Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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Epilog.

Der kommende Christus.

I.

»Unser Glaube ist nicht der wahre, und es lohnt sich gar nicht, für ihn einzutreten. Oh, könnte ich doch den wahren Glauben finden, und wenn ich auch meinen Leib zerstückeln lassen müßte!«

An diese Worte eines frommen Pilgers, der jeden Glauben kennengelernt und keinen von ihnen angenommen hatte, mußte Tichon oft auf seinen endlosen Wanderungen denken.

Einmal im Spätherbst sagte ihm im Petschorskij-Kloster zu Nishnij-Nowgorod, wo er sich zum Ausruhen einige Zeit aufhielt und als Bücherabschreiber wirkte, einer der Mönche, P. Nikodim, mit dem er sich unter vier Augen über Glaubenssachen unterhielt:

»Ich weiß, was du suchst, mein Sohn. In Moskau leben kluge Menschen. Und sie besitzen das Wasser des Friedens. Wenn du von diesem Wasser trinkst, wirst du nie wieder Durst verspüren. Gehe zu diesen Leuten. Wenn sie dich dieser Gnade für würdig halten, so werden sie dir ein großes Geheimnis enthüllen . . .«

»Was für ein Geheimnis?« fragte Tichon mit Gier.

»Übereile dich nicht, mein Lieber,« entgegnete der Mönch streng und zugleich freundlich. »Wenn du dich übereilst, kannst du dich leicht lächerlich machen. Wenn du dieses Geheimnisses teilhaftig werden willst, so mußt du das Gelübde des Schweigens auf dich nehmen. Was du auch zu sehen und zu hören bekommst, sollst du für dich behalten. ›Denn ich werde das Geheimnis weder deinen Feinden verraten, noch dich mit dem Judaskusse küssen.‹ Verstehst du mich?«

»Ich verstehe dich, ehrwürdiger Vater. Stumm wie ein Toter will ich sein . . .«

»So ist es gut«, fuhr P. Nikodim fort. »Ich will dir ein Brieflein an den Kaufmann Parfen Paramonowitsch Saffiannikow mitgeben, der in Moskau mit Mehl handelt. Du wirst ihm meinen Gruß ausrichten und ein kleines Geschenk mitbringen, ein Fäßchen Schellbeeren aus Kershenetz. Wir sind alte Freunde und Gevattern. Er wird dich bei sich aufnehmen. Du bist geschickt im Rechnen, und er braucht gerade einen solchen Burschen in seinem Geschäft. Willst du dich gleich auf den Weg machen oder bis zum Frühjahr warten? Der Winter steht ja vor der Tür. Deine Kleidung ist schlecht, und du kannst leicht erfrieren!«

»Nein, Vater, ich will gleich hingehen!«

»Geh also mit Gott, mein Sohn!«

P. Nikodim gab Tichon seinen Segen auf den Weg und händigte ihm das versprochene Brieflein ein, das er ihm durchzulesen erlaubte.

»An meinen vielgeliebten Bruder in Christo Parfen Paramonowitsch – die Gnade Gottes sei mit dir! –

»Dies ist der Jüngling Tichon. Von trockenem Brote wird er nicht satt und will weiche Kuchen essen. Labe den Hungernden. Der Frieden und die Gnade Gottes sei mit euch allen.

Der demütige P. Nikodim.«

Sobald sich die Schlittenbahn eingestellt hatte, schloß sich Tichon einem Fischtransport an, der von Makarjew nach Moskau zog.

Die Mehlhandlung Saffiannikows befand sich an der Ecke der Dritten Miestschanskaja-Straße und des kleinen Ssucharew-Platzes.

Man nahm hier Tichon trotz des Briefes des P. Nikodim argwöhnisch auf. Um ihn zu prüfen, stellte man ihn zunächst als Gehilfen des Hausknechts zur Verrichtung ganz grober Arbeiten an. Als man aber sah, daß er ein nüchterner und fleißiger Bursche war und gut rechnete, versetzte man ihn in den Laden und betraute ihn mit der Buchführung.

Der Laden war wie jeder andere Laden. Man kaufte und verkaufte und sprach über Verluste und Gewinne. Nur ab und zu flüsterte man in den Winkeln.

Eines Tages stimmte der Lastträger Mitjka, ein einfältiger, plumper, über und über mit Mehlstaub bedeckter Riese, während er auf dem Rücken einen Sack Mehl schleppte, in Tichons Gegenwart ein seltsames Lied an:

Es geschah in unsrem heil'gen Russenland,
Hier in Moskau, das aus weißem Stein erbaut,
In der Dritten Straße, der Mjestschanskaja,
Daß zwei helle Sonnen sich begegneten,
Daß zwei liebe Gäste sich erfreueten.
Der erlauchte Iwan Timofejemitsch
Sprach zum Gaste Daniel Filippowitsch:
»Gott zum Gruße, Herr, denn du hast wohl getan,
Daß du mich in meinem Zarenschloß besuchst
Und von meinem Salz und meinem Brote ißt.
Und ich hör mit Freude zu, wenn du erzählst
von der letzten Zeit, deinem jüngsten Tag,
Deinem Strafgericht, das der Welt du bringst!«

»Mitja, Mitja, wer sind diese Daniel Filippowitsch und Iwan Timofejewitsch?« fragte Tichon.

Mitjka war von dieser Frage überrascht. Unter der Last eines riesengroßen Sackes zusammengekrümmt, blieb er stehen und glotzte Tichon erstaunt an:

»Kennst du denn den Herrn Zebaoth und Christus nicht?«

»Wie kommen denn der Herr Zebaoth und Christus auf die Dritte Miestschanskaia-Straße?« fragte Tichon mit noch größerem Erstaunen.

Mitjka hatte sich aber schon von seiner Überraschung erholt und brummte mürrisch, indem er seinen Sack weiterschleppte:

»Wenn du zu viel wissen wirst, so wirst du früh alt werden . . .«

Bald darauf bekam Mitjka Schmerzen im Kreuz; er hatte sich wohl beim Sacktragen überanstrengt. Nun lag er ganze Tage in seiner Kellerstube, ächzte und stöhnte. Tichon besuchte oft den Kranken, gab ihm Salbeischnaps zu trinken, rieb ihn mit Kampfergeist und andern Arzneien ein, die er sich von einem ihm bekannten deutschen Apotheker geben ließ, und schaffte ihn aus dem feuchten Keller zu sich in seine warme Kammer, die sich im zweiten Stock über dem Mehlspeicher befand. Mitjka hatte ein gutes Herz. Er gewann Tichon lieb und wurde in seinen Gesprächen etwas offener.

