Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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II.

Er ist sechs Jahre alt. Er sitzt in einer alten vergoldeten, aber plumpen und wie ein Bauernwagen rüttelnden, innen mit nelkenfarbigem Samt ausgeschlagenen Hofkutsche mit Glimmerfenstern und Taffetvorhängen auf dem Schoße seiner Großmutter mitten unter Daunenkissen von Ammen und Wärterinnen umgeben, die ebenso dick und weich sind wie die Kissen. Auch seine Mutter, die Zarin Awdotja, ist dabei. Unter dem perlengestickten Stirnbande schaut ihr rundes, weißes, immer erstauntes Gesicht hervor, das an das Gesicht eines kleinen Mädchens erinnert.

Er blickt durch das offene Fenster der Kutsche auf den feierlichen Aufzug des Heeres anläßlich der Siegesfeier von Asow. Er hat Gefallen an den gleichmäßigen Linien der Regimenter, den in der Sonne funkelnden Bronzegeschützen und den roh gemalten allegorischen Darstellungen; auf einem Schilde sind zwei gefesselte Türken dargestellt mit der Inschrift:

Ach, Asow ist uns genommen,
Drum ist unser Herz beklommen.

Auf einem wie waschblau leuchtend blauen Meere reitet ein nackter roter Mann, »der berühmte Meeresgott Neptunus«, auf dem grünen, mit Schuppen bedeckten Fabeltiere Kitowras, mit einer Fischgabel in der Hand; darüber befindet sich die Inschrift: »Auch ich gratuliere zur Eroberung von Asow und unterwerfe mich euch.« Ganz großartig erscheint ihm der gelehrte Deutsche Vinius, der von einer Triumphpforte herab durch ein sechs Ellen langes Sprachrohr russische Verse herunterschreit.

Neben den einfachen Soldaten schreitet in der Front ein Bombardier der Preobrashenskij-Kompagnie, in dunkelgrünem Rock mit roten Aufschlägen und dreieckigem Hute. Er ist viel größer als alle andern, so daß man ihn schon von weitem sieht. Aljoscha weiß, daß es sein Vater ist. Er hat aber ein so jugendliches, beinahe kindliches Gesicht, daß er dem Knaben nicht als Vater, sondern als älterer Bruder, als lieber Spielkamerad und ein ebensolcher Knabe wie er selbst erscheint. In der alten Kutsche unter den Daunenkissen und ebenso wie diese Kissen weichen und dicken Wärterinnen ist es dumpf und schwül. Er sehnt sich ins Freie hinaus, in die Sonne, zu diesem lustigen Knaben mit dem Lockenhaar und den lebhaften Augen.

Der Vater hat seinen Sohn bemerkt. Sie lächeln einander zu, und Aljoschas Herz beginnt vor Freude schneller zu schlagen. Der Zar tritt vor den Schlag der Kutsche, öffnet ihn, reißt fast gewaltsam seinen Sohn aus den Armen der Großmutter – die Wärterinnen stöhnen vor Schreck – umarmt ihn zärtlich, zärtlicher als eine Mutter und küßt ihn; dann hebt er ihn auf den Armen hoch empor, zeigt ihn dem Heere und dem Volke, setzt ihn auf seine Schulter und trägt ihn über den Regimentern. Zuerst in der Nähe, dann immer weiter und weiter erschallt über dem Meere von Köpfen der tausendstimmige Ruf wie ein fröhlicher Frühlingsdonner:

»Vivat! Vivat! Vivat! Es lebe der Zar und der Zarewitsch!«

Aljoscha fühlt, daß alle auf ihn blicken und daß alle ihn lieben. Es ist ihm ängstlich und zugleich lustig zumute. Er hält sich am Halse des Vaters fest, schmiegt sich vertraulich an ihn an, und der Vater trägt ihn ganz vorsichtig und wird ihn ganz gewiß nicht fallen lassen. Und es ist ihm, als ob alle Bewegungen des Vaters seine eigenen Bewegungen seien, als ob die Kraft des Vaters seine eigene Kraft, als ob er und der Vater eins seien. Er will zugleich lachen und weinen: so fröhlich sind die Rufe des Volkes, das Dröhnen der Kanonen, das Läuten der Glocken, der goldene Glanz der Kirchenkuppeln, der heitere blaue Himmel, der freie Wind und die Sonne. Ihm schwindelt es im Kopfe, ihm stockt der Atem, und er fliegt, fliegt dem Himmel und der Sonne entgegen.

Großmutter schaut jetzt zum Fenster der Kutsche heraus. Ihr altes, gutmütiges, runzliges Gesicht kommt Aljoscha so komisch und lieb vor. Sie winkt mit der Hand und ruft; sie fleht ihren Sohn fast unter Tränen an:

»Petenjka, Petenjka, Väterchen! Laß Aljoscha nur nicht fallen!«

Und wieder betten ihn die Wärterinnen und Ammen in sein Daunenbettchen, unter die weiche Decke aus Goldbrokat mit Besatz aus Zobelbäuchen; sie lullen ihn in den Schlaf, liebkosen ihn, kitzeln ihm die Fersen, damit er süßer schlafe, und packen und wickeln ihn sorgfältig ein, damit ihn ja kein Luftzug berühre. Sie behüten das Zarenkind wie ihren Augapfel, sie halten es wie ein junges Mädchen stets hinter alten Vorhängen und Gardinen verborgen. Wenn er zur Kirche geht, trägt man von allen Seiten Decken, damit kein Blick den Zarewitsch treffe, solange er nicht nach alter Sitte offiziell zum Zarewitsch erklärt ist; und wenn er einmal »erklärt« ist, so werden die Leute aus den fernen Ländern gefahren kommen, um ihn wie ein Wunder anzustaunen.

