffen hätte, wie sehr er ihn sein Leben lang geliebt habe, nur ihn allein, und ihn auch jetzt noch liebte, sogar noch mehr als je; daß er gar nichts wolle, als ihn allein lieben und für ihn sterben zu dürfen; er sollte nur ein einzigesmal mit ihm Mitleid haben, ihn wie so oft in der Kindheit an sein Herz drücken und sagen: »Aljoscha, mein liebes Kind!«

»Laß, bitte, diese Kindereien!« sprach die rauhe, anscheinend mit Absicht rauhe, in der Tat aber verlegene und diese Verlegenheit zu bemeistern suchende Stimme Peters. »Laß alle Ausflüchte. Nur durch Taten kannst du in uns den Glauben an dich wecken; deinen Worten traue ich nicht. Auch in der Schrift heißt es: Ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen . . .«

Peter sah zur Seite, um dem Blick Alexejs auszuweichen; in seinen Zügen flimmerte und zitterte es, als ob durch die Totenmaske das lebendige Gesicht, das dem Zarewitsch allzu vertraut und lieb war, hervorschaute. Aber Peter hatte seine Verwirrung bald bemeistert. Je länger er sprach, um so starrer wurde sein Gesicht, um so härter und erbarmungsloser klang seine Stimme.

»Heutzutage werden die Nichtstuer nicht geschätzt, wer sein Brot ißt und seinem Gott, dem Zaren und dem Vaterlande keinen Vorteil bringt, gleicht dem Wurme, der alles in Moder verwandelt und von dem die Menschen keinerlei Nutzen, sondern nur Schaden sehen. Auch der Apostel sagt: ›So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen . . .‹ Du bist aber einer von denen, die ihr Brot ohne zu arbeiten essen wollen . . .«

Alexej hörte kaum seine Worte. Aber jeder Ton verwundete seine Seele und bohrte sich in sie mit unerträglichem Schmerz wie ein Messer, das in lebendiges Fleisch dringt. Es war wie ein Mord. Er wollte aufschreien, den Vater unterbrechen, er fühlte aber, daß der Vater nichts verstehen und ihn gar nicht hören würde, wieder stand die Mauer, wieder gähnte der Abgrund zwischen ihnen. Und der Vater rückte mit jedem Worte immer weiter von ihm weg, immer unwiederbringlicher, so wie ein Toter von den Lebenden wegrückt.

Endlich ließ auch der Schmerz nach. Alles war in ihm wieder zu Stein erstarrt. Es war ihm wieder alles gleich. Ihn quälte nur noch die einschläfernde Langeweile der leblosen Stimme, die ihn nicht mehr verwundete, sondern nur wie eine stumpfe Säge kratzte.

Um dem Gespräch ein Ende zu machen und schneller fortgehen zu können, wählte er einen Augenblick, wo Peter innehielt, und brachte die lange vorher zurechtgelegte Antwort vor. Sein Gesicht und seine Stimme waren dabei ebenso leblos wie die des Vaters.

»Gnädigster Herr Vater! Ich habe dir nichts anderes zu sagen, als daß dein Wille geschehen möge, wenn du mir wegen meiner Unfähigkeit das Erbe der russischen Krone nehmen willst. Ich bitte dich sogar, Herr, ergebenst darum, denn ich sehe selbst meine Unbrauchbarkeit und Unfähigkeit ein. Ich habe ein schwaches Gedächtnis, das mich zu jedem Werk untauglich macht, und bin auch sonst infolge verschiedener Krankheiten an Körper und Geist geschwächt und unfähig, ein so großes Volk zu regieren, welches Amt einen Menschen erfordert, der nicht so durchfault ist, wie ich es bin. Aus diesem Grunde erhebe ich, wenn ich auch keinen Bruder hätte – aber ich habe jetzt Gott sei Dank einen Bruder, dem Gott ein langes Leben schenken möge! –, keinerlei Ansprüche auf den russischen Thron und werde auch in Zukunft keine erheben, wofür ich Gott zum Zeugen anrufe und was ich zur wahren Bestätigung mit eigener Hand schriftlich zu geben bereit bin. Meine Kinder überlasse ich Eurem Willen, und für mich selbst bitte ich um lebenslänglichen Unterhalt.«

Beide schwiegen. In der Stille des winterlichen Mittags hörte man das gleichmäßige Ticken des Messingpendels der Wanduhr.