Aus diesen Gesprächen und den Liedern, die Mitjka in seiner Gegenwart sang, erfuhr Tichon, daß zu Beginn der Regierung des Zaren Alexej Michailowitsch, im Starodub'schen Bezirke des Murom'schen Landkreises, im Jegorjew'schen Kirchspiele in der Nähe der Dörfer Michailiza und Bobynino auf dem Berge Gorodino vor einer großen Menschenschar der Herr Zebaoth selbst mit allen seinen Engeln, Erzengeln, Cherubim und Seraphim in einem Feuerwagen herniedergefahren war. Die Engel flogen wieder in den Himmel, der Herr aber blieb auf Erden und zog in den reinen Leib des flüchtigen Soldaten Danilo Filippowitsch; den leibeigenen Bauern Iwan Timofejewitsch erklärte er aber für seinen eingeborenen Sohn Jesus Christus. Und dann zogen sie als Bettler durch die Lande.

Auf der Flucht vor Verfolgern litten sie Kälte und Hunger und hielten sich in einem Schweinestalle, in einer Aasgrube und in Strohschobern verborgen. Einmal hatte sie ein Bauernweib unter dem Boden ihres Viehstalles versteckt. Oben stand ein Kalb, das gerade Wasser ließ, und die Nässe drang durch den Boden hinunter. Als Danilo Filippowitsch die Nässe sah, sagte er zu Iwan Timofejewitsch: »Du wirst naß werden!« Jener antwortete aber: »Daß nur der Himmelszar nicht naß wird!«

Die letzten Jahre hatten sie in Moskau in der Dritten Mjestschanskaja-Straße in einem eigenen Hause gewohnt, das man »Zion« nannte. In diesem Haus waren sie gestorben und in Ruhm und Herrlichkeit in den Himmel gefahren.

Nach dem Tode des Iwan Timofejewitsch traten, ebenso wie schon vor ihm, viele andere Christusse auf, denn der Herr hält sich nirgends so gerne auf wie im keuschen Leibe des Menschen, wie es auch geschrieben steht: Ihr seid ein Tempel des lebendigen Gottes, wenn alles stirbt, läßt Gott einen neuen Christus zur Welt kommen. Christus hat in der einen Leibesgestalt seine Tat vollendet, und in andern Leibesgestalten beginnt er sie erst.

»Es gibt also viele Christusse?« fragte Tichon.

»Es gibt nur einen Geist, doch viele Leibesgestalten,« antwortete Mitjka.

»Gibt es auch jetzt welche?« fragte Tichon weiter, dem das Herz in der Wohnung des Geheimnisses stillestand.

Mitjka nickte schweigend mit dem Kopfe.

»Wo ist er?«

»Frage mich nicht. Ich darf es nicht sagen. Du wirst ihn schon selbst sehen, wenn du der Gnade würdig bist . . .«

Und Mitjka sagte kein Wort mehr.

»Denn ich werde das Geheimnis weder deinen Feinden verraten . . .« Diese Worte des P. Nikodim fielen jetzt Tichon wieder ein.

Einige Tage später saß er eines Abends im Laden hinter den Geschäftsbüchern.

Es war ein Sonnabend. Das Geschäft sollte schon geschlossen werden. Da kamen aber mehrere neue Wagen angefahren, und die Arbeiter begannen die Mehlsäcke abzuladen. Durch die Türe, die jeden Augenblick geöffnet wurde, drangen Dampfwolken, das Knirschen von Schritten im Schnee und das Geläute der Abendglocken herein. Die schneebedeckten Dächer der schwarzen Holzhäuser auf der Dritten Mjestschanskaja hoben sich vom heiteren, lila-goldigen Himmel ab und strahlten ein gleichmäßiges rosiges Licht aus. Im Laden war es dunkel; nur in seiner Tiefe, hinter dem Berg von Mehlsäcken, die sich bis zur Decke türmten, flackerte vor dem Heiligenbilde Nikolais des Wundertäters ein Lämpchen.

Parfen Paramonowitsch Saffiannikow, ein wohlbeleibter alter Mann mit weißem Bart und roter Nase, der dem »Großvater Frost« der Volksmärchen glich, und sein erster Gehilfe Jemeljan Retiwoj, ein etwas gebückter, rothaariger, kahlköpfiger Mann mit häßlichem, doch klugem Gesicht, das an eine Faunsmaske erinnerte, tranken heißen Thee und lauschten den Berichten Tichons über das Leben der Mönche in den Einsiedeleien hinter der Wolga.

»Wie glaubst du, Jemeljan Iwanowitsch, ist das Heil in den alten oder in den neuen Büchern zu suchen?« fragte Tichon.

»Es lebte einmal in Rußland ein Mann, den man Danilo Filippowitsch nannte,« sagte Jemeljan schmunzelnd. »Er las viele Bücher, las sie alle durch und konnte in ihnen keinen Nutzen finden. Darum tat er sie alle in einen Sack und warf sie in die Wolga. Weder in den alten noch in den neuen Büchern kann man sein Heil finden. Not tut nur das eine

Buch vom Golde,
Buch des Lebens,
Buch der Tiefe –
Der Heilige Geist!«

Die letzten Worte sang er in derselben Weise, in der Mitjka seine seltsamen Lieder zu singen pflegte.

»Wo ist denn jenes Buch?« fragte Tichon schüchtern, doch voller Gier.

»Schau nur hin!«

Er zeigte ihm durch die geöffnete Türe auf den Himmel.

»Hier hast du das Buch! Mit der Sonne wie mit einer goldenen Feder schreibt Gott selbst die Worte des ewigen Lebens hinein, wenn du es liest, werden sich vor dir alle Geheimnisse des Himmels und alle Geheimnisse der Erde auftun . . .«

Jemeljan blickte ihn durchdringend an, und vor diesem Blicke wurde es Tichon so unheimlich zumute, als ob er in ein durchsichtig-schwarzes, grundloses Wasser hineingeschaut hätte.

Jemeljan wechselte aber mit seinem Herrn einen schnellen Blick und hielt plötzlich inne.

»Man kann also weder in der alten noch in der neuen Kirche sein Seelenheil finden?« fragte Tichon hastig. Er fürchtete, daß Jemeljan sich nun ebenso in Schweigen hüllen würde wie neulich Mitjka.

