Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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V.

»Instruktion, wie der Angeklagte zu foltern ist.

»Zur Folterung eines Angeklagten ist ein besonderer Platz hergerichtet, der mit einer Palisade umgeben und überdacht sein muß, weil der Folterung die Richter, ein Sekretär und ein Schreiber, der die Aussagen aufzuschreiben hat, beiwohnen müssen.

»In der Folterkammer ist eine Wippe aufgestellt, die aus drei Balken besteht, von denen zwei in die Erde eingerammt sind und der dritte quer oben auf ihnen liegt.

»Und zur angesetzten Zeit muß der Scharfrichter in die Folterkammer kommen und seine Instrumente mitbringen, welche sind: ein wollenes Kummet, an das ein langer Strick angenäht ist, Knuten und ein Riemen.

»Sobald die Richter sich eingefunden haben, soll der Scharfrichter den langen Strick über den Querbalken der Wippe werfen, den zu Folternden ergreifen, seine Arme nach hinten renken, sie in das Kummet stecken und ihn durch eigens dazu angestellte Gehilfen in die Höhe ziehen lassen, so daß der zu Folternde nicht die Erde berühre, sondern an den nach hinten gerenkten Armen in der Luft hänge; dann soll er ihm die Beine mit dem Riemen zusammenbinden und an einen vor der Wippe angebrachten Pfahl befestigen; nachdem er ihn auf diese Weise gestreckt hat, schlägt er ihn mit der Knute, während die Richter ihn über seine Verbrechen befragen und alle seine Worte aufschreiben.«

Als man den Zarewitsch am Morgen des 19. Juni in die Folterkammer brachte, wußte er noch nichts vom Gerichtsbeschluß.

Der Scharfrichter Kondraschka Tjutjun trat auf ihn zu und sagte ihm:

»Zieh dich aus!«

Er verstand noch immer nichts.

Kondraschka legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Zarewitsch sah ihn an und begriff, was er mit ihm vorhatte; er schien aber gar nicht erschrocken zu sein. In seiner Seele gähnte eine Leere. Er fühlte sich wie im Traume; in seinen Ohren klang das Liedchen des alten unheilverheißenden Traumes:

Das Feuer brennt,
Das Wasser kocht,
Man wetzt ein Messer,
Um dich zu schlachten . . .

»Ziehe ihn hoch!« sagte Peter zum Scharfrichter.

Der Zarewitsch wurde auf die Wippe gezogen. Man gab ihm fünfundzwanzig Knutenschläge.

Nach drei Tagen schickte der Zar Tolstoi zum Zarewitsch.

»Heute Nachmittag sollt ihr zu Unserm Sohn gehen, über nachgesetzte Punkte, und was dem anhängig, ihn befragen, und dasselbe zu Unserer Nachricht aufschreiben:

  1. Was die Ursache sey, daß Er Uns nicht gehorchen / und dasjenige / was Wir von Ihm verlanget / nicht ins Werck richten / und also gar nichts thun wollen / was Uns angenehm wäre / ob Er gleich gewußt / daß solches in der Welt nicht der Brauch, und eine Sünde und Schande sey?
  2. Warum Er gar keine Furcht vor Uns gehabt, und sich vor der Straffe wegen seiner Ungehorsamkeit nicht gescheuet?
  3. Warum Er die Erbfolge durch unrechte und verbothene Wege, nicht aber nach Unsern Verlangen und durch Gehorsam, wie Wir ihm selber gesagt haben / gesucht?«

Als Tolstoi in die Kasematte der Trubetzkoj-Bastion, wo der Zarewitsch eingesperrt war, eintrat, lag dieser im Bett. Blumentrost verband ihn, untersuchte die von der Knute verursachten Wunden auf seinem Rücken, nahm die alten Binden ab und legte neue mit kühlenden Umschlägen an. Der Leibarzt hatte den Auftrag, den Zarewitsch so bald als möglich wiederherzustellen, damit man ihn einer neuen Folterung unterziehen könnte.

Der Zarewitsch hatte Fieber und phantasierte:

»Fjodor Franzowitsch! Fjodor Franzowitsch! Jage sie doch weg, um Christi willen . . . Siehst du, die Verfluchte schnurrt, schmeichelt, springt mir aber dann auf die Brust, beginnt mich zu würgen und mir das Herz mit den Krallen zu kratzen . . .«

Plötzlich kam er zu sich und sah Tolstoi an.

»Was willst du?«

»Ich komme vom Vater.«

»Um mich wieder zu foltern?«

»Nein, nein, Petrowitsch! Fürchte dich nicht, nicht zur Untersuchung, sondern zur einfachen Befragung . . .«

»Ich weiß nichts mehr, gar nichts mehr!« stöhnte der Zarewitsch und begann sich hin und her zu werfen. »Laßt mich in Ruhe! Tötet mich, aber quält mich nicht! Und wenn ihr mich töten wollt, so gebt mir Gift oder ein Rasiermesser, – ich will es selbst tun . . . Nur rasch, rasch, rasch! . . .«

»Was fällt dir ein, Zarewitsch! Gott sei mit dir,« begann Tolstoi mit leiser samtweicher Stimme, ihn mit seinen samtweichen Augen betrachtend.