In den niedern kleinen Turmzimmern ist es schwül. Alle Türen, Fenster und Luftlöcher sind sorgfältig mit Filz beschlagen, damit von keiner Seite Zugluft komme. Auch der Fußboden ist mit Filz belegt, »der Wärme und des weichen Gehens wegen«. Die Kachelöfen sind tüchtig geheizt. Es riecht nach Rosenwasser und Weihrauch, den man des Duftes wegen in die Ofenröhren legt. Das durch die Glimmerscheiben dringende Tageslicht erscheint gelb wie Bernstein. In allen Ecken brennen Lämpchen vor Heiligenbildern, Aljoscha fühlt sich matt, aber es ist ihm so gemütlich und ruhig zumute. Er ist wie von einem ewigen Schlummer umfangen und kann gar nicht aufwachen. Im Halbschlummer lauscht er den eintönigen Belehrungen darüber, wie »man sein Haus im Einklang mit den göttlichen Gesetzen einrichten soll: alles muß ordentlich verwahrt, geputzt, ausgefegt und vor jeder Verunreinigung geschützt sein, damit nichts faulig oder schimmelig werde; daß alles immer gut verschlossen sei, dem Guten zur Ehre, dem Bösen zur Warnung, damit nichts gestohlen oder vergeudet werde«; daß man alle Tuchreste sorgfältig aufheben müsse, wie man einen Fisch in Bastmatten einwickele, wie man eingemachte Reizker und Pfefferschwämme in Fässern verwahre und wie man mit heißer Inbrunst an die heilige unteilbare Dreieinigkeit glaube. Er schlummert unter den traurigen Klängen der Leier, zu denen blinde Rhapsoden uralte Heldengesänge singen; auch wenn hundertjährige Märchenerzähler, die schon seinen Großvater, den sanftesten Zaren Alexej Michailowitsch belustigt haben, ihre Märchen erzählen; er schlummert und träumt im Wachen, wenn Wallfahrer und Bettelmönche vom Berge Athos berichten, der so spitz wie ein Tannenzapfen sei und auf dessen Gipfel über den Wolken die allerheiligste Muttergottes stehe, mit dem Saume ihres Gewandes den Berg beschattend; von Simeon, dem Styliten, der, auf der Säule stehend, seinen Leib verfaulen lasse, so daß er von Würmern wimmele; vom Orte, wo das irdische Paradies gestanden hatte, den der Nowgoroder Seefahrer Moislaw von seinem Schiffe gesehen habe; und von jedem Wunder Gottes und jedem Blendwerk des Teufels. Wenn sich aber Aljoscha zu langweilen anfängt, läßt Großmutter alle Narren und Närrinnen, Besessene, Waisenkinder, Kalmückinnen und Mohrinnen kommen, die vor ihm tanzen, sich herumbalgen, sich auf dem Boden wälzen, raufen und einander blutig kratzen. Oder die Alte nimmt ihn zu sich auf den Schoß, zählt ihm die Finger vom Daumen bis zum kleinen Finger ab und spricht dabei den Vers: »Die Elster, die Diebin, kochte mal Grütze, sprang auf die Schwelle, ließ Gäste laden: der erste, der kriegt was; der zweite, der kriegt was; der dritte, der kriegt was; der vierte, der kriegt was; der fünfte kriegt nichts!« Die Großmutter kitzelt ihn, und er lacht und wehrt sich. Sie füttert ihn mit Kuchen, Fladen und Pasteten mit Beeren und Zwiebeln, mit Nußöl, Mohnöl und Butter, mit eingemachten Birnen und Feigen.

»Iß nur, Aljoschenka, laß dir's gut bekommen, mein Herzenskind!«

Und wenn Aljoscha Leibschmerzen hat, so erscheint eine alte Frau, die die kleinen Kinder durch Besprechen und mit Kräutern von allen Krankheiten und auch von Fallsucht heilt: sie setzt Schröpfköpfe und bespricht mit Donnerkeilen und Bärenklauen, »wodurch den Kranken Erleichterung kommt«, wenn er nur einmal niest oder hüstelt, gibt man ihm gleich Himbeertee zu trinken, reibt ihn mit Kampferspiritus ein oder setzt ihn in ein heißes Bad mit Eibischkraut.