»Was sind eure Kirchen?« sagte Jemeljan, verächtlich die Achseln zuckend. »Ameisennester, baufällige Synagogen, jüdische Trödelmärkte! Diebe haben das Holz zu ihnen gefällt, Ochsen haben es zur Baustätte gefahren. Die ganze göttliche Gnade ist bei euch zu Stein erstarrt. sie war früher Geist und Feuer und ist bei euch zu Edelstein und Gold auf euren Ikonen und auf den Ornaten eurer Popen geworden. Ganz ausgetrocknet ist das Wort Gottes, wurde zu altbackenem Brot, das man gar nicht zerkauen kann und an dem man sich die Zähne zerbricht.«

Er beugte sich zu Tichon und fuhr flüsternd fort:

»Es gibt eine wahre, neue, geheime Kirche, ein lichtes Haus, das aus Zypressen, Berberitzen und Anisholz gezimmert ist, ein wahrer Zionstempel! Dort ißt man kein altbackenes Brot, sondern heiße weiche Kuchen, die frisch aus dem Ofen kommen – lebendige Worte aus Prophetenmunde. Dort herrscht ein himmlisches, paradiesisches Leben, dort wird geistiger Trank getrunken, von dem die Kirche singt: ›Laßt uns den geistigen Trank trinken, die Quelle des ewigen Lebens aus dem Grabe des auferstandenen Heilands.‹«

»Ja, das ist ein Trank! Der Mensch berührt ihn nicht einmal mit den Lippen und lebt doch im Rausche dahin,« rief Parfen Paramonowitsch aus. Plötzlich hob er seinen Blick zur Decke und begann mit einer so hohen Fistelstimme, wie man sie bei ihm gar nicht vermutet hätte, zu singen:

Gott hat diesen Trank gebraut,
Und der Heil'ge Geist gemaischt.

Retiwoj und Jemeljan begannen mitzusingen, im Takt mit den Füßen zu stampfen und mit den Achseln zu zucken, als hätten sie Lust, einen Tanz zu beginnen. Alle drei bekamen plötzlich ganz trunkene Augen.

Gott hat diesen Trank gebraut
Und der Heil'ge Geist gemaischt.
Die erlauchte Gottesmutter
Füllte ihn in Krüge ein.
Engel haben ihn getragen,
Cherubim ihn ausgeschenkt . . .

Tichon kam es plötzlich vor, als hörte er das Stampfen unzähliger Füße und den Widerhall eines rasenden Tanzes; in diesem Liede lag etwas Trunkenes, Wildes, Schreckliches, daß der Atem stockte und man Lust bekam, ohne Ende zuzuhören.

Plötzlich verstummten aber alle ebenso unvermittelt, wie sie angefangen hatten.

Jemeljan vertiefte sich in die Rechnungsbücher. Mitjka hob den Mehlsack, den er vorhin fallen gelassen hatte, auf und schleppte ihn weiter. Parfen Paramonowitsch fuhr sich aber mit der Hand über das Gesicht, als ob er etwas wegwischte, stand auf, gähnte, reckte sich träge, bekreuzigte sich den Mund und sagte in seinem gewohnten Herrentone, wie er es jeden Abend zu sagen pflegte:

»Geht zum Abendessen, Burschen! Kohlsuppe und Grütze werden sonst kalt.«

Der Laden wurde wieder zu einem gewöhnlichen Laden, und alles war so, als ob nichts vorgefallen wäre.

Tichon kam wieder zur Besinnung, erhob sich wie die andern, wurde aber plötzlich wie von einer höheren Gewalt auf den Fußboden geworfen, kniete nieder, streckte, bleich und am ganzen Leibe zitternd, seine Arme aus und rief:

»Liebe Väterchen! Habt Erbarmen! Ich habe keine Kraft mehr, meine Seele verschmachtet und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn! Nehmt mich in die heilige Gemeinde auf, eröffnet mir euer großes Geheimnis!«

»Sieh mal an, wie schnell er ist!« sagte Jemeljan, indem er ihn mit seinem schlauen Lächeln anblickte. »Ein Märchen läßt sich wohl schnell erzählen, aber eine Sache nicht so schnell machen. Man muß zuerst Väterchen fragen, vielleicht wirst du auch der Gnade teilhaftig. Bis dahin iß den Kuchen mit Pflaumen, die Zunge aber halte im Zaume.«

Und alle begaben sich zum Abendessen, als ob nichts vorgefallen wäre.

Weder an diesem noch am folgenden Tage wurde von irgendwelchen Geheimnissen gesprochen, wenn Tichon selbst die Rede darauf brachte, schwiegen alle und sahen ihn argwöhnisch an. Es war ihm, als ob vor seinen Augen ein Vorhang in die Höhe gegangen und dann gleich wieder herabgefallen wäre. Aber er konnte das, was er erschaut hatte, nicht wieder vergessen.

Er war in größter Aufregung, irrte wie geistesabwesend umher, begriff nichts von dem, was man ihm sagte, gab unzutreffende Antworten und brachte die Rechnungen durcheinander. Sein Herr schalt ihn, und Tichon fürchtete, daß er ihn aus dem Geschäft hinausjagen würde.

Aber am Sonnabend nach acht Tagen, als er spät abends allein in seinem Kämmerchen saß, trat Mitjka ein.

»Komm, wir fahren!« erklärte er hastig und freudig.

»Wohin?«

»Zum Väterchen zu Gast.«

Tichon wagte nicht, weitere Fragen zu stellen, kleidete sich schnell an, ging hinunter und sah draußen vor dem Hause den Schlitten seines Herrn warten. Im Schlitten saßen Semeljan und Parfen Paramonowitsch, der in seinen Pelz gehüllt war. Tichon kauerte sich zu ihren Füßen nieder, Mitjka setzte sich auf den Bock, und sie sausten durch die nächtlichen, leeren Straßen dahin. Die Nacht war still und hell. Der Mond leuchtete durch einen Schleier von leichten Wölkchen, die wie Perlmutterschuppen schimmerten. Sie fuhren über das Eis der Moskwa auf das andere Ufer hinüber und kreisten lange Zeit in den engen Gassen des jenseits des Flusses gelegenen Stadtteiles umher. Im Mondnebel tauchten endlich inmitten eines Schneefeldes die rötlichen Mauern des Donskoi-Klosters mit den weißen Zinnen und Türmen auf.

An der Ecke der Donskaja- und der Schabelskaja-Straße stiegen sie aus dem Schlitten. Mitjka fuhr in einen Hof, ließ dort den Schlitten mit den Pferden stehen und kehrte zurück. Nun gingen sie zu Fuß längs der langen, schiefen, von Schnee verwehten Bretterzäune weiter. Dann bogen sie in eine Sackgasse ein, wo sie bis über die Kniee im Schnee versanken. Vor einem zweiflügeligen Brettertor mit eisernen Beschlägen blieben sie stehen und klopften an. Man öffnete nicht sogleich, sondern befragte sie zuerst, wer sie seien und woher sie kämen. Hinter dem Tore lag ein großer Hof mit vielen Wirtschaftsgebäuden. Aber außer dem alten Torhüter war ringsum keine Seele zu sehen und kein Feuer und kein Hundegebell wahrzunehmen, als ob alles ausgestorben wäre. Sie durchquerten den Hof und gelangten auf einen schmalen, gut ausgetretenen Pfad, der zwischen riesigen Schneehaufen durch leere Bauplätze oder schneeverwehte Gemüsegärten führte. Nachdem sie ein zweites Tor, das aber nicht verschlossen war, durchschritten hatten, traten sie in einen Obstgarten, wo die Apfel- und Kirschbäume im Schnee wie im Frühjahrsblütenschmuck schimmerten. Es war so still, als befände man sich Tausende von Werst von jeder menschlichen Behausung entfernt. Am Ende des Gartens erhob sich ein großes hölzernes Haus. Sie traten vor den Flur und klopften wieder an, und man rief sie von innen an. Ein mürrischer Bursche, der in seinem langschößigen Kaftan und mit der Mönchskappe auf dem Kopfe einem Klosterdiener ähnlich sah, machte ihnen auf. Im geräumigen Vorzimmer hingen an den Wänden und lagen auf den Koffern und Bänken viele Männer- und Frauenüberkleider umher, einfache Schafspelze, vornehme Pelzmäntel, altmodische russische Mützen, neue deutsche Dreimaster und Mönchskappen.