»So Gott will, wird noch alles gut werden. Alles wird sich mit der Zeit geben. Es kommt allerlei in der Welt vor. Es ist nichts Ungewöhnliches. Gott hat selbst gelitten und auch uns zu leiden befohlen. Glaubst du vielleicht, daß du mir nicht leid tust, mein Lieber? . . .«

Er holte seine unvermeidliche Tabakdose mit dem arkadischen Schäfer und der Schäferin aus der Tasche, nahm eine Prise und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

»Du dauerst mich so, du Ärmster, daß ich für dich gerne meine Seele hingeben würde!«

Er beugte sich über ihn und fügte rasch flüsternd hinzu:

»Du magst es mir glauben oder nicht, aber ich wünschte dir immer nichts als Gutes und will auch jetzt dein Bestes . . .«

Plötzlich stockte er und hielt inne vor dem Blick der weitgeöffneten, unbeweglichen Augen des Zarewitsch, der sich langsam von seinen Kissen erhob.

»Judas, Verräter! Da hast du für dein Bestes!« Er spuckte Tolstoi ins Gesicht und fiel laut stöhnend – wahrscheinlich hatte sich ein Verband gelöst – in die Kissen zurück.

Der Leibarzt eilte ihm zu Hilfe und rief Tolstoi zu:

»Geht, laßt ihn in Ruhe oder ich lehne jede Verantwortung ab!«

Der Zarewitsch begann wieder zu phantasieren:

»Schau nur, wie sie mich anstarrt . . . Die Augen brennen wie Kerzen, und der Schnurrbart ist nach oben gedreht ganz wie bei Väterchen . . . Mach daß du fortkommst! . . . Fjodor Franzowitsch, Fjodor Franzowitsch, jage sie doch fort, um Christi willen! . . .«

Blumentrost gab ihm Spiritus zu riechen und legte ihm Eisumschläge um den Kopf.

Endlich kam er zu sich und blickte Tolstoi wieder an, doch ganz ohne Haß: er hatte offenbar die Beleidigung schon vergessen.

»Peter Andrejewitsch, ich weiß ja, daß du ein gutes Herz hast. Erweise mir den Freundschaftsdienst, daß ich ewig für dich zu Gott bete! Erwirke beim Vater, daß ich Afrossja wiedersehe . . .«

Tolstoi drückte seine Lippen vorsichtig an die verbundene Hand des Zarewitsch und sprach mit einer Stimme, die vor wirklicher Rührung zitterte:

»Ich werde es erwirken, mein Lieber, alles will ich für dich tun! wenn du nur die Punkte beantworten wolltest. Es sind ja ihrer nicht viel, nur drei . . .«

Er las die Fragen, die der Zar mit eigener Hand geschrieben hatte, vor.

Der Zarewitsch schloß vor Erschöpfung die Augen.

»Was soll ich darauf antworten, Andrejewitsch? Ich habe alles gesagt, Gott sei mein Zeuge! Ich finde keine Worte mehr, und habe auch keine Gedanken im Kopf. Ich bin ganz dumm geworden . . .«

»Das macht nichts, das macht nichts, Väterchen!« sagte Tolstoi, indem er eilig einen Tisch heranrückte und Papier, Feder und Tinte hervorholte. »Ich will dir diktieren, und du sollst nur schreiben . . .«

»Kann er schreiben?« wandte sich Tolstoi zum Leibarzt und sah ihn so an, daß dieser in seinem Blicke den unbeugsamen Blick des Zaren erkannte.

Blumentrost zuckte die Achseln, brummte in den Bart: »Barbaren!« und nahm von der rechten Hand des Zarewitsch die Binde ab.

Tolstoi begann zu diktieren. Der Zarewitsch schrieb mit großer Mühe; er malte schiefe Buchstaben und machte oft Pausen; es schwindelte ihm im Kopfe, und die Feder entfiel seiner Hand. Blumentrost gab ihm dann anregende Tropfen. Doch besser als die Tropfen wirkten die Worte Tolstois:

»Du wirst Afroßjuschka wiedersehen, vielleicht wird er dir ganz verzeihen und das Heiraten erlauben! schreibe nur, schreibe, mein Lieber!«

Und der Zarewitsch schrieb weiter.