Nur an den heißesten Tagen führt man ihn in den Roten Garten am Abhange des Kremlhügels spazieren. Dieser hängende Garten ist eine Fortsetzung der Turmgemächer, hier ist alles künstlich: Treibhausblumen in Kästen, winzige Teiche in Holzbassins, abgerichtete Vögel in Käfigen. Er blickt auf das sich zu seinen Füßen ausbreitende Moskau, auf die Straßen, in denen er noch niemals gewesen war, auf die Dächer, Türme, Glockentürme, auf den jenseits der Moskwa gelegenen Stadtteil, auf die in der Ferne blauenden Sperlingsberge und auf die flüchtigen goldigen Wolken. Und es ist ihm so langweilig, er möchte aus seinen Turmgemächern und aus diesem Garten, der wie ein Spielzeug ist, in einen wirklichen Wald fortlaufen, aufs Feld, zum Fluß, in die rätselhafte Ferne; er will weglaufen, wegfliegen, und er beneidet die Schwalben. Es ist so heiß, so schwül. Die Treibhausblumen und Heilkräuter – Majoran, Thymian, Quendel, Rainfarn und Ysop – duften süßlich und betäubend. Eine dunkelblaue Wolke kommt über den Himmel gekrochen, plötzlich ist alles im Schatten, ein kühler Hauch zieht durch die Luft, und es beginnt zu regnen. Er hält Gesicht und Hände dem Regen entgegen und fängt gierig die kalten Tropfen auf. Aber die Wärterinnen und Ammen suchen ihn schon überall und rufen:

Aljoschenjka! Aljoschenjka! Geh doch nach Haus, Kind! Sonst machst du dir die Füßchen naß!«

Aber Aljoscha hört nicht auf sie und versteckt sich hinter dem Hagebuttenstrauch. Hier duftet es nach Minze, Dill und feuchter Gartenerde; das nasse Grün ist ungewöhnlich grell und dunkel, die gefüllten Pfingstrosen leuchten wie Flammen. Der letzte Strahl schießt durch die Regenwolke, und die Sonne fließt mit dem Regen zu einem einzigen goldenen zitternden Netz zusammen. Seine Füße und seine Kleider sind bereits naß. Er sieht mit Freude, wie die schweren Regentropfen in die Pfützen fallen und diamantenen Staub erzeugen; er hüpft, tanzt, klatscht mit den Händen und singt, im Rauschen des Regens, das am schallenden Gewölbe des Wasserturms widerhallt, ein lustiges Liedchen:

Hör schon auf, du Regenguß,
Ich will gehn zum Jordanfluß,
Um vor den Herrn zu treten,
Den Heiland anzubeten.

Plötzlich zerreißt die Regenwolke gerade über seinem Kopfe: ein blendender Blitz zuckt auf, ein Donnerschlag erschallt, und ein Wirbelwind beginnt sich zu drehen. Er ist vor Freude und Schreck erstarrt, wie damals, auf den Schultern des Vaters bei der Siegesfeier von Asow. Er erinnert sich an den lustigen Knaben mit dem lockigen Haar und den lebhaften Augen und fühlt, daß er ihn ebenso liebt wie diesen schrecklichen Blitz. Es schwindelt ihm, ihm stockt der Atem. Er fällt auf die Knie, hebt seine Arme zum schwarzen Himmel empor, von der Furcht und zugleich vom Wunsche erfüllt, daß wieder ein Blitz aufleuchte, aber noch drohender, noch blendender.

Schon fassen ihn aber zitternde, alte Hände; sie tragen ihn fort, ziehen ihn aus, legen ihn ins Bett, reiben ihn mit Kampferspiritus ein, geben ihm Schnaps, lassen ihn Lindenblütentee trinken, bis er in Schweiß gebadet ist, und wickeln ihn in unzählige Decken. Und er schlummert wieder ein. Er träumt vom Fabeltiere Aspid, das in den Steingebirgen haust, das Gesicht einer Jungfrau, den Stachel einer Schlange und die Füße eines Basilisken hat, mit denen es Eisen zersägen kann; man fängt es mit den Tönen einer Posaune, die das Tier nicht vertragen kann; wenn es sie hört, durchbohrt es sich die Ohren und stirbt, sein blaues Blut auf die Steine vergießend. Er träumt auch vom Paradiesvogel Sirin, der Zarenlieder singt und im Morgenlande, im Garten Eden wohnt; er verkündet den Gerechten die Freude, die ihnen der Herr versprochen hat; kein Mensch, der im Fleische lebt, kann seine Stimme hören, und wenn er sie hört, so ist er bezaubert und geht dem Vogel, seinem Gesange lauschend, so lange nach, bis er stirbt. Und es scheint Aljoscha, als ob auch er dem singenden Sirin nachginge, seinem süßen Gesang lausche, in ewigen Schlaf versinke und sterbe.