Als die Neuankömmlinge ihre Pelze abgelegt hatten, fragte Retiwoj Tichon dreimal:

»Willst du, mein Sohn, des göttlichen Geheimnisses teilhaftig werden?«

Und Tichon antwortete ihm dreimal:

»Ich will es.«

Jemeljan verband ihm die Augen mit einem Tuche und führte ihn an der Hand weiter.

Lange gingen sie durch endlose Korridore und stiegen Treppen bald hinauf und bald hinunter.

Endlich blieben sie stehen. Jemeljan befahl Tichon, sich völlig zu entkleiden und zog ihm ein langes Leinenhemd und zwirnene Strümpfe, doch keine Schuhe, an, wobei er die Worte der Offenbarung sprach:

»Wer überwindet, dem sollen weiße Kleider angelegt werden.«

Dann gingen sie weiter. Die letzte Treppe war so steil, daß Tichon sich mit beiden Händen an den Schultern Mitjkas, der vor ihm ging, festhalten mußte, um nicht, blind wie er war, herabzustürzen.

Ein feuchter Erdgeruch schlug ihnen wie aus einem Keller entgegen. Die letzte Türe wurde aufgemacht, und sie traten in ein stark überheiztes Zimmer, in dem, nach dem Geflüster der Stimmen und dem Klange der Schritte zu schließen, viele Menschen anwesend waren. Jemeljan befahl Tichon niederzuknieen, sich dreimal bis zur Erde zu verneigen und die Worte nachzusprechen, die er ihm ins Ohr flüsterte:

»Ich schwöre bei meiner Seele, bei Gott und seinem Jüngsten Gericht, die Knute, Feuer, Beil, Richtblock, jede Qual und jeden Tod zu erleiden, mich aber vom heiligen Glauben niemals loszusagen und das, was ich hier sehe oder höre, keinem Menschen, weder meinem leiblichen noch meinem geistlichen Vater zu eröffnen. ›Denn ich werde das Geheimnis weder deinen Feinden verraten, noch dich mit dem Judaskusse küssen.‹ Amen.«

Als er geendet hatte, setzte man ihn auf eine Bank und nahm ihm die Binde von den Augen.

Er sah ein großes niedriges Zimmer; in einer Ecke hingen Heiligenbilder; vor ihnen brannten zahllose Kerzen; der weiße Kalkbewurf der Wände war mit vielen dunklen Flecken bedeckt, die von Feuchtigkeit herrührten; hie und da lief an den Wänden Wasser herab, das durch die Ritzen zwischen den schwarzen geteerten Deckenbalken hindurchsickerte. Es war so schwül wie in einem Dampfbade. Die Luft war mit Dampf geschwängert, der die Kerzenflammen mit einem regenbogenfarbigen Nebel umgab. Auf den Bänken längs der Wände saßen an der einen Seite die Männer, und an der andern Seite die Frauen, alle in gleichen langen, weißen Hemden, die sie offenbar auf den nackten Leib angezogen hatten, und in zwirnenen Strümpfen ohne Schuhe.

»Die Zarin! Die Zarin!« ging plötzlich ein andächtiges Gemurmel von Mund zu Munde.

Die Türe ging auf, und eine schlanke Frau im schwarzen Kleide mit einem weißen Tuche auf dem Kopf trat ein. Alle erhoben sich und begrüßten sie mit einer tiefen Verbeugung.

»Akulina Makejewna, das Mütterchen, die Himmelskönigin!« flüsterte Mitjka Tichon zu.

Die Frau ging zu den Heiligenbildern und setzte sich, selbst wie ein Heiligenbild unter ihnen. Alle gingen der Reihe nach auf sie zu, verneigten sich vor ihr bis zur Erde und küßten ihr das Knie wie ein Heiligenbild.

Jemeljan führte ihr Tichon zu und sagte:

»Geruhe ihn zu taufen, Mütterchen! Es ist ein Neuer . . .«

Tichon kniete nieder und blickte zu ihr empor: sie hatte eine gelbliche Gesichtsfarbe, war nicht mehr jung – etwa vierzig –, hatte feine Runzeln um die dunklen, wie mit Kohle gezeichneten Augenlider, dichte, beinahe zusammengewachsene Augenbrauen und einen dunklen Flaum an der Oberlippe. Wie eine Zigeunerin oder Tscherkessin sieht sie aus, dachte er sich. Erst als sie ihn mit ihren großen mattschwarzen Augen ansah, begriff er, wie schön sie war.

Mütterchen bekreuzigte ihn dreimal mit einer Kerze, wobei die Flamme beinahe seine Stirne, Brust und Schultern berührte.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes wird der Knecht Gottes, Tichon, mit dem heiligen Geiste und dem Feuer getauft!«

Dann schlug sie mit einer leichten und schnellen Bewegung, die ihr offenbar längst zur Gewohnheit geworden war, ihr Kleid vorne auseinander, und er erblickte ihren ganzen wunderbaren, jugendlichen, goldig gelblichen, wie aus Elfenbein gedrechselten Körper, der an den eines siebzehnjährigen Mädchens gemahnte.

Retiwoj stieß Tichon von hinten auf sie zu und flüsterte ihm ins Ohr:

»Küsse sie auf den heiligen Leib und auf die keuschen Brüste!«

Tichon schlug verlegen die Augen nieder.

»Fürchte dich nicht, mein Kind!« sagte Akulina mit zärtlicher Stimme, die in seinen Ohren wie die Stimme einer Mutter, Schwester und Geliebten zugleich klang.

Und er erinnerte sich, wie er einst im Waldesdickicht am Runden See die Erde geküßt, zum Himmel emporgeschaut und gefühlt hatte, daß der Himmel und die Erde eins seien; wie er geweint und gebetet hatte:

Herrliche Königin, Muttergottes,
Erde, Erde, feuchte Mutter!