»Deine Entsagung ist nur ein Versuch, die Sache zu verschleppen, aber nicht die Wahrheit!« sagte schließlich Peter. »Denn wenn du schon jetzt keine Scheu hast und dich um den Willen des Vaters wenig bekümmerst, wie wirst du mein Vermächtnis nach meinem Tode befolgen? Auch auf deinen Eid kann ich wegen deiner Hartherzigkeit nicht viel geben. Ich denke auch an den Ausspruch Davids: ›Alle Menschen sind Lügner.‹ Und selbst wenn du das Versprechen halten wolltest, so können dich die langen Bärte, die Popen und heiligen Greise, die heutzutage wegen ihres Nichtstuns wenig beliebt sind und zu denen du stark hinneigst, noch immer umstimmen. Es ist daher unmöglich, daß du, wie du es willst, weder Fisch noch Fleisch bleibst. Du mußt daher entweder deine Sitten ändern und dich ohne Heuchelei als ein würdiger Thronerbe zeigen – anders kann meine Seele keine Ruhe finden, besonders jetzt, wo meine Gesundheit erschüttert ist –, oder Mönch werden . . .«

Alexej hielt die Augen gesenkt und schwieg. Sein Gesicht glich jetzt ebenso einer Totenmaske wie das des Vaters. Maske stand gegen Maske, – und in beiden fiel eine unerwartete, seltsame, gleichsam gespenstische Ähnlichkeit auf, – eine Gleichheit in den Gegensätzen. Es war, als ob das breite, runde, weiche Gesicht Peters, sich im langen und mageren Gesicht Alexejs wie in einem Hohlspiegel spiegelnd, sich ungeheuerlich verändert und in die Länge gezogen hätte.

Auch Peter schwieg. Aber auf seiner rechten Backe lief vom Mundwinkel zum Auge über die ganze rechte Gesichtshälfte ein schnelles Zucken und Beben; es wurde immer stärker und verwandelte sich in einen Krampf, der das Gesicht, den Hals, die Schulter, den Arm und das Bein erschütterte. Wegen dieser Krämpfe, die jedem seiner Tobsuchtsanfälle vorangingen, hielten ihn viele für epileptisch und sogar für besessen. Alexej konnte seinen Vater in solchen Augenblicken nicht ohne Entsetzen ansehen. Jetzt blieb er aber ruhig, wie von einem unsichtbaren, undurchdringlichen Panzer umgeben, was hätte ihm der Vater noch tun können? Ihn töten? Sollte er es nur tun! War denn das, was er eben getan hatte, nicht schlimmer als ein Mord?

»Was schweigst du?« schrie Peter plötzlich auf und schlug bei einer der krampfhaften Zuckungen, die seinen ganzen Körper erbeben machten, mit der Hand auf den Tisch. »Aljoschka, nimm dich in acht! Glaubst du, daß ich dich nicht kenne? Ich kenne dich durch und durch! Gegen dein eigenes Blut hast du dich empört, du junger Hund, deinem Vater wünschst du den Tod! . . . Ein stilles Wasser bist du, ein verdammter Scheinheiliger! Du hast wohl von den Popen und Mönchen diese Politik gelernt? Nicht umsonst lehrte der Heiland die Apostel, daß sie sich vor nichts fürchten sollten außer vor dem pharisäischen Sauerteige, d. h. vor der mönchischen Heuchelei und Dissimulation . . .«

Ein feines böses Lächeln funkelte in dem zu Boden gesenkten Blicke des Zarewitsch. Beinahe hätte er seinen Vater gefragt, was die Fälschung des Datums – der 11. Oktober statt des 22. Oktober – in der »Mitteilung an meinen Sohn« zu bedeuten habe, von wem der Vater diese Dissimulation, diese Gaunerei, die eines Petjka, des Schreibers, oder eines Fedoßkas, des »Fürsten dieser Welt« mit seiner »göttlichen List« und »himmlischen Politik« würdig wäre, gelernt hätte?