Plötzlich ist es ihm, als ob ein Sturmwind ins Zimmer gedrungen wäre, alle Türen und Vorhänge aufgerissen, die Bettdecke heruntergezogen und Aljoscha mit kaltem Hauche angeweht hätte. Er schlägt die Augen auf und erblickt das Gesicht des Vaters. Aber er erschrickt nicht und staunt nicht; es ist ihm, als ob er ihn erwartet hätte. Während ihm noch der paradiesische Gesang des Sirin in den Ohren tönt, streckt er mit zärtlichem, verschlafenem Lächeln seine Hände dem Vater entgegen und ruft: »Vater! Vater! Lieber Vater!« Er springt auf und fällt dem Vater an die Brust. Der Vater umarmt ihn so fest, daß es fast weh tut, drückt ihn an sich, bedeckt sein Gesicht, seinen Hals, seine nackten Beinchen und seinen unter dem Nachthemde noch warmen, verschlafenen kleinen Körper mit Küssen. Der Vater hat ihm von jenseits des Meeres ein wunderbares Spielzeug mitgebracht: einen Kasten aus Holz, in dem sich unter Glas drei wächserne deutsche Frauen und ein Kind befinden; hinter ihnen ist ein kleiner Spiegel und unten am Kasten ein beinerner Griff angebracht; wenn man diesen Griff dreht, so beginnen die beiden Frauen mit dem Kinde zu den Tönen einer Musik zu tanzen. Das Spielzeug gefällt Aljoscha. Er hat es aber kaum eines Blickes gewürdigt; er kann den Blick nicht von seinem Vater wenden, er kann sich an ihm gar nicht satt sehen. Sein Gesicht ist magerer geworden und eingefallen; er sieht männlicher aus, scheint noch größer geworden zu sein. Und doch kommt es Aljoscha vor, als ob er, trotz seiner Größe, noch immer der frühere lustige Knabe mit den lockigen Haaren und den lebhaften Augen wäre. Er riecht nach Schnaps und frischer Luft.

»Dem Vater ist ja ein Schnurrbart gewachsen. So klein ist er noch! Kaum zu sehen . . .«

Neugierig berührt er mit seinem kleinen Finger die Oberlippe des Vaters mit dem weichen, dunklen Flaum.

»Und am Kinne ist ein Grübchen. Ganz wie bei der Großmutter!«

Und er küßt das Grübchen.

»Warum hat der Vater an den Händen Schwielen?«

»Das kommt vom Beil, Aljoschenjka: jenseits des Meeres habe ich Schiffe gebaut, warte nur, wenn du groß bist, nehme ich dich einmal mit. Willst du übers Meer?«

»Ich will, wohin der Vater geht, da will ich auch hin. Ich will immer bei dem Vater sein . . .«

»Tut dir denn die Großmutter nicht leid?«

Aljoscha sieht plötzlich in der halbgeöffneten Türe das erschrockene Gesicht der Alten und das furchtbar bleiche, fast leblose Gesicht seiner Mutter. Beide Frauen betrachten ihn von ferne und wagen nicht, näher zu kommen; sie bekreuzigen ihn und bekreuzigen sich selbst.

»Ja, die Großmutter tut mir leid!« sagt Aljoscha und staunt selbst darüber, warum ihn der Vater nicht auch nach der Mutter fragt.

»Wen liebst du mehr, mich oder die Großmutter?«

Aljoscha schweigt. Er weiß nicht, was er antworten soll, plötzlich schmiegt er sich noch fester an den Vater heran, zittert am ganzen Leibe und flüstert ihm ins Ohr, wie vor Scham und Zärtlichkeit ersterbend:

»Ich liebe den Vater, ich liebe ihn mehr als alle!«

Und plötzlich ist alles verschwunden: die Turmgemächer, die Daunenbetten, die Mutter, die Großmutter und alle Wärterinnen. Es ist ihm, als ob er in ein schwarzes Loch gestürzt, oder wie ein Vogeljunges aus dem Neste auf die hartgefrorene, rauhe Erde gefallen wäre.

Ein großes kaltes Zimmer mit kahlen, grauen Wänden und eisernen Gittern vor den Fenstern. Er schläft nicht mehr, will aber immer schlafen und kann sich nicht ausschlafen, denn man weckt ihn zu früh. Durch den Nebel, der ihm die Augen beißt, sieht er lange Kasernen, gelbe Zeughäuser, gestreifte Schilderhäuschen, Erdwälle mit Kanonen und Pyramiden von Kanonenkugeln; er sieht das mit grauem schmelzenden Schnee bedeckte Ssokolnikifeld bei Moskau unter einem grauen Himmel mit nassen Krähen und Dohlen. Er hört Trommelwirbel und Exerzierkommandos: »Ins Gewehr! schultert die Muskete! Präsentiert das Gewehr! Rechts um, kehrt!« Er hört das trockene Geknatter des Gewehrfeuers und wieder Trommelwirbel.

Bei ihm ist seine Tante, die Zarewna Natalja Alexejewna, eine alte Jungfer mit gelbem Gesicht, knochigen Fingern, die schmerzhaft kneifen, und bösen stechenden Augen, die ihn so ansehen, als ob sie ihn auffressen wollten: »Du grindiger junger Hund, Awdotjas Brut! . . .«

Erst viel später erfuhr er, was eigentlich geschehen war. Als der Zar aus Holland zurückgekehrt war, verbannte er seine Gemahlin, die Zarin Awdotja, ins Susdaler Kloster, wo sie gewaltsam unter dem Namen Helene eingekleidet wurde; den Sohn nahm er aber aus den Turmgemächern des Kremls zu sich in das neue Lustschloß im Dorfe Preobrashenskoje. Neben dem Schlosse befanden sich die Folterkammern der Geheimen Kanzlei, wo die Untersuchung über den Strelitzenaufstand geführt wurde. Tagtäglich brannten dort mehr als dreißig Scheiterhaufen, auf denen die Aufrührer gefoltert wurden.