Und er küßte dreimal mit Andacht wie ein Heiligenbild diesen herrlichen Leib. Ein Duft, vor dem es ihm graute, wehte ihm entgegen; ein seltsames Lächeln umspielte ihre Lippen, – und vor diesem Duft und diesem Lächeln wurde es ihm ganz unheimlich zumute.

Aber sie schloß ihr Kleid und saß vor ihm wieder majestätisch, unnahbar, heilig, wie eine Ikone unter Ikonen.

Als Tichon und Jemeljan auf ihre früheren Plätze zurückgekehrt waren, stimmten alle langsam und gedehnt, wie man in der Kirche singt, das Lied an:

Gib uns, Herr, den Jesus Christus,
Gib uns, Herr, den Gattessohn,
Und den Heiligen Geist, den Tröster!

Man hielt einen Augenblick inne; dann begann man ein neues Lied, aber mit einer lustigen, schnellen Melodie, die beinahe wie eine Tanzweise klang. Man schlug mit Füßen und Händen den Takt, und alle Augen waren plötzlich wie trunken:

Bei uns am Don in jeder Klause
Ist Herr Heiland selbst zu Hause,
Mit den Engeln,
Den Erzengeln,
Den Cherubim,
Den Seraphim
Und allen himmlischen Mächten . . .

Plötzlich sprang ein alter Mann von ehrwürdigem, strengem Aussehen, mit dem man auf den Ikonen den heiligen Sergius darzustellen pflegte, von der Bank auf, lief in die Mitte der Stube und begann, sich im Kreise zu drehen.

Ein etwa vierzehnjähriges Mädchen, fast noch ein Kind, aber bereits schwanger, schmal wie ein Schilfrohr, mit einem Halse so schlank wie ein Blütenstiel, sprang gleichfalls auf und glitt im Tanze dahin wie ein Schwan.

»Es ist Marjuschka die Närrin«, sagte Jemeljan zu Tichon, auf sie weisend. »Sie ist stumm, kann nicht sprechen, sondern nur wie ein Kalb muhen, wenn aber der Geist über sie kommt, singt sie wie eine Nachtigall!«

Das Mädchen begann mit ihrer silberhellen Kinderstimme:

Nun ist es genug zu trauern,
Vöglein, fliegt aus euren Bauern,
steigt empor auf euren Flügeln
Aus den Kerkern hinter Riegeln!

Und sie schwang die Ärmel ihres Hemdes wie weiße Fittiche.

Parfen Paramonowitsch sprang von der Bank, wie wenn ihn ein Wirbelwind fortgerissen hätte, lief auf Marjuschka zu, faßte sie bei den Händen und begann, mit ihr zu tanzen wie ein Eisbär mit einem Schneewittchen. Tichon hätte es nie für möglich gehalten, daß dieser mächtige Körper mit einer solchen luftigen Leichtigkeit tanzen könne. Indem er sich wie ein Kreisel drehte, sang er mit seiner feinen Fistelstimme:

Auf dem siebten Himmel tanzt
Jesus Christus, tanzt und singt!
Er hat Saffianstiefel an,
Schön gestickt und reich verziert!

Immer neue Menschen erhoben sich und begannen zu kreisen.

Nicht schlechter als die andern tanzte ein Mann mit einem Stelzfuß; es war, wie Tichon später erfuhr, der verabschiedete Hauptmann Smurygin, der bei der Erstürmung von Asow verwundet worden war.

Eine kleine rundliche Tante mit ehrwürdigen grauen Locken, die Fürstin Thowanskaja drehte sich wie eine Kugel. Neben ihr hüpfte der langaufgeschossene Schuhmachermeister Jaschka Burdajew. Er schnitt Grimassen, krümmte sich und warf Arme und Beine hoch empor wie eine riesige Mücke. Er schrie dabei:

Und wir tanzen, und wir hüpfen
Auf den heil'gen Zionsberg!

Nun tanzten schon fast alle, nicht mehr einzeln und in Paaren, sondern auch reihenweise als »Wand«, »Winkelchen«, »Kreuzchen«, »Davidsschiff«, »Blüten und Länder«.

»Durch diese verschiedenen Figuren«, erklärte Jemeljan dem Tichon, »werden die himmlischen Tänze der Engel und Erzengel, die den Thron Gottes umschweben, dargestellt, und durch das Schwingen der Arme das Schlagen der Engelflügel. Himmel und Erde sind eins, was oben im Himmel ist, das ist auch unten auf der Erde.«

Der Tanz wurde immer rasender. Die Stube war wie von einem Wirbelwind erfüllt, und es schien, als ob die Menschen nicht von selbst tanzten, sondern von irgend einer fremden Gewalt ergriffen wären, die sie mit solcher Geschwindigkeit kreisen ließ, daß man die Gesichter nicht mehr unterscheiden konnte, daß die Haare zu Berge standen, die Hemden sich zu Röhren aufblähten und der Mensch sich in eine drehende weiße Säule verwandelte.

Während des Drehens pfiffen und zischten die einen, schnatterten und schrieen die andern, und es schien, als schrien sie nicht selbst, sondern als stieße jemand anderer für sie die Töne aus:

Er kommt herabgerollt, er kommt herabgerollt,
Der heilige Geist, der Geist,
Geist, komme über uns!

Und sie fielen in Krämpfen und mit Schaum vor dem Munde wie Besessene zu Boden und »redeten mit Zungen«, allerdings zum größten Teil so, daß man nichts verstehen konnte. Andere blieben erschöpft mit krebsroten oder auch leichenblassen Gesichtern stehen; Schweiß rann an ihnen in Strömen herunter; sie wischten ihn sich mit Handtüchern aus den Gesichtern und rangen ihre ganz durchnäßten Hemden aus, so daß sich auf dem Fußboden Lachen bildeten; dieses Schwitzbad nannten sie das »Bad der Wiedergeburt«. Doch kaum hatten sie etwas Atem geschöpft, als sie sich wieder in den Tanz stürzten.

Plötzlich standen alle still und fielen auf ihre Angesichter nieder. Eine Totenstille trat ein, und wie vorhin beim Eintritt der Zarin lief ein andächtiges Flüstern von Mund zu Mund:

»Der Zar! Der Zar!«

Es war ein Mann von etwa dreißig Jahren, in langem weißem Gewand aus einem halbdurchsichtigen Stoffe, durch den der Körper hindurchschimmerte, mit frauenhaftem Gesicht, das ebenso unrussisch aussah wie das der Akulina Makejewna, doch von einer noch ungewöhnlicheren und fremdartigeren Anmut war.

»Wer ist es?« fragte Tichon Mitjka, der neben ihm lag.

»Unser Väterchen Christus!« antwortete dieser.