»Anno 1718, den 22. Junii antworte ich auf die Punkte, über welche mich der Herr Tolstoi befraget:

  1. Die Ursach meines Ungehorsams ist, weil ich von Jugend auff nur mit meiner Hoffmeisterin und Frauen-Zimmer eine Zeitlang umgegangen / und von ihnen nichts gutes, ohne was Stuben Ergötzlichkeiten gewesen / lernen können. Sie haben mich zur Scheinheiligkeit gewöhnet wozu ich ohne dem von Natur incliniret. Mein Herr Vater hat zwar große Sorge vor mich getragen / und befohlen / daß ich sowol die einem Zarischen Prinzen anständige Dinge / als auch die Teutsche Sprache und andere Wissenschaften lernen sollte / welches mir aber sehr zuwider gewesen / und ich habe alles mit großer Nachlässigkeit gethan umb die Zeit nur zu verliehren / mit einem Worte / ich habe gar keine Lust dazu gehabt. Und weil dazumahl mein Herr Vater offt zu Felde gegangen / und von mir abwesend war / haben die Menschen, die bei mir waren, als sie sahen / daß ich zu nichts anders / als zu der Scheinheiligkeit inclinirete, auch die Conversation mit Priestern und Mönchen liebete / folglich selbige fleißig besuchte / um mit ihnen einen guten Trunck zu thun; so haben sie mir nicht allein solche nicht verwehret / sondern auch selber dieses mit mir willig gethan. Und sie haben mich auch mehrentheils von meinen Vater abspenstig gemacht / und mit denen obengemelten Ergötzlichkeiten mich erlustiget / und dahero kams / daß ich nach und nach nicht nur für die Kriegssachen und andere Thaten meines Vaters / sondern auch für seiner eigenen Person Abscheu bekam / detzwegen habe auch allezeit von Ihm entfernt zu seyn gesuchet.
  2. Daß ich keine Furcht gehabt, und mich vor der Straffe des Ungehorsams nicht gescheuet / solches kam von nichts anders / als meinen verderbten Sitten her / (wie ich selber vor gewiß erkenne) denn ob ich gleich Furcht vor meinen Vater gehabt / war es doch keine rechte kindliche Furcht.
  3. Warum ich durch andere Wege und nicht mit Gehorsam die Erb-Folge gesuchet, ist leichtlich zu erachten / weil ich von dem rechten Wege schon gäntzlich abgewichen war / und meinem Vater nirgends folgen wolte / so war ja kein ander Mittel verhanden / zur Negierung zu gelangen / als dasjenige / so ich ergriffen / ich habe durch fremde Hilffe dazu gelangen wollen / und wäre es so weit gekommen / so hätte der Keyser nicht unterlassen / dasselbe ins Werck zu richten / wie Er mir denn versprochen: auch mit gewaffneter Hand mir zur Russischen Krone zu verhelffen / und alsdann hätte ich nichts geschonet /zur Regierung zu gelangen. Sollte der Keyser hingegen von mir Hilffs-Trouppen wider seinen Feind oder eine große Summe Geldes verlanget haben / hätte ich alles nach seinem Willen gethan / seinen Ministern und Generalen große Geschenke gegeben, und seinen Trouppen / die Er mir zur Hülffe / um den Russischen Thron zu erhalten / geschickt / hätte ich auff meine Unkosten genommen / mit einem Worte / ich hätte nichts geschonet / wenn nur mein Wille wäre erfüllet worden.

Alexej.«

Nachdem er dies unterschrieben hatte, kam er plötzlich wieder zu sich, als ob er aus einem Fiebertraume erwachte, und gewahrte mit Entsetzen, was er getan hatte. Er wollte aufschreien, daß alles Lüge sei, er wollte das Papier ergreifen und zerreißen. Aber seine Zunge und alle seine Glieder waren gelähmt wie bei einem Scheintoten, der alles hört und fühlt und sich in der Erstarrung des Totenschlafes nicht zu rühren vermag. Ohne ein Glied zu rühren und ohne einen Ton von sich zu geben, sah er zu, wie Tolstoi das Papier zusammenfaltete und in die Tasche steckte.

Auf Grund dieser letzten Aussage, die in der Senatssitzung vom 24. Juni verlesen wurde, faßte der Höchste Gerichtshof folgenden Beschluß:

»Wir, die unterfertigten Minister, Senatoren und Militär- und Civilbeamte haben uns erkühnet / mit reiffer Überlegung / und nach dem Christlichen Gewissen / ohne Grollen noch Schmeicheley / noch Ansehen der Person / laut derer sich auff diesem Fall schickenden göttlichen Verordnungen des Alten und Neuen Testaments der heiligen Schrifft des Evangelii und der Aposteln / gleich wie auch der Canonen und Regeln derer Conzilien der heiligen Väter und Lehrer der Kirchen; mit zuziehung des Bedenckens der Ertz-Bischöffe und übrigen Geistlichkeit / so auff Seiner Zarischen Majestät höchsten Befehl zu St. Petersburg versammelt worden; Wie auch nicht weniger nach denen Russischen Rechten / und zwar nach denen Satzungen und Krieges-Articulen / welche Rechte mit den Gesetzen vieler andern Staaten / insonderheit derer Alten Römischen und Griechischen Keysern und anderer Christlichen Potentaten übereinkommen / folgendes Urtheil zu fällen und zu beschließen: Daß der Zarewitsch Alexius vor alle oben angeführten Mißhandlungen und Haupt-Verbrechen gegen seines Vaters Majestät / als ein Sohn und Unterthan / am Leben gestraffet zu werden verdienet.«


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