Er weiß selbst nicht mehr, ob er das, was ihm jetzt einfiel, im Traume oder im Wachen gesehen hatte. Er schleicht nachts am Zaune mit den nach oben zugespitzten Balken vorbei, der den Gefängnishof umgibt. Er hört ein Stöhnen und Röcheln. Durch eine Spalte zwischen den Balken dringt ein Lichtschein. Er blickt durch den Spalt hinein und sieht eine Hölle.

Das Feuer brennt,
Das Wasser kocht,
Man wetzt das Messer,
Um dich zu schlachten . . .

Man röstet Menschen bei lebendigem Leibe; man hebt sie auf die Wippe und zieht sie auseinander, so daß die Gelenke knacken; man bricht ihnen mit rotglühenden eisernen Zangen die Rippen; »man putzt die Nägel«, indem man mit glühenden Nadeln unter sie sticht. Unter den Henkern steht auch der Zar selbst. Sein Gesicht ist so schrecklich, daß Aljoscha den Vater gar nicht erkennt; er ist es und ist es nicht; es ist wohl sein Doppelgänger, ein Werwolf. Er foltert eigenhändig einen der Hauptaufwiegler. Dieser läßt alles über sich ergehen und schweigt. Sein Körper gleicht schon dem blutigen Rumpf eines geschlachteten Tieres, dem die Metzger die Haut abgezogen haben. Er schweigt aber immer und blickt dem Zaren unverwandt in die Augen, als ob er ihn verhöhnen wollte.

Der Sterbende hebt plötzlich den Kopf und spuckt dem Zaren ins Gesicht:

»Da hast du, du Hundesohn, du Antichrist! . . .«

Peter zieht seinen Dolch aus der Scheide und bohrt ihn dem Unglücklichen in die Kehle. Der Blutstrom spritzt dem Zaren ins Gesicht.

Aljoscha fällt in Ohnmacht. Am Morgen fanden ihn die Soldaten am Zaune, am Rande des Grabens. Lange Zeit lag er nachher bewußtlos auf seinem Lager.

Als er kaum genesen war, mußte er auf Geheiß des Vaters der feierlichen Einweihung des Lefortschen Palastes, der dem Gotte Bacchus geweiht wurde, beiwohnen. Aljoscha trägt einen neumodischen deutschen Rock, dessen Falten mit Draht versteift sind, und eine riesige Perücke, die ihm den Kopf drückt. Die Tante trägt einen üppigen Reifrock. Sie befinden sich beide in einem eigenen Zimmer neben dem Saale, in dem das Trinkgelage stattfindet. Taftvorhänge, die letzten Reste der früheren Hofsitte, verbergen sie vor den Blicken der Gäste. Aljoscha kann aber alles sehen: die Mitglieder des Allertrunkensten Konzils, die statt heiliger Gefäße Weinkrüge und Flaschen mit Met und Bier in den Händen haben; statt des Evangeliums eine Buchattrappe, die Fläschchen mit Schnäpsen aller Sorten enthält; in den Kohlenbecken brennt statt Weihrauch Tabak. Der Oberpriester, Fürst-Papst, in einem Narrengewande, das dem Patriarchenornat nachgebildet und mit aufgenähten Würfeln und Karten geschmückt ist, mit einer, mit einem nackten Bacchus gekrönten blechernen Patriarchenkrone auf dem Kopfe und einem mit einer nackten Venus verzierten Hirtenstab in der Hand – segnet die Gäste mit einem Kreuz, das aus Pfeifenrohren zusammengesetzt ist. Nun beginnt das Trinkgelage. Die Narren beschimpfen die alten Bojaren, sie schlagen sie, spucken ihnen ins Gesicht, begießen sie mit Schnaps, zerren sie an den Haaren, schneiden ihnen gewaltsam die Bärte ab und reißen die Barthaare mit Hautfetzen und Blut heraus. Das Trinkgelage wird zu einer Tortur. Aljoscha glaubt, alles in einem Fiebertraume zu sehen. Und wieder kann er seinen Vater nicht erkennen: es ist sein Doppelgänger, ein Werwolf.

»Der purpurstrahlende Großfürst, Zarewitsch Alexej Petrowitsch, lernt jetzt das Gebetbuch lesen, nachdem er die Lehre mit dem Uranfang aller Buchstaben, dem Alpha, begonnen und in kurzer Zeit darauf das ganze Alphabet und die Zusammensetzung der Buchstaben und der Silben erfaßt hat,« meldete dem Zaren sein »niedrigster Sklave«, Nikischka Wjasemskij, der Erzieher des Zarewitsch. Er unterrichtete Aljoscha nach dem alten Sittenspiegel »Domostroj«, »wie man mit Heiligtümern umgehen müsse; wundertätige Ikonen und heilbringende Reliquien sind mit größter Vorsicht zu küssen, wobei man mit den Lippen nicht schmatzen darf; auch soll man dabei den Atem anhalten, denn übler Geruch ist dem Herrn ein Greuel; die heilige Hostie soll man so behutsam genießen, daß kein Bröckchen davon auf die Erde fällt; man soll sie nicht wie anderes Brot mit den Zähnen zerbeißen, sondern kleine Stücke davon abbrechen, sie in den Mund legen und mit Glauben und Gottesfurcht verzehren«. Während Aljoscha diesen Belehrungen lauschte, mußte er daran denken, wie dieser selbe Nikischka neulich im Rausche, während der Einweihung des Lefortschen Palais vor der schamlosen Frau des Deutschen Monce mit dem Fürst-Papst und den übrigen Narren zu den Pfiffen des »Frühlings« und den Tönen des Trinkliedes:

Auf der Wiese des Popen, ach, ach!
verlor ich die Flöte, ach! ach!

einen ausgelassenen Tanz getanzt hatte.