Wie Tichon später erfuhr, war es der flüchtige Kosak Awerianka Bespalyj, der Sohn eines Saporoger Kosaken und einer gefangenen Griechin.

Väterchen näherte sich dem Mütterchen, das sich vor ihm ehrerbietig erhoben hatte, umarmte sie und küßte sie dreimal auf den Mund.

Dann trat er in die Mitte der Stube und bestieg ein kleines rundes Bretterpodium, das einem Deckel glich, mit dem man eine Brunnenöffnung zudeckt.

Alle begannen laut und feierlich zu singen:

Große Wunder haben wir gesehen,
Hat der siebte Himmel sich eröffnet,
Rollten goldne Räder auf uns nieder,
viele rote, goldne Feuerräder.
Und der Heil'ge Geist rollt auf uns nieder,
Sitzt auf einem prächt'gen weißen Rosse.
Und sein Roß hat einen Schweif von Golde,
Aus den Nüstern dringt ein blendend Feuer,
Und aus Perlen ist sein Augenpaar.

Er kommt herabgerollt, er kommt herabgerollt,
Der heilige, heilige Geist!

Väterchen segnete seine Kinderchen, und das Kreisen begann wieder, doch noch viel rasender als vorhin, zwischen den beiden unbeweglichen Grenzpunkten – dem Mütterchen am äußersten Rande und dem Väterchen im Zentrum der sich drehenden Kreise. Väterchen erhob ab und zu langsam seine Arme, und nach jeder seiner Bewegungen wurde der Tanz noch rasender. Es klangen unmenschliche Schreie:

»Eva-evo! Eva-evo!«

Tichon erinnerte sich, in einem alten lateinischen Kommentar zu Pausanias gelesen zu haben, daß die alten Bacchanten und Bacchantinnen den Gott Dionysos mit fast gleichen Rufen »Evoe!« zu begrüßen pflegten. Durch welches Wunder waren die Mysterien des verstorbenen Gottes von den Gipfeln von Kythere hierher in den Keller der Moskauer Vorstadt gedrungen, gleichsam mit den unterirdischen Gewässern hindurchgesickert?

Er blickte auf den weißen Wirbelwind der Tanzenden und verlor zeitweise das Bewußtsein. Die Zeit war stehen geblieben. Alles war verschwunden. Alle Farben waren in ein Weiß zusammengeflossen, und es schien, als ob weiße Vögel in einen weißen Abgrund flögen. Alles war in ein Nichts versunken, und auch er selbst war nicht mehr. Es war nur ein weißer Abgrund, ein weißer Tod.

Er kam wieder zu sich, als Jemeljan ihn bei der Hand nahm und sagte:

»Gehen wir!«

Obwohl das Tageslicht in den Keller nicht eindrang, fühlte Tichon, daß der Morgen schon angebrochen war. Die heruntergebrannten Kerzen qualmten. Die Luft war dumpf und unerträglich stickig. Die Schweißpfützen am Boden wurden mit Lumpen abgewischt. Die Andachtsübung war zu Ende. Der Zar und die Zarin hatten sich zurückgezogen. Die einen suchten schwankend und sich an den Wänden entlangtastend den Ausgang zu erreichen, andere krochen wie schläfrige Fliegen zur Türe. Andere waren zu Boden gefallen und schliefen einen Schlaf, der wie eine Ohnmacht war. Andere saßen mit gesenkten Köpfen auf den Bänken, und ihre Gesichter drückten Übelkeit wie nach einem Zechgelage aus. Es war, als ob die weißen Vögel zur Erde gestürzt wären und sich zu Tode geschlagen hätten.

Von diesem Tage an besuchte Tichon alle Versammlungen. Mtjka lehrte ihn tanzen. Anfangs schämte er sich, aber bald gewöhnte er sich daran und fand solchen Geschmack am Tanze, daß er ohne ihn gar nicht leben konnte.

Bei diesen Versammlungen wurden ihm immer neue und neue Geheimnisse offenbar.

Zuweilen schien es ihm aber, als ob man das wichtigste und schrecklichste Geheimnis vor ihm noch immer verbärge. Aus allem, was er sah und hörte, konnte er schließen, daß die Brüder und die Schwestern in fleischlicher Gemeinschaft miteinander lebten.

»Wie geschlechtslose Cherubim leben wir in feuriger Keuschheit«, sagten sie. »Es ist nicht Hurerei, wenn Bruder und Schwester sich in christlicher Liebe zusammentun; aber es ist Hurerei und Sünde, wenn man in kirchlicher Ehe zusammenlebt. Mann und Frau sind ein Satan, verfluchte Nesthocker, und ihre Kinder – Bastarde, unsaubere junge Hunde!«

Die Frauen setzten ihre Kinder, die von außerhalb der heiligen Gemeinschaft stehenden Gatten gezeugt waren, in den öffentlichen Badestuben aus oder töteten sie mit eigenen Händen.

Eines Tages erzählte Mitjka in seiner Herzenseinfalt Tichon, daß er mit zwei leiblichen Schwestern, Nonnen aus dem Nowodewitschij-Kloster zusammenlebe, und Jemeljan Iwanowitsch, der Prophet und Lehrer, mit dreizehn Frauen und Mädchen.

»Mit jeder, die zu ihm in die Beichte kommt, hat er fleischlichen Verkehr!«

Tichon war nach diesem Geständnis Mitjkas so verwirrt, daß er mehrere Tage nachher dem Retiwoj aus dem Wege ging und nicht wagte, ihm in die Augen zu blicken.

Dieser bemerkte seine Befangenheit und sagte ihm einmal unter vier Augen mit freundlicher Stimme:

»Höre, Kind, ich will dir ein großes Geheimnis offenbaren! Wenn du dein Leben behalten willst, so töte um des Herrn willen nicht nur dein Fleisch ab, sondern auch deine Seele, deine Vernunft und selbst dein Gewissen. Entledige dich aller Gesetze und Vorschriften, aller Tugenden, Fasten, der Enthaltsamkeit und der Keuschheit. Entledige dich der Heiligkeit selbst. Steige in dich selbst hinab wie in ein Grab. Dann wirst du, geheimnisvoller Toter, auferstehen, und der heilige Geist wird in dich fahren, und du wirst ihn nicht mehr verlieren, wie du auch leben und was du auch tun magst!«

Das häßliche Gesicht Retiwoj's, die Faunsmaske, leuchtete so frech und so listig, daß es Tichon unheimlich zumute wurde: er konnte sich nicht mit Gewißheit sagen, ob er einen Propheten oder einen Besessenen vor sich habe.

