Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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Zweites Buch.

Der Antichrist.

 

I.

 

Sarg von Fichtenbrettern
Ist für mich gezimmert,
Werde darin liegen
Bis Posaunen schallen . . .

Das war das Lied der Raskolniki von der Grablegersekte. »Im siebentausendsten Jahre nach Erschaffung der Welt,« sagten sie, »wird die Wiederkunft Christi sein. Und wenn er nicht wiederkommt, werden wir sein Evangelium verbrennen; den anderen Büchern ist aber nicht zu glauben.« Und sie verließen ihre Häuser, Felder, Vieh und Besitzungen, gingen Nacht für Nacht in die Felder und Wälder, zogen sich reine weiße Leichenhemden an, legten sich in Särge, die aus ganzen Baumstämmen ausgehöhlt waren, sangen sich selbst die Totenmessen und erwarteten jeden Augenblick die Posaune des Jüngsten Gerichts; das nannten sie »Christus empfangen.«

Der Landzunge gegenüber, die durch die Große und die Kleine Newa gebildet wird, an der breitesten Stelle des Stromes, vor den Gagarinschen Hanfspeichern waren mitten unter den anderen Flößen, Barken und Strusen die Eichenflöße des Zarewitsch Alexej verankert, die aus dem Nishnij-Nowgoroder Gebiet für die Admiralitätswerft nach Petersburg gekommen waren. In der Nacht, in der das Venusfest im Sommergarten stattfand, saß am Steuer eines dieser Flöße ein alter Barkenzieher, in einem zerfetzten Schafpelz, den er auch bei der heißen Witterung anbehielt, und in Bastschuhen. Man nannte ihn »Iwanuschka der Narr« und hielt ihn für einfältig oder verrückt. Seit dreißig Jahren schon wachte er von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr jede Nacht bis zum Hahnenschrei, um Christus zu empfangen, und sang immer dasselbe Lied der Grableger. Er saß auf dem nassen Balken dicht über dem Wasser zusammengekauert, die Knie hochgezogen und mit den Armen umschlungen, und blickte voller Erwartung auf den zwischen den schwarzen Wolkenfetzen durchschimmernden goldgrünen Himmel. Der starre Blick seiner Augen, die unter den zerzausten Haaren fast verschwanden, und sein unbewegliches Gesicht waren von Schrecken und Hoffnung erfüllt; er wiegte sich langsam hin und her und sang mit gedehnter klagender Stimme:

Sarg von Fichtenbrettern
Ist für mich gezimmert.
Werde darin liegen
Bis Posaunen schallen.
Engel werden blasen,
Aus den Särgen wecken,
vors Gericht mich laden,
vors Gericht des Herrn.
Doch zwei breite Straßen
Führen hin zum Herrn:
Und die eine Straße
Führt ins Reich des Himmels,
Und die andere Straße
In die finstre Hölle.

»Iwanuschka, komm zum Abendbrot,« rief man ihm vom anderen Ende des Floßes zu, wo auf Stecken, die zu einem Herde zusammengefügt waren, ein Feuer brannte, über dem an drei Stangen ein eiserner Kessel mit einer Fischsuppe hing. Iwanuschka hörte nicht und sang weiter.

Im Kreise um das Feuer herum saßen außer den Barkenziehern und Bootsleuten: der alte Raskolnik Kornilij, Prediger der Selbstverbrennung, der von den Ufern des Weißen Meeres in die Kershenezschen Wälder jenseits der Wolga zog; sein Jünger, der entlaufene Moskauer Scholar Tichon Sapolskij; der desertierte Astrachaner Kanonier Alexej Ssemissashennyj; der entlaufene Matrose der Admiralität, der Kalfaterer Iwan, Iwans Sohn Budlow; der Schreiber Larion Dokukin; die Nonne Vitalia von der Sekte der Läuflinge, die, wie sie selbst sagte, ein Vogelleben führte und ewig wanderte, ohne sich irgendwo aufzuhalten; ihre unzertrennliche Gefährtin Kilikeja die Barfüßige, eine Besessene, die »den Teufel im Leibe hatte«, und noch viele andere geheimnisvolle Menschen von jedem Stande und Berufe, die vor den drückenden Steuern, dem Militärdienst, den Spießruten, der Katorga, den grausamen Strafen, dem Bartscheren, dem Zwange, sich mit zwei Fingern zu bekreuzigen, und den übrigen Schrecken des Antichrist geflohen waren.