Der gelehrte Deutsche, Baron Huyssen, legte dem Zaren den »Methodus instructionis« vor, eine Instruktion, nach der derjenige, der mit der Erziehung seiner Hoheit des Zarewitsch betraut werden soll, zu handeln hat.

»In seinem Gemüte und Herzen die Liebe zu den Tugenden zu pflanzen und zu stärken; ebenso sich darum zu bemühen, daß ihm Abscheu und Ekel vor allem, was vor Gott als Sünde gilt, eingeflößt werde und daß die schweren Folgen der bösen Handlungen gründlich dargelegt und mit Beispielen aus der Heiligen Schrift und der weltlichen Geschichte bezeugt werden. Ihn in der französischen Sprache zu unterrichten, die auf keine andere Weise besser erlernt werden kann, als durch täglichen Gebrauch. Ihm illuminierte geographische Karten zu zeigen. Ihn allmählich an den Gebrauch des Zirkels zu gewöhnen und ihm den hohen Wert und den Nutzen der Geometrie klarzumachen. Ihn in den Anfangsgründen der militärischen Exerzitien, des Sturmlaufens, der Tanzkunst und der Reitkunst zu unterrichten. Ihn einen guten russischen Stil zu lehren. An allen Posttagen die französischen Zeitungen und den ›Historischen Merkur‹ mit ihm zu lesen und im Zusammenhange mit dieser Lektüre politische und moralische Fragen zu erörtern. Den ›Telemaque‹ zur Belehrung seiner Hoheit als einen Spiegel und eine Regel für seine zukünftige Regierung unablässig zu lesen. Damit ihn aber das ständige Lernen und Arbeiten nicht abschrecke, mit ihm in mäßigem Umfange das Spiel Ducktafel zu spielen. Alle diese Arbeiten sind innerhalb zweier Jahre bequem zu erledigen; dann soll der Zarewitsch ohne Versäumnis beginnen, sich in den Wissenschaften zu vervollkommnen, damit er gründliche Kenntnisse von allen Dingen erhalte: von allen politischen Angelegenheiten in der Welt; vom wirklichen Werte dieses Staates; von allen notwendigen Künsten, wie der Fortifikation, Artillerie, bürgerlichen Architektur, Navigation und dergleichen, zur Freude seiner Majestät und zum unsterblichen Ruhme seiner Hoheit.«

Zur Ausführung dieses Planes wählte man den ersten besten Deutschen, einen gewissen Martin Martinowitsch Neubauer. Er unterrichtete Aljoscha in den Regeln »der europäischen Komplimente und Höflichkeiten« nach dem Büchlein »Der wahrhafte Jugendspiegel«.

»Die Kinder müssen vor allen Dingen den Vater in Ehren halten. Und wenn ihnen die Eltern irgendeinen Auftrag erteilen, müssen sie mit dem Hute in der Hand nicht neben ihnen, sondern einige Schritte zurück an der Seite stehen, wie ein Page oder ein Diener, wenn sie jemand begegnen, müssen sie ihn grüßen und drei Schritte vor ihm höflichst den Hut ziehen. Denn es ist besser, wenn man von jemandem sagt: ›Er ist ein höflicher und bescheidener Kavalier und ein gewandter Bursche‹, als wenn man sagt: ›Er ist ein hochmütiger Tölpel.‹ Sie sollen sich niemals an einen Tisch oder eine Bank oder einen anderen Gegenstand anlehnen, was nur Bauernburschen geziemt, die sich in der Sonne wälzen. Junge Leute dürfen weder mit der Nase schnarchen noch mit den Augen blinzeln. Es ist höchst widerwärtig, wenn sich jemand so laut schnäuzt, daß es wie eine Posaune klingt, oder laut niest und damit die andern Leute und die kleinen Kinder in der Kirche erschreckt, schneide dir deine Nägel, damit sie nicht wie mit Samt besetzt aussehen. Sitze am Tische anständig und gerade, stochere nicht mit dem Messer in den Zähnen, sondern tue es mit einem Zahnstocher, wobei du dir die Hand vor den Mund halten sollst, während des Essens schmatze nicht wie ein Schwein und kratze dir nicht den Kopf, denn das tun nur Bauern. Junge Leute sollen miteinander nur in fremden Sprachen sprechen, damit sie sich an den Gebrauch derselben gewöhnen und damit man sie von unwissenden Tölpeln unterscheiden kann.«