»Oder nimmst du Ärgernis daran,« fuhr jener noch freundlicher fort, »daß wir, wie die Leute sagen, Hurerei treiben? Wir wissen wohl, daß viele unserer Taten nicht mit euren menschlichen Tugendsatzungen übereinstimmen, was sollen wir aber tun? Wir haben ja keinen eigenen Willen. Der Geist wirkt in uns, und die Rasereien unseres Lebens sind unerforschliche Wege der göttlichen Vorsehung, von mir kann ich folgendes sagen: wenn ich mit Mädchen oder Frauen verkehre, empfinde ich keine Gewissensbisse, aber in meinem Herzen siedet eine unaussprechliche Wonne und Süße. Und selbst wenn ein Engel vom Himmel herniedersteigt und zu mir sagt: ›Du lebst nicht ordentlich, Jemeljan!‹ – so werde ich auch auf den Engel nicht hören. Mein Gott hat mich gerechtfertigt, und wer seid ihr, die ihr mich richten wollt? Meine Sünde kennt ihr wohl, aber von der Gnade, die Gott mir erwiesen hat, wißt ihr nichts. Ihr werdet sagen: ›Tue Buße!‹ Und ich werde erwidern, daß ich gar nicht weiß, was ich büßen soll. Wenn man ans Ziel gekommen ist, braucht man nicht mehr das, was man hinter sich gelassen hat. Was brauchen wir eure Tugend? Wenn man uns in die Hölle wirft, so werden wir auch dort unser Seelenheil retten; und wenn man uns in das Paradies führt, so werden wir auch dort keine größeren Wonnen finden, wir versinken im Strudel des Geistes wie ein Stein im Meere. Doch vor den Außenstehenden müssen wir uns verbergen. Aus diesem Grunde benehmen wir uns manchmal närrisch, damit man uns nicht ganz durchschaut . . . Ja, so ist es, mein Lieber!«

Jemeljan blickte mit zweideutigem Lächeln Tichon in die Augen, auf den die Worte des Lehrers die gleiche Wirkung hatten, wie der Wirbel des Tanzes: es war ihm, als ob er flöge, und er wußte nicht, ob aufwärts oder abwärts, ob zu Gott oder zum Teufel.

Mütterchen verteilte einmal am Ende einer Andachtsversammlung in der Palmwoche unter den Anwesenden Bündel Weidenruten und »heilige Geißeln«, zu Stricken zusammengewundene Handtücher.

Die Brüder ließen ihre Hemden bis zu den Hüften herab, die Schwestern rückwärts gleichfalls bis zu den Hüften und vorne bis an die Brüste, und alle begannen im Kreise herumzugehen und sich mit den Ruten und Handtüchern zu geißeln. Die einen sangen dabei:

Männer und Weiber,
Schonet nicht die Leiber!
Dienet eurem Gotte, –
Maria geht vor Martha!

Das Singen der andern klang wie leises Pfeifen:

Ich geißle, ich geißle
Und suche Jesum Christum!

Man schlug sich auch mit Lappen, in deren Enden eiserne Kugeln eingewickelt waren und die Schleudern glichen; man verwundete sich mit Messern, so daß Blut floß, und rief, indem man zum Väterchen emporschaute:

»Eva – evo! Eva – evo!«

Tichon schlug sich mit einem zusammengedrehten Handtuch, und unter den zärtlichsten Blicken Akulina Makejewnas, die, wie es ihm schien, nur ihn allein ansah, erschienen ihm die Schläge um so wonniger, je heftiger sie schmerzten, sein ganzer Körper verging vor Wonne wie Wachs im Feuer, und er war bereit, ganz zu zerschmelzen, vor dem Mütterchen restlos zu verbrennen wie eine Kerze vor einer Ikone.

Plötzlich begannen die Kerzen eine nach der andern, wie vom Wirbelwind des Tanzes ausgeblasen, zu verlöschen. Nun waren sie alle erloschen. Finsternis trat ein, und wie damals in der Kapelle der Selbstverbrenner, in der Nacht vor dem Roten Tode, schwirrten durch die Stube Geräusche und Flüstertöne, Liebesseufzer und Küsse. Die Leiber verflochten sich miteinander, und ein einziger riesengroßer Leib mit vielen Gliedern schien sich im Finstern zu regen. Ein paar gieriger, fest anpackender Hände streckte sich nach Tichon aus, ergriff ihn und warf ihn zu Boden.

»Tischenjka, Tischenjka, mein lieber Bräutigam, mein herzliebster Christus!« flüsterte eine leidenschaftliche Stimme, und er erkannte das Mütterchen.

Es schien ihm, als ob viele riesenhafte Insekten, Spinnenmännchen und Spinnenweibchen sich zu einem Knäuel zusammengeballt hätten und einander in ungeheuerlicher Wollust auffräßen.

Er stieß das Mütterchen zurück, sprang auf und wollte weglaufen. Aber bei jedem Schritt trat er auf nackte Leiber, glitt auf ihnen aus, stolperte, fiel hin und erhob sich wieder. Und gierige Hände streckten sich nach ihm aus, suchten ihn zu erhaschen und liebkosten ihn auf die schamloseste Weise. Er wurde immer schwächer, und fühlte, daß er gleich ganz entkräftet in diesen schrecklichen gemeinsamen Leib wie in warmen, dunklen Schlamm fallen werde, daß das Unterste sich zum Obersten, und das Oberste zum Untersten wenden, und in diesem letzten Grauen auch die letzte Wollust liegen würde.

Er machte eine verzweifelte Anstrengung, erreichte die Türe, ergriff die Klinke, konnte aber nicht öffnen: die Türe war verschlossen. Er fiel ganz ermattet zu Boden. Hier lagen weniger Leiber als in der Mitte der Stube, und man ließ ihn für eine Weile in Ruhe.

Plötzlich berührten ihn magere, kleine, beinahe kindliche Hände. Er hörte das Lallen Marjuschkas der Närrin, die ihm etwas sagen wollte aber nicht konnte. Endlich verstand er die einzelnen Worte:

»Komm, komm . . . Ich führe dich hinaus . . .« stammelte sie, indem sie ihn an der Hand fortzog. Er hatte in ihrer Hand einen Schlüssel wahrgenommen und folgte ihr. An den Wänden entlang, wo es geräumiger war, führte sie ihn zu der Ecke mit den Heiligenbildern. Hier bückte sie sich, ließ auch Tichon sich niederbücken, lüftete eine vor dem Bilde des Herrn Immanuel herabhängende Goldbrokatdecke, fand tastend eine Türe, in der Art einer Kellerluke, schloß sie auf, glitt flink wie eine Eidechse in die Öffnung und half auch ihm hindurch. Durch einen unterirdischen Gang gelangten sie auf die Treppe, die Tichon schon kannte. Sie stiegen hinauf und kamen in die große Stube, die zum Umkleiden diente. Der Mond schien zum Fenster herein. An den Wänden hingen weiße Andachtshemden, die im Mondlichte wie Gespenster aussahen.