»Ein großer Gram ist über mich gekommen!« sagte Vitalia, eine noch rüstige und lebhafte Alte, mit einem runzligen, doch wie ein Herbstapfel rötlichen Gesicht, mit einem dunklen Kopftuche, dessen Enden tief herabhingen, »woher aber dieser Gram kommt, das weiß ich nicht. Die Tage sind so trüb, und die Sonne scheint nicht mehr so wie früher.«

»Es sind die letzten Zeiten, die Zeiten des Jammers: der Schrecken des Antichrist weht über die ganze Welt, – daher kommt der Gram,« erklärte Kornilij, ein hageres altes Männchen mit gewöhnlichem Bauerngesicht, pockennarbig, mit Augen, die halbblind zu sein schienen, in Wirklichkeit aber durchdringend und scharf waren; er trug eine Art Mönchskappe, eine schwarze, stellenweise rostfleckige Kutte und einen Ledergurt mit einem Rosenkranz aus Riemen; bei jeder seiner Bewegungen klirrte leise die drei Zentner schwere, aus eisernen Kreuzen bestehende Kette, die er zur Kasteiung am bloßen Körper trug und die sich in seinen Leib hineingefressen hatte.

»Auch mich dünkt, Vater Kornilij,« fuhr die Wanderin fort, »daß die letzten Zeiten angebrochen sind. Die Welt wird nicht lange mehr stehen; es heißt, daß in der Mitte des achten Jahrtausends das Ende kommt.«

»Nein,« entgegnete der Alte mit tiefer Überzeugung, »es wird noch schneller kommen . . .«

»Gott sei uns gnädig!« sagte jemand schwer stöhnend. »Gott allein weiß es, und wir wissen nichts als das Gebet: Gott sei uns gnädig!«

Alle schwiegen. Die Wolkenlücken zwischen den Wolken schlossen sich, der Himmel und die Newa wurden finster. Immer heller zuckte das Wetterleuchten; in seinem bläulichen Scheine funkelte die blaßgoldene feine Nadel der Peter-Pauls-Festung und spiegelte sich in der Newa. Die steinernen Bastionen und die flachen, gleichsam eingedrückten Ufer mit den gleichfalls flachen, aus Lehm erbauten Warenschuppen, Hanfspeichern und Garnisonzeughäusern standen als schwarze Massen da. In der Ferne, am anderen Ufer, unter den Bäumen des Sommergartens flimmerten die Flämmchen der Illumination, von der Insel Kaiwusari, der »Birkeninsel«, kam der letzte Hauch des späten Frühjahrs mit dem Duft von Tannen, Birken und Espen. Das kleine Häuflein Menschen auf dem flachen, in der Finsternis verschwindenden Floße, zwischen den schwarzen Gewitterwolken und dem schwarzen Wasserspiegel von der roten Flamme beleuchtet, schien einsam und verloren in der Luft zwischen zwei Himmeln, zwischen zwei Abgründen zu hängen.

Alle schwiegen, und es wurde so still, daß man das schläfrige Rieseln des Wassers unter dem Floße und vom anderen Ende des Floßes das auf dem Wasser deutlich hörbare eintönige, traurige Lied Ivanuschkas hören konnte:

Sarg von Fichtenbrettern
Ist für mich gezimmert,
werde darin liegen
Bis Posaunen schallen . . .

»Was meint ihr, meine Falken,« begann Kilikeja die Besessene, eine noch junge Frau mit zart durchsichtigem, gleichsam wächsernem Gesicht und erfrorenen – sie ging selbst beim größten Froste barfuß – schwarzen, schrecklichen Füßen, die wie die Wurzeln eines alten Baumes aussahen. »Ist es wahr, was ich neulich hier in Petersburg auf dem Obshornyj-Markte gehört habe: daß es jetzt in Rußland gar keinen Zaren gibt und daß der, der sich für einen Zaren ausgibt, nicht der richtige und nicht von russischer Abstammung und auch nicht vom Zarengeblüt ist, sondern entweder ein Deutscher, der Sohn eines Deutschen, oder ein vertauschter Schwede?«

»Weder ein Schwede, noch ein Deutscher, sondern ein verruchter Jude aus dem Geschlechte Dans,« erklärte der alte Kornilij.

»Oh Gott, Gott!« seufzte wieder jemand schwer auf. »Nun haben wir ein verruchtes Zarengeschlecht!«

Man begann zu streiten, was Peter sei: ein Deutscher, ein Schwede oder ein Jude.