»Das ist meine letzte Ermahnung,« begann Peter in seinem früheren gleichmäßigen, beinahe leidenschaftslosen Tone, mit großer Willensanspannung seinen Krampf unterdrückend. Überlege dir das alles, fasse einen Entschluß und gib mir sofort Antwort, wenn nicht, so tue ich dir kund, daß ich dich gänzlich enterben werde. Denn wenn mein Finger brandig ist, muß ich ihn abhauen, obwohl er ein Teil meines Körpers ist! So werde ich auch dich wie ein brandiges Glied abhauen! Glaube nur nicht, daß ich so spreche, um dir Angst zu machen: ich schwöre bei Gott, daß ich es auch ausführen werde. Denn für mein Volk und für mein Vaterland habe ich mein Leben niemals geschont und schone es auch jetzt nicht; warum sollte ich dich Taugenichts schonen? Ich ziehe einen guten Fremden einem untauglichen eigenen Sohn vor. Und ich sage es dir noch einmal, damit du ganz bestimmt eines von beiden tust: entweder deine Sitten änderst oder ins Kloster gehst. Und wenn du es nicht tust . . .«

Der Zar erhob sich in seiner ganzen Riesengröße. Wieder durchschüttelte ihn der Krampf; sein Kopf zitterte, seine Arme und Beine zuckten. Die Totenmaske mit dem unbeweglichen Blick der entzündeten Augen schien Fratzen zu schneiden und war grauenerregend. Seine Stimme klang wie das Röcheln eines Raubtiers:

»Und wenn du das nicht tust, so werde ich mit dir wie mit einem Verbrecher verfahren! . . .«

»Ich möchte Mönch werden und bitte um allergnädigste Erlaubnis dazu,« sagte der Zarewitsch ruhig, aber bestimmt.

Er log. Peter wußte, daß er log. Und Alexej wußte, daß sein Vater es wußte. Böse Rachlust erfüllte die Seele des Zarewitsch. In seiner unendlichen Demut lag unendlicher Starrsinn. Der Sohn war jetzt stärker als der Vater, der Schwache stärker als der Starke. Was würde es Peter nützen, wenn sein Sohn wirklich ins Kloster ginge? »Die Mönchskappe ist an den Kopf nicht angenagelt, man kann sie auch wieder ablegen.« Gestern Mönch, morgen Zar. Die Gebeine des Vaters werden sich im Grabe umdrehen, wenn der Sohn ihn verhöhnen wird, wenn er alles vernichten und verwüsten, keinen Stein auf dem andern lassen und Rußland zugrunde richten wird. Nicht ins Kloster stecken müßte man ihn, sondern ermorden, vom Angesicht der Erde vertilgen.

»Hinaus«! stöhnte Peter in ohnmächtiger Wut.

Der Zarewitsch hob die Augen und blickte den Vater scharf und finster an; so blickt der junge Wolf zähnefletschend und mit gesträubtem Fell auf einen alten. Ihre Blicke kreuzten sich wie die Degen im Zweikampf, – und der Blick des Vaters senkte sich, als ob er zerbrochen wäre wie ein Messer an einem harten Stein.

Und wieder brüllte er wie ein verwundetes Tier und hob plötzlich mit einem Mutterschimpfwort seine Fäuste über den Kopf des Sohnes, bereit, sich auf ihn zu stürzen, ihn zu schlagen und zu töten.

Da berührte eine kleine, zarte, doch kräftige Hand Peters Schulter.

Die Zarin Jekaterina Alexejewna hatte schon lange an der Türe des Arbeitszimmers gelauscht und versucht, durchs Schlüsselloch hineinzuschauen. Katenjka war neugierig. Sie erschien wie immer im gefährlichsten Augenblick, um ihrem Mann Beistand zu leisten. Sie öffnete unhörbar die Türe und schlich sich auf den Fußspitzen an ihn heran.

»Petenjka! Väterchen!« sagte sie in demutsvollem, etwas scherzendem, verstelltem Tone, wie gute Kinderfrauen zu trotzigen Kindern oder Krankenwärterinnen zu Kranken sprechen, »Rege dich nicht auf, Petenjka, verwunde nicht, mein Liebster, dein Herz, wenn du dich überanstrengst, wirst du dich wieder ins Bett legen müssen und krank werden . . . Und du, Zarewitsch, geh hinaus, Gott sei mit dir, mein Lieber! Du siehst doch, der Zar ist unwohl . . .«

Peter wandte sich um, erblickte das ruhige, beinahe lustige Gesicht Katenjkas und kam sofort wieder zu sich. Die erhobenen Arme fielen kraftlos herab, und der ganze riesenhafte, schwere Körper ließ sich mit Wucht in den Sessel fallen, wie ein alter an der Wurzel angehauener Baum.

Alexej starrte seinen Vater noch immer mürrisch an und wich, zusammengekrümmt, wie mit gesträubtem Fell und mit dem wilden Blick, mit dem ein Raubtier das andere ansieht, langsam zur Tür zurück. Erst auf der Schwelle wandte er sich um, öffnete die Tür und ging hinaus.