So sang dem Zarewitsch ins eine Ohr der Deutsche; ins andere flüsterte ihm aber der Russe: »Spucke nicht, Aljoschenjka, nach rechts, denn zu deiner Rechten steht der Schutzengel; spucke nach links, dort steht der Teufel. Ziehe, mein Kind, nicht den linken Schuh vor dem rechten an: das ist eine Sünde. Wenn du dir die Nägel schneidest, so sammle die Schnitzel und verwahre sie in einem Papier, damit du einst Nägel hast, um auf den Berg Zion ins Himmelreich hinaufzuklettern.« Der Deutsche spottete immer über den Russen, und der Russe über den Deutschen; und Aljoscha wußte nicht, wem er trauen sollte. »Der hochmütige Student, der Kleinbürgerssohn aus Danzig« haßte Rußland. »Was ist das für eine Sprache?« pflegte er zu sagen. »In dieser Sprache ist eine Rhetorik oder Grammatik undenkbar. Die russischen Popen können selbst nicht erklären, was sie in der Kirche lesen. Die ganze Unbildung und Unwissenheit der Russen kommt von ihrer Sprache!« Er war meist betrunken und schimpfte im Rausche noch mehr:

»Ihr wißt nichts, ihr seid alle Barbaren! Hunde! Hundsfotte!«

Die Russen nannten den Deutschen »Martin, der Affe« und meldeten dem Zaren, daß er, statt den Zarewitsch zu unterrichten, ihm ein böses Beispiel gebe und ihm Abscheu vor den Wissenschaften und dem Umgang mit den Ausländern einflöße. Aljoscha hielt aber seine beiden Erzieher, den Russen wie den Deutschen, für gleiche Sklavenseelen.

Martin Martinowitsch setzte ihm zuweilen im Laufe des Tages so zu, daß Aljoscha ihn nachts im Traume als einen gelehrten Affen sah, der nach allen Regeln der »europäischen Komplimente und Höflichkeiten« vor dem Wahrhaften Jugendspiegel Fratzen schnitt. Ringsherum standen wie auf den Wandmalereien in der Goldenen Kammer alte Moskauer Zaren, Patriarchen und Bischöfe mit strengen Gesichtern. Der Affe Martin lachte aber über sie und schimpfte: »Hunde! Hundsfotte, ihr wißt alle nichts, ihr seid alle Barbaren!« Aljoscha glaubte, eine Ähnlichkeit dieser Affenschnauze mit dem im Krampfe verzerrten Gesicht des Werwolfs und des Doppelgängers seines Vaters, des Zaren, zu sehen. Eine zottige Pfote streckte sich Aljoscha entgegen, packte ihn bei der Hand und schleppte ihn mit sich fort.

Nun stürzt er wieder, diesmal ans äußerste Ende der Welt, an ein flaches Meeresufer mit faulenden Sümpfen, aus denen hier und da moosbewachsene Erdhügel ragen, mit einer blassen, toten Sonne an einem niedrigen, gleichsam unterirdischen Himmel. Hier ist alles neblig und gespenstisch. Und auch er selbst kommt sich wie ein Gespenst vor, als ob er längst gestorben und ins Reich der Schatten hinabgestiegen wäre.

Mit dreizehn Jahren wird der Zarewitsch als Rekrut in die Bombardierkompagnie eingeschrieben und mit in den Feldzug gegen Nöteborg genommen. Von Nöteborg nach Ladoga, von Ladoga nach Jamburg, nach Kaporje, nach Narwa, überallhin schleppt man den Knaben im Train hinter dem Heere mit, um ihn an die militärischen Exerzitien zu gewöhnen. Er ist noch fast ein Kind, muß aber zugleich mit den Erwachsenen die Gefahren, Entbehrungen, Kälte, Hunger und ungeheure Anstrengungen ertragen. Er sieht Blut und Schmutz, alle Schrecken und Widerwärtigkeiten des Krieges. Er sieht zuweilen den Vater, aber nur selten und aus der Ferne. Und sooft er ihn sieht, erstickt sein Herz in wahnsinniger Hoffnung: gleich wird der Vater auf ihn zugehen, oder ihn zu sich heranrufen und ihn liebkosen. Wenn ihm der Vater nur ein einziges Wort oder nur einen freundlichen Blick schenkte, würde Aljoscha aufleben und begreifen, was man von ihm wolle. Der Vater hat aber keine Zeit: bald hat er den Degen, bald die Feder, bald den Zirkel oder die Axt in der Hand. Er kämpft gegen die Schweden und rammt die ersten Pfähle ein, auf denen er die ersten Häuschen von Sankt Petersburg errichtet.

»Mein allergnädigster Herr Vater, ich bitte dich, meinen Herrn, um die Gnade, mich schriftlich über dein Wohlergehen benachrichtigen zu lassen, damit ich erfreut werde, wenn du bei Wohlsein bist, worüber zu hören mein sehnlichster Wunsch ist.

Dein Sohn Aljoscha,
der dich um deinen Segen bittet und dich grüßt.