»Der Teufel weiß, was er ist! Ob ihn eine Hexe in einem Mörser ausgebrütet hat, oder ob er aus der Feuchtigkeit einer Badestube gezeugt worden ist, – jedenfalls ist er ein Werwolf,« entschied der desertierte Matrose Budlow, ein Bursche von etwa dreißig Jahren mit nüchternem und ernstem Ausdruck in seinem klugen Gesicht, das wohl früher einmal hübsch gewesen sein mochte, aber durch das schwarze, auf die Stirne eingebrannte Katorgamal und die vom Henker zerrissenen Nasenflügel entstellt war.

»Ich weiß, meine lieben Väter, ganz genau, wie es sich mit dem Zaren verhält,« fiel Vitalia ein. »Ich hörte es in Kershenez von einer alten, irrenden Bettelnonne; auch die Chornonnen des Mariä-Himmelfahrt-Klosters zu Moskau berichteten es ebenso: als unser frommer Zar Peter Alexejewitsch jenseits des Meeres bei den Deutschen war und durch die deutschen Lande wanderte, kam er auch nach Stekolnoje;Stekolnoje – »die Gläserne« – wurde im alten Rußland Stockholm genannt.; und in den deutschen Landen herrscht über Stekolnoje eine Jungfrau; und diese Jungfrau verspottete unsern Zaren, zwang ihn auf einer glühenden Pfanne zu stehen, sperrte ihn dann in ein Faß mit spitzen Nägeln und ließ das Faß ins Meer werfen.«

»Nein, nicht in ein Faß,« berichtigte jemand, »sie ließ ihn in eine Säule einmauern.«

»Ob in eine Säule oder in ein Faß, jedenfalls ist er spurlos verschwunden. Und an seiner Stelle erschien von jenseits des Meeres ein verruchter Jude aus dem Geschlechte Dans, der Sohn einer unreinen Dirne. Zuerst hatte es niemand erkannt; als er aber nach Moskau kam, begann er alles nach jüdischer Sitte zu machen; er nahm vom Patriarchen den Segen nicht an; besuchte die Reliquien der Moskauer Wundertäter nicht, denn er wußte, daß der Allmächtige ihn, den Verruchten, zu der heiligen Stätte nicht zulassen würde; auch verneigte er sich nicht vor den Gräbern der früheren frommen Zaren: so fremd und verhaßt waren sie ihm. Und er besuchte niemand von der Zarensippe, weder die Zarin, noch den Zarewitsch, noch die Zarewnas, denn er fürchtete, sie würden den Betrug aufdecken und zu ihm, dem Verruchten, sagen: ›Du bist nicht von unsrem Geschlecht, du bist kein Zar, sondern ein verruchter Jude.‹ Am Neujahrstage erschien er nicht vor dem Volke, weil er fürchtete, entlarvt zu werden, wie einst der davongelaufene Mönch Grischka, der sich für den Zaren Dimitrij ausgab, entlarvt worden war. Und er treibt es auch wie Grischka: er beobachtet die heiligen Fasten nicht, kommt niemals in die Kirche, geht nicht jeden Sonnabend ins Bad, führt mit den unsauberen Deutschen ein liederliches Leben, und die Deutschen sind heute im Moskauer Reiche obenan: der jämmerlichste Deutsche steht jetzt über allen Bojaren und selbst über dem Patriarchen. Der verruchte Jude tanzt öffentlich mit deutschen Huren und trinkt Wein nicht zum Ruhme Gottes, sondern sinnlos und häßlich, wie ein Säufer in der Schenke; in seiner Trunkenheit wälzt er sich und verspottet alles: von seinen Zechkumpanen hat er den einen zum allerheiligsten Patriarchen, und andere zu Metropoliten und Erzbischöfen ernannt. Er selbst spielt den Protodiakon, vermengt jede Unflätigkeit mit heiligen Worten und lästert mit lauter Stimme Gott, seinen deutschen Freunden zum Vergnügen und dem christlichen Glauben zur Schmach.«

»Und siehe, das sind die vom Propheten Daniel geweissagten Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte!« schloß der alte Kornilij.