Katenjka aber setzte sich seitwärts auf die Armlehne des Sessels, umarmte Peters Kopf und drückte ihn an ihre volle, wie ein Kissen weiche Brust, eine echte Ammenbrust. Noch ganz jugendlich erschien neben seinem gelben, kränklichen, fast greisenhaften Gesichte Katenjkas rosiges Gesicht mit den vielen kleinen, mit weichen Haaren bewachsenen, wie Schönheitspflästerchen aussehenden Muttermalen und den lieblichen Grübchen und Beulchen, den hochgezogenen, an Zobelpelz gemahnenden dunklen Augenbrauen, den sorgfältig gekräuselten gefärbten Locken auf der niedrigen Stirn, den hervorquellenden großen Augen und dem ewigen Lächeln aller Zarenbildnisse. Sie glich übrigens viel weniger einer Zarin als einer deutschen Wirtshausmagd oder einer russischen Soldatenfrau, einer Wäscherin, wie sie der Zar manchmal selbst nannte; sie begleitete auch ihren »Alten« auf allen Feldzügen, wusch und flickte mit eigenen Händen seine Wäsche, und bereitete ihm warme Umschläge, rieb ihm den Leib mit der Blumentrostschen Salbe ein und gab ihm Abführmittel, wenn er Leibschmerzen hatte.

Niemand außer Katenjka verstand es, die rasenden Wutanfälle des Zaren zu besänftigen, vor denen seine Nächsten solche Angst hatten.

Mit der einen Hand seinen Kopf umfassend und mit der anderen seine Haare streichelnd, wiederholte sie immer wieder die gleichen Worte: »Petenjka, Väterchen, Liebster, Herzensfreund! . . .« Sie war wie eine Mutter, die ein krankes Kind einlullt, wie eine Tierbändigerin, die einen Löwen liebkost. Unter ihrer gleichmäßigen, stillen Liebkosung beruhigte sich der Zar allmählich und schlief gleichsam ein. Die Krämpfe im Körper ließen nach. Nur noch die schon ganz erstarrte Totenmaske seines Gesichts, mit den geschlossenen Augen, zuckte ab und zu, als ob sie Grimassen schnitte.

Zugleich mit Katenjka war ins Zimmer ein kleines Äffchen gekommen, das ein holländischer Steuermann einmal der jüngsten Zarewna, Lisanjka zum Geschenk mitgebracht hatte. Der mutwillige Affe folgte der Zarin wie ein Page und haschte nach dem Saum ihres Kleides, als ob er ihn frech und schamlos in die Höhe heben wollte. Als er aber die Hündin Lisette sah, erschrak er, sprang auf den Tisch und vom Tisch auf den Globus, der das kopernikanische Weltsystem darstellte, – die feinen Messingbögen verbogen sich unter der Last des Tierchens, und das Weltall erklirrte leise; – dann sprang er noch höher, auf die englische Standuhr aus Mahagoniholz hinauf. Der letzte Sonnenstrahl fiel auf die Uhr, und das Pendel erglänzte bei jeder Bewegung wie ein Blitz. Der Affe hatte schon lange keine Sonne gesehen. Als ob er sich auf etwas besinnen wollte, starrte er traurig und erstaunt auf die fremde bleiche Wintersonne, kniff die Augen zusammen und schnitt Fratzen, als ob er den Krampf im Gesichte Peters nachäffen wollte. So schrecklich war die Ähnlichkeit der Grimassen in diesen beiden Gesichtern – dem des kleinen Tieres und dem des großen Zaren.

Alexej befand sich unterdessen schon auf dem Heimwege.

Er empfand dasselbe, was die Menschen empfinden, denen man einen Arm oder ein Bein amputiert hat: wenn sie erwachen, suchen sie die Stelle zu betasten, wo das Glied war, und sehen, daß es fehlt. Ebenso fühlte auch der Zarewitsch in seinem Herzen die Stelle, wo die Liebe zum Vater gewesen war, und sah, daß sie fehlte. Er erinnerte sich an die Worte des Vaters: »Wie ein brandiges Glied werde ich dich abhauen.« Es war ihm, als ob man aus seinem Innern zugleich mit der Liebe auch alles andere entfernt hätte. Eine Leere gähnte in ihm, ohne Hoffnung, ohne Angst, ohne Trauer, ohne Freude – alles in ihm war leer, leicht und furchtbar.

Und er wunderte sich, wie schnell und wie einfach sein Wunsch in Erfüllung gegangen war: sein Vater war ja schon tot.

 


 


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