Aus Petersburg, den 25. August 1703.«

Er schreibt seine Briefe unter dem Diktat des Lehrers und wagt kein einziges herzliches Wort, keine zärtliche Redewendung und keine Klage hinzuzufügen. Er wächst einsam, verwildert, eingeschüchtert auf wie ein Unkraut in einem Straßengraben oder am Zaune eines Regimentszeughauses.

Narwa ist im Sturme erobert worden. Der Zar feiert den Sieg und besichtigt unter Kanonendonner und Musik seine Regimenter. Der Zarewitsch steht vor der Front und sieht aus der Ferne, wie ihm ein junger Riese mit freudigem und zugleich drohendem Gesicht naht. Das ist er, er selbst, nicht der Doppelgänger, nicht der Werwolf, sondern sein echter lieber Vater von einst! Dem Knaben klopft das Herz, es erstirbt in wahnsinniger Hoffnung. Ihre Blicke sind sich begegnet, – Aljoscha ist es, als ob ihn ein Blitz geblendet hätte. Ach, wenn er zum Vater laufen, ihm um den Hals fallen, ihn umarmen und küssen und vor Freude weinen könnte!

Aber scharf und artikuliert wie Trommelwirbel erschallen Worte, die wie die Worte der Ukase und Paragraphen klingen:

»Sohn! Ich habe dich in den Feldzug mitgenommen, damit du siehst, daß ich keine Mühen und Gefahren scheue. Da ich aber nur ein Mensch bin und heute oder morgen sterben kann, sollst du dir merken, daß du wenig Freude erleben wirst, wenn du meinem Beispiele nicht folgst. Wenn es das allgemeine Wohl gilt, darfst du keine Mühen scheuen, wenn du aber auf meine Ratschläge nicht hörst und dich weigerst, nach meinen Wünschen zu handeln, so will ich dich nicht als meinen Sohn anerkennen und werde Gott bitten, daß er dich wie in diesem so auch in jenem Leben bestraft . . .«

Der Vater faßt Aljoscha mit zwei Fingern am Kinn und blickt ihm scharf in die Augen. Ein Schatten huscht über Peters Gesicht. Es ist ihm, als ob er seinen Sohn zum erstenmal sähe: ist dieser schwächliche Knabe mit den schmalen Schultern, der eingefallenen Brust, dem trotzigen und finsteren Blick wirklich sein einziger Sohn, der Erbe des Thrones, der Vollender aller seiner Arbeiten und Taten? Kann das stimmen? wie kommt diese elende Mißgeburt, dieses Dohlenjunge in das Adlernest? Wie konnte er einen solchen Sohn gebären?

Aljoscha schrumpft zusammen, als ob er den Gedanken seines Vaters erriete und sich einer ihm unbekannten, doch schweren Schuld bewußt wäre. Er fühlt solche Scham und solche Angst, daß er bereit ist, wie ein kleiner Knabe angesichts des ganzen Heeres in Tränen auszubrechen. Er beherrscht sich aber und stottert mit bebender Stimme die Begrüßung, die man ihn gelehrt hat:

»Allergnädigster Herr Vater! Ich bin noch zu jung und tue, was ich kann. Aber ich versichere Eure Majestät, daß ich gewillt bin, als gehorsamer Sohn nach meinen Kräften Euren Taten und Eurem Beispiele zu folgen. Gott erhalte Euch noch viele Jahre in ständigem Wohlbefinden, damit ich noch lange Freude an einem so berühmten Vater habe . . .«

Er zieht nach Anweisung des Martin Martinowitsch »auf angenehme Art, wie es einem bescheidenen Kavalier geziemt«, den Hut und spricht das deutsche »Kompliment«:

»Meines gnädigsten Papas gehorsamster Diener und Sohn.«

Und er kommt sich vor diesem Riesen, der so schön wie ein junger Gott ist, wie eine Mißgeburt, wie ein dummer Affe vor.

Der Vater streckte ihm die Hand entgegen. Er küßte sie. Tränen traten ihm in die Augen, und es schien ihm, als ob der Vater, als er die warmen Tränen auf seiner Hand spürte, sie angeekelt wieder fortzöge.

Während des feierlichen Einzuges des Heeres in Moskau anläßlich des Sieges von Narwa, am 17. Dezember 1704, marschierte der Zarewitsch in der Uniform des Preobrashenskij-Regiments als gemeiner Soldat mit in der Front. Es war grimmig kalt. Er war beinahe erfroren, während des üblichen Trinkgelages im Schlosse nach der Feier trank er, um sich zu erwärmen, zum erstenmal in seinem Leben ein Glas Schnaps aus und wurde sofort betrunken. Es schwindelte ihm, und es wurde ihm dunkel vor den Augen. In der Finsternis mit den sich schnell drehenden und miteinander verflechtenden mattgrünen und roten Kreisen konnte er nur das Gesicht des Vaters deutlich erkennen, das ihn mit verächtlichem Lächeln ansah. Aljoscha empfand einen Schmerz wie über eine unerträgliche Kränkung. Er stand schwankend auf, ging auf den Vater zu, blickte ihn finster wie ein gehetzter junger Wolf an, wollte etwas sagen, etwas tun, wurde aber plötzlich blaß, stieß einen schwachen Schrei aus, taumelte zurück und fiel wie tot dem Vater zu Füßen.


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