Nun erhoben sich in der Menge verschiedene Stimmen:

»Auch die Zarin Awdotja Fjodorowna, die in Susdal eingekerkert ist, sagt: ›Seid stark, haltet am christlichen Glauben fest – es ist nicht mein Zar, sondern ein Fremder.‹«

»Er will auch den Zarewitsch in den gleichen Stand bringen, aber der Zarewitsch hört nicht auf ihn. Und der Zar will ihn umbringen, damit er nicht auf den Zarenthron komme.«

»Oh Gott, Gott! Einen bösen Stern hat der Herr gesandt, daß der Vater sich wider den Sohn und der Sohn sich wider den Vater erhebt.«

»Er ist ihm gar kein Vater! Der Zarewitsch selbst sagt, daß er weder sein Vater noch der Zar sei.«

»Der Zar liebt die Deutschen, und der Zarewitsch liebt sie nicht. Er sagt: ›Laßt mir nur Zeit, ich werde sie schon alle ausrotten.‹ Irgendein Deutscher kam einmal zu ihm und redete, niemand weiß was; der Zarewitsch verbrannte ihm die Kleider und fügte ihm Brandwunden zu. Der Deutsche beklagte sich beim Zaren, und dieser sagte zu ihm: ›Warum geht ihr zu ihm? solange ich am Leben bin, werdet auch ihr hier sein.‹«

»So ist es! Alle im Volke sagen: sobald nur unser Zarewitsch Alexej Petrowitsch auf den Zarenthron kommt, wird sich unser Zar Peter Alexejewitsch trollen müssen und alle anderen mit ihm!«

»Es ist wahrlich so!« bestätigten viele freudige Stimmen. »Er, der Zarewitsch, glüht vor Liebe für alles Alte.«

»Ein gottsuchender Mensch!«

»Die Hoffnung Rußlands! . . .«

»Man erzählt sich auch verschiedene Ammenmärchen im Volke, man soll aber nicht allem trauen,« begann Iwan Budlow. Alle wurden unwillkürlich auf seine ruhigen, sachlichen Worte aufmerksam. »Und ich sage es immer wieder: ob er Deutscher, Schwede oder Jude ist – der Teufel weiß, was er ist –, seitdem ihn aber Gott auf den Thron gebracht hat, haben wir keinen einzigen lichten Tag erlebt, eine Last liegt auf der Welt, man kann nicht aufatmen, schauen wir uns nur unsere Brüder, die Soldaten an: seit fünfzehn Jahren kämpfen wir mit den Schweden, lassen uns nichts zuschulden kommen und vergießen unser Blut ohne zu murren; und doch haben wir noch keine Ruhe: wir sind den ganzen Sommer und Herbst auf dem Meere, leiden mehr, als wir aushalten können, überwintern auf Steinen und sterben vor Hunger und Kälte. Sein Reich hat er aber so verwüstet, daß in manchen Gegenden der Bauer kein einziges Schaf mehr hat. Alle sagen: ein kluger Kopf! Wenn er ein kluger Kopf wäre, müßte er doch das Elend des Volkes sehen. Worin äußert sich seine Weisheit? Er hat ein Buch von den Bürgerrechten herausgegeben und den Senat eingesetzt. Was haben wir davon? Die neuen Beamten kosten viel Geld. Man soll nur die Bittsteller befragen, ob auch nur eine einzige Sache schon ohne Verschleppung und gerecht entschieden worden ist. Was soll ich noch viel darüber reden? . . . Dem ganzen Volke geschieht ein großes Unrecht. Er strebt danach, daß aus unseren Seelen die letzten Spuren des Christentums verschwinden, er nimmt uns unsere letzten Kräfte. Wie kann nur Gott solche Grausamkeit dulden! Das kann aber nicht ungesühnt bleiben, alles muß sich wenden; über kurz oder lang wird das Blut auf ihre Köpfe kommen!«

Eine der Zuhörerinnen, Alena Jefimowna, eine Frau mit einfachem, gutmütigem Gesicht, die bisher geschwiegen hatte, trat ganz unerwartet für den Zaren ein.

»Wir wissen nicht, wie wir es richtig sagen sollen,« sagte sie leise, wie für sich selbst, »wir beten nur: Bekehre, Herr, den Zaren zu unserm christlichen Glauben!«

Empörte Stimmen fielen ein:

»Was ist er für ein Zar? Ein Spott auf einen Zaren! Er ist wie verrückt, weiß nicht mehr, was er tut!«

»Er ist ganz verjudet und kann nicht mehr leben, ohne Blut zu saugen. Wenn er Blut zu trinken bekommt, so ist er lustig, aber wenn er keines bekommt, so schmeckt ihm auch das Brot nicht!«

»Ein Blutsauger! Die ganze Welt hat er gefressen, nur für ihn, den Säufer, gibt es keinen Untergang.«

»Daß ihn die Erde verschlinge!«

»Narren seid ihr, Hundesöhne!« schrie plötzlich voller Wut der Kanonier Alexej Ssemissashennyj, ein riesengroßer rothaariger Kerl mit halb tierischem und halb kindlichem Gesichtsausdruck. »Ihr seid Narren, daß ihr euch nicht wehren könnt! Ihr seid mit Seele und Leib verloren: man wird euch in Stücke schneiden, wie die Krautwürmer. Ich würde ihn mit eigenen Händen zerstückeln und zerfleischen!«

Alena Jefimowna seufzte leise auf und bekreuzigte sich; diese Worte hatten sie, wie sie später gestand, wie mit Feuer versengt. Auch die andern blickten den Kanonier entsetzt an. Er hatte aber seine blutunterlaufenen Augen starr auf einen Punkt gerichtet, die Fäuste geballt und fuhr ruhig und nachdenklich fort. Diese Ruhe war aber noch schrecklicher als seine Wut.

»Ich wundere mich nur, daß man ihm bisher noch nicht den Garaus gemacht hat. Er fährt ja oft früh und spät ohne Begleitung aus. Man könnte ihn ja gut mit fünf Messern zerstückeln.«

Alena erbleichte, wollte etwas sagen, bewegte aber nur lautlos die Lippen.

»Dreimal wollte man den Zaren schon ermorden,« sagte kopfschüttelnd der alte Kornilij. »Es wird aber niemals gelingen: Teufel begleiten ihn auf Schritt und Tritt und wachen über ihn.«

Ein kleiner Soldat mit weißen Augenbrauen und Wimpern, mit einfältigem, versoffenem, kränklichem Gesicht, fast noch ein Knabe, der desertierte Rekrut Petjka Shisla begann, sich überstürzend, stotternd und wie ein Kind schluchzend, zu sprechen. Er teilte mit, daß man von jenseits des Meeres auf drei Schiffen Siegel gebracht hätte, um die Menschen zu versiegeln; sie werden niemandem gezeigt und unter strenger Bewachung auf der Insel Kotlin aufbewahrt.

Er meinte die auf Befehl Peters eingeführten Rekrutenmarken, über die der Zar im Jahre 1712 dem General-Plenipotentiarius, dem Fürsten Jakow Dolgorukow schrieb: »Die Rekruten sind aber zu zeichnen – auf der linken Hand ist ihnen mit der Nadel ein Kreuz einzustechen und mit Pulver einzureiben.«

»Wer versiegelt ist, der bekommt Brot zu essen, und wer kein Siegel hat, bekommt nichts und muß Hungers sterben. Ach, Brüder, Brüder! . . . schrecklich ist die Sache . . .«

»Alle von Nahrungssorgen Bedrückten werden vor den Sohn der Finsternis treten und ihn anbeten,« bestätigte der alte Kornilij.

»Viele sind schon versiegelt worden,« fuhr Petjka fort. »Auch ich, Brüder, auch ich bin verdammt . . .«

Er hob mit großer Mühe mit der rechten Hand den linken Arm, der schlaff herabhing, führte ihn ans Licht und zeigte das Rekrutenzeichen, das zwischen dem Zeigefinger und dem Daumen eingestochen war.

»Als man mich versiegelt hatte, fing meine Hand zu dorren an. Und so ist sie ganz verdorrt. Erst die linke, dann die rechte. Und wenn ich mich bekreuzigen will, kann ich sie nicht heben . . .«

Alle betrachteten erschrocken das kleine dunkle Mal auf der gelblich-weißen Haut der trockenen, gleichsam abgestorbenen Hand, das wie eine Pockennarbe aussah. Das war das Menschensiegel, das von der Regierung angeordnete schwarze Kreuz.

»Das ist das Siegel des Antichrist!« erklärte der alte Kornilij. »Es steht geschrieben: Er wird ihnen ein Siegel auf die Hände tun, und wer das Malzeichen annimmt, der hat nicht mehr die Kraft, das Zeichen des Kreuzes zu machen, und seine Hand wird nicht mit einer Fessel, sondern mit einem Schwur gebunden sein, und für solche gibt es keine Gnade.«

»Ach Brüder, Brüder! was haben sie mit mir gemacht! . . . Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich mich nicht lebend ihren Händen überliefert. Einen Menschen haben sie wie ein Stück Vieh verdorben und mit einem Brandmal gezeichnet! . . .« jammerte Petjka, und Tränen liefen ihm über das kindliche, beleidigte Gesicht herab.

»Väterchen!« rief Kilikeja die Besessene aus und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, als ob ihr plötzlich ein Gedanke gekommen wäre. »Alles läuft auf dasselbe hinaus: Zar Peter ist ja der . . .«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende: das schreckliche Wort erstarb ihr auf den Lippen.

»Was hast du dir sonst gedacht?« sagte Kornilij, sie mit seinen scharfen Augen durchbohrend. »Gewiß ist er es . . .«

»Nein, habt keine Angst: er selbst ist noch nicht erschienen. Vielleicht nur sein Vorläufer . . .« versuchte Dokukin einzuwenden.

Nun erhob sich Kornilij in seiner ganzen Größe, die Kette aus gußeisernen Kreuzen erklirrte, er hob die Hand, legte zwei Finger zum Zeichen des Kreuzes zusammen und rief feierlich aus:

»Vernehmt, ihr Rechtgläubigen, wer über euch regiert und herrscht seit dem Jahre 1666, das die Zahl des Tieres ist. Zuerst fiel der Zar Alexej Michailowitsch mit dem Patriarchen Nikon vom Glauben ab und war Vorläufer des Tieres. Nach ihm kam aber Peter; er rottete den Glauben mit der Wurzel aus, schaffte den Patriarchen ab, raubte die ganze kirchliche und göttliche Gewalt für sich und erhob sich gegen unsern Herrn und Heiland Jesus Christus als das einzige hauptlose Haupt der Kirche und als selbstherrlicher Hirte. Er stellte sich damit über Christus, von dem es gesagt ist: ›Ich bin der Erste und der Letzte‹ und nannte sich ›Peter der Erste‹. Und im Jahre 1700, am ersten Tage des Monats Januarius, dem Feste des altrömischen Gottes Janus verkündete er auf einem flammenden Schilde: ›Siehe, meine Stunde ist gekommen.‹ Und im kirchlichen Kanon, der zur Verherrlichung seines Sieges über die Schweden bei Poltawa gesungen wird, nannte er sich Christus. Bei allen feierlichen Empfängen und Aufzügen, bei seinen Besuchen in Moskau ließ er sich vor den Triumphpforten von kleinen in weiße Chorhemden gekleideten Knaben ansingen: ›Gelobt sei der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! Unser Herr und Gott ist uns erschienen!‹ Er ließ sie dasselbe singen, was die Kinder Israels nach dem Willen Gottes beim Einzuge unseres Heilands Jesu Christi in Jerusalem sangen. Mit den Titeln, die er angenommen, hat er sich über jeden Gott, dessen Namen man nur aussprechen kann, erhöht. Bei Ephräm dem Syrer findet sich aber die Prophezeiung: ›Im Namen des Simon Petrus wird in Rom der stolze Fürst dieser Welt, der Antichrist erscheinen.‹ In Rußland, das das Dritte Rom ist, ist er schon als Peter, Sohn des Verderbens, Gottes Lästerer und Feind erschienen, und er ist der Antichrist. Und wie es geschrieben steht: ›Der Verführer will dem Sohne Gottes in allen Dingen gleichen‹, so spricht auch dieser Verführer prahlend: ›Ich bin der Vater der Armen, die Zuflucht der Verirrten, die Hilfe der Darbenden, die Rettung der Beleidigten; ich habe für die Siechen und Altersschwachen Spitäler errichtet und für die Kinder Schulen; das unpolitische russische Volk habe ich in kurzer Zeit zu einem politischen gemacht und in Ansehung der Wissenschaften allen europäischen Völkern gleichgestellt; ich habe den Staat vergrößert, das Geraubte zurückerobert, das Zerstreute wiederhergestellt, das Erniedrigte erhöht, das Veraltete erneut, die in Unwissenheit Schlafenden geweckt und, was noch nicht war, geschaffen. Ich bin gütig, ich bin mild, ich bin barmherzig. Kommt zu mir und verneigt euch vor mir, dem lebendigen und starken Gott, denn ich bin Gott, und es gibt keinen anderen Gott neben mir!‹ So heuchelte und prahlte mit seiner Güte das Tier, von dem es geschrieben steht: ›Wer ist dem Tier gleich? Und wer kann mit ihm kriegen?‹ So versteckte sich unter dem Schafpelze der reißende Wolf, auf daß er alle einfange und auffresse. Vernehmt denn, ihr Rechtgläubigen, das Wort des Propheten: ›Flieh, flieh, mein Volk aus Babylon! Rettet euch, denn es gibt für die in den Städten Wohnenden keine Rettung, flieht, ihr Verfolgten, ihr Treuen, die ihr keine bleibende Stadt habt und die zukünftige sucht, flieht in die Wälder und Wüsten, verberget eure Häupter im Staube, in den Bergen, Höhlen und Abgründen der Erde‹, denn ihr seht es selbst, Brüder, daß wir auf dem Felsen aller Bosheit stehen, – der wirkliche Antichrist ist gekommen, und mit ihm das Ende dieser Zeit. Amen!«

Er schwieg. Ein blendendes Wetterleuchten oder ein Blitz beleuchtete ihn plötzlich vom Kopf bis zu den Füßen; und der kleine Greis erschien in diesem Glanze als ein Riese; und der Widerhall des dumpfen, wie von unter der Erde kommenden Donners war wie das Echo seiner Worte, die Himmel und Erde erfüllten. Er schwieg, und auch alle andern schwiegen. Und es trat wieder solche Stille ein, daß man nur das schläfrige Rieseln des Wassers unter den Balken und das gedehnte traurige Lied Iwanuschkas am andern Ende des Floßes hörte:

Särge, ihr Särge aus Eichenklötzen,
Ewige Wohnungen seid ihr für alle.
Neigt sich der Tag dem Abend entgegen,
Liegt schon die Axt an den Wurzeln des Baumes,
Nah, ach so nah sind die letzten Zeiten!

Dieses Lied ließ die Stille noch tiefer und drohender erscheinen.

Plötzlich stieg mit durchdringendem Pfeifen eine Rakete auf und zerstob in der dunklen Höhe zu einem Regen bunter Sterne; die Newa verdoppelte sie in ihrem schwarzen Spiegel: das Feuerwerk hatte begonnen. Es leuchteten die Schilder mit den durchsichtigen Bildern, Feuerräder drehten sich, Flammenfontänen stiegen empor, und tempelartige Paläste erstrahlten in sonnenhellem Glanze. Von der Galerie über der Newa, wo die Venus bereits aufgestellt war, hörte man über die Wasserfläche hinweg deutlich wahrnehmbar die Rufe der Zechenden: »Vivat! Vivat! Vivat! Peter der Große, Vater des Vaterlandes, Kaiser Allrußlands!« Und die Musik fiel ein.

»Seht, Brüder, die letzten Zeichen geschehen!« rief der alte Kornilij aus, mit der Hand aufs Feuerwerk weisend. »Der heilige Hippolyt bezeugt: ›Man wird den Antichrist mit unaussprechlichen Gesängen und vielen Stimmen und lauten Schreien lobpreisen. Und ein Licht, heller als jedes andere Licht, wird den Fürsten der Finsternis umstrahlen. Er wird den Tag in Nacht verwandeln, die Nacht in Tag und Mond und Sonne in Blut, und er wird Feuer vom Himmel herabbringen . . .«

Plötzlich erschien mitten in einer leuchtenden Tempelhalle das Bild Peters, des »Bildners Rußlands«, in Gestalt des Titanen Prometheus.

»Und alle werden sich vor ihm verneigen,« schloß der Alte, »und rufen: Vivat! Vivat! Vivat! Wer ist dem Tier gleich? Und wer kann mit ihm kriegen? Er brachte uns Feuer vom Himmel!«

Alle blickten vor Entsetzen erstarrt auf das Feuerwerk. Als aber in den von bunten bengalischen Feuern beleuchteten Rauchwolken das Meerungetüm mit dem Schuppenschwanz und den stachelbesetzten Flossen und Flügeln auf der Newa erschien und von der Peter-Pauls-Festung zum Sommergarten zog, glaubten sie alle, daß es das in der Offenbarung prophezeite Tier aus dem Abgrunde sei. Von Augenblick zu Augenblick warteten sie, daß nun auch der über das Wasser trocknen Fußes schreitende, oder durch die Luft unter Donner und Blitz auf Feuerflügeln fliegende, von einem unzählbaren Heere von Teufeln umgebene Antichrist erscheinen werde.

»Ach Brüder, Brüder!« jammerte Petjka, wie ein Espenblatt zitternd und mit den Zähnen klappernd. »Es ist so schrecklich . . . wir sprechen alle von ihm, und ist er nicht hier in unserer Nähe? Ihr seht doch, welche Unruhe auch über uns gekommen ist . . .«

»Ich verstehe gar nicht, woher über euch diese weibische Angst kommt. Man soll ihm einen Espenpfahl in die Gurgel jagen und fertig! . . .« fing Ssemissashennyj prahlerisch an; plötzlich erbleichte er aber und begann zu zittern, als die neben ihm sitzende Kilikeja, die Besessene, einen durchdringenden Schrei ausstieß, auf den Rücken fiel und sich winselnd in Krämpfen wand.

Kilikeja war in ihrer Kindheit behext worden. Einmal hatte ihr die Stiefmutter, so erzählte sie selbst, Kohlsuppe zu essen gegeben und dabei geflucht: »Friß, daß dich der Teufel!« Und in der dritten Woche nach diesem Tage wurde sie, Kilikeja, krank und hörte etwas in ihrem Leibe wie einen jungen Hund knurren; auch alle anderen hatten dieses Knurren gehört; in ihrem Leibe wohnte nun der Teufel, der laut und vernehmlich mit menschlicher und tierischer Stimme redete. Sie wurde im Sinne des Zarischen Gesetzes »Von den Besessenen« in Haft genommen, verhört und mit Stöcken und Knuten geschlagen. Sie mußte sich mit Handschlag und Unterschrift, unter Androhung strenger Strafe mit der Knute und lebenslänglicher Einkerkerung ins Spinnhaus verpflichten, »in Zukunft nicht mehr besessen zu sein«. Doch die Knute vermochte nicht den Teufel auszutreiben, und sie war nach wie vor besessen.

Kilikeja rief: »Ach, so übel ist mir, so übel!« und sie lachte und weinte, und bellte wie ein Hund, blökte wie ein Schaf, quakte wie ein Frosch, grunzte wie ein Schwein und schrie mit allen möglichen anderen Stimmen.

Der Wachhund, der auf dem Floße wohnte, wurde von diesen ungewöhnlichen Lauten geweckt und kroch aus seiner Hütte heraus. Es war eine immer hungrige magere Hündin mit eingefallenen Seiten und hervorstehenden Rippen. Sie stellte sich neben Iwanuschka hin, der noch immer weiter sang, als ob er nichts hörte und sähe, hob die Schnauze in die Luft, zog den Schwanz ein und begann zu dem Zischen und Krachen des Feuerwerks zu heulen. Das Heulen der Hündin vermischte sich mit dem Heulen der Besessenen zu einer schrecklichen Musik.

Man versuchte, Kilikeja durch Begießen mit Wasser zur Besinnung zu bringen. Der alte Kornilij beugte sich über sie, sprach Gebete zur Austreibung des Teufels, blies und spie sie an und schlug sie mit seinem aus Kiemen geflochtenen Rosenkranz aufs Gesicht. Endlich wurde sie still und verfiel in einen tiefen Schlaf, der wie eine Ohnmacht war.

Das Feuerwerk war abgebrannt. Die Kohlen auf dem Floße glimmten kaum. Alles verschwand im Dunkel. Es war aber nichts geschehen. Der Antichrist war nicht gekommen. Es gab auch keinen Schrecken. Aber sie waren alle von einem Gram befallen, der schrecklicher war, als alle Schrecken. Sie saßen wie früher auf dem flachen Floße, das sich zwischen dem schwarzen Himmel und dem schwarzen Wasser kaum abhob, zu einem kleinen einsamen, verlorenen Häuflein zusammengedrängt, das in der Luft zwischen zwei Himmeln zu hängen schien. Alles war still. Das Floß rührte sich nicht. Doch es war ihnen, als ob sie mit rasender Eile dem letzten Ende aller Dinge zuflögen und in die Finsternis, wie in einen schwarzen Abgrund – den Rachen des Tieres – hinabstürzten.

Und in dieser schwarzen schwülen Finsternis, die vom bläulichen Zucken des Wetterleuchtens erfüllt war, tönte aus dem Sommergarten zugleich mit den Klängen des Menuetts, die wie Musik von Hirtenflöten und Liebesgeigen im Reiche der Venus, wo der Schäfer Daphnis der Schäferin Chloë den Gürtel löst, anzuhören waren, die schmachtende Weise:

Cupido, laß den Pfeil,
Wir sind ja nicht mehr heil,
Wir sind so süß versehret
Durch deinen Pfeil von Golde –
Die Liebe, ach, die holde,
An unsren Herzen zehret . . .


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