Als Tichon die frische Luft atmete und durchs Fenster den blauen, glitzernden Schnee und die Sterne sah, – kam über ihn eine solche Freude, daß er lange nicht zu sich kommen konnte und nur die hageren kindlichen Hände Marjuschkas drückte.

Jetzt erst merkte er, daß sie nicht mehr schwanger war, und es fiel ihm ein, daß Mitjka ihm neulich gesagt hatte, sie hätte einen Knaben geboren, den man zum Christus ausgerufen habe, da er vom Väterchen selbst »durch Ausgießung des heiligen Geistes« gezeugt worden sei: »er ist nicht vom Blut, nicht von fleischlicher Begierde und nicht von Manneswollust, sondern von Gott selbst geboren.«

Marjuschka zwang Tichon, sich auf eine Bank zu setzen, setzte sich selbst neben ihn und machte wieder die größten Anstrengungen, ihm etwas zu erzählen. Doch statt der Worte kam aus ihrem Munde nur ein Lallen und ein Muhen, aus dem er, so aufmerksam er auch hinhorchte, nichts begreifen konnte. Als sie endlich eingesehen hatte, daß er sie nicht verstehen konnte, verstummte sie und brach in Tränen aus. Er umarmte sie, schmiegte ihren Kopf an seine Brust und begann leise ihre weichen Haare zu streicheln, die im Mondscheine so hell wie Flachs schimmerten. Sie zitterte am ganzen Leibe, und es war ihm, als ob er in den Händen ein gefangenes Vöglein hielte.

Endlich richtete sie auf ihn ihre großen, feuchten Augen, die so dunkelblau waren, wie taubedeckte Kornblumen, lächelte unter Tränen, spitzte die Ohren, als ob sie lauschte, reckte ihren wie ein Blütenstengel schlanken Hals und begann Tichon plötzlich mit jener silberhellen Kinderstimme, mit der sie bei den Andachtsversammlungen zu singen pflegte, ins Ohr zu flüstern oder vielmehr zu singen. Sie stotterte nicht mehr, und ihre halb geflüsterten und halb gesungenen Worte waren ihm verständlich:

»Ach, Tischenjka, ach Tischenjka, rette mich vor dem Bösen! Sie werden meinen Iwanuschka töten!«

»Welchen Iwanuschka?«

»Mein Söhnchen, mein armes Knäblein . . .«

»Warum sollten sie ihn töten?« fragte Tichon zweifelnd, denn ihre Worte kamen ihm wie ein Delirium vor.

»Um sein lebendiges Blut als Abendmahl zu empfangen,« flüsterte Marjuschka, sich voller Grauen an ihn schmiegend. »Sie sagen, das Christkindlein, das makellose Lamm werde nur dazu geboren, um sich schlachten zu lassen und den Gläubigen als Speise zu dienen. Er sei kein lebendiges Kind, sondern ein Gesicht, eine heilige Ikone, unverwesliches Fleisch, das weder leiden, noch sterben könne . . . Sie lügen aber, die Verfluchten! Ich weiß es, Tischenjka: mein Knäblein ist lebendig! Und es ist kein Christkindlein, sondern mein Iwanuschka. Mein Liebster! Niemand werde ich ihn geben, will selbst zugrundegehen, ihn aber nicht weggeben . . . Tischenika, ach, Tischenjka, rette mich vor dem Bösen! . . .«

Ihre Rede wurde wieder unverständlich. Endlich verstummte sie, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und versank in Schlaf oder in Ohnmacht.

Der Morgen brach an. Hinter der Türe erklangen Schritte. Marjuschka fuhr zusammen und wollte weglaufen. Sie verabschiedeten sich, bekreuzigten einander, und Tichon versprach ihr, Iwanuschka zu schützen.

»Sie ist ja närrisch!« suchte er sich zu beruhigen. »Sie weiß selbst nicht, was sie spricht, sie hat sich wohl alles nur eingebildet! . . .«

Am Gründonnerstag sollte wieder eine Andachtsversammlung stattfinden. Tichon erriet aus unklaren Andeutungen, daß bei dieser Versammlung ein großes Sakrament vollzogen werden sollte; war es vielleicht das, wovon Marjuschka gesprochen hatte? – fragte er sich entsetzt. Er suchte sie überall, um sich mit ihr zu beraten, was zu tun sei, sie war aber verschwunden. Vielleicht hielt man sie mit Absicht verborgen. Ihn befiel eine seltsame Erstarrung, wie bei einem Alpdruck. Er konnte an das Kommende fast gar nicht denken, wenn er nicht wegen Marjuschka besorgt gewesen wäre, wäre er geflohen.

Am Gründonnerstag fuhr man wie immer um Mitternacht zur Versammlung.

Als Tichon in die Zions-Stube trat und die Anwesenden sah, kam es ihm vor, als ob alle in derselben Erstarrung waren wie er selbst. Als ob sie alles, was sie taten, nicht aus eigenem Willen täten.

Mütterchen war nicht anwesend.

Väterchen trat ein. Sein Gesicht war leichenblaß und ungewöhnlich schön. Es erinnerte Tichon an die Darstellung des Gottes Bacchus-Dionysos auf Kameen, die er in einer Antikensammlung gesehen hatte.

Die Andachtsübungen begannen. Noch nie hatte der weiße Strudel des Tanzes so rasend gekreist wie dieses Mal. Es war, als ob von Schreck getriebene weiße Vögel in einen weißen Abgrund sausten. Um keinen Verdacht zu erregen, tanzte Tichon mit. Doch er bemühte sich, der Verzückung des Tanzes zu widerstehen. Er trat ab und zu aus dem Reigen heraus, setzte sich, wie um auszuruhen, auf die Bank, beobachtete alle und dachte an Iwanuschka.

Manche fielen bereits in Verzückung und schrieen mit Stimmen, die nicht wie die ihrigen klangen: »Er rollt herab!«

Wie sehr auch Tichon dagegen ankämpfte, fühlte er doch, daß er schwach wurde und die Herrschaft über sich selbst verlor. Er hielt sich krampfhaft mit beiden Händen an der Bank, auf der er saß, fest, um nicht mitgerissen zu werden und nicht in dem sich immer rasender drehenden Wirbelwinde davonzufliegen, plötzlich schrie auch er mit ganz veränderter Stimme auf; es war über ihn gekommen, hatte ihn emporgehoben und in den Strudel gerissen.

Da ertönte der letzte wahnsinnige allgemeine Schrei:

»Eva – evo!«

Und plötzlich blieben alle stehen, fielen wie vom Blitze getroffen auf ihr Angesicht und bedeckten die Gesichter mit den Händen. Die weißen Hemden lagen auf dem Fußboden wie weiße Fittiche.

»Siehe, das ist das makellose Lamm, das in die Welt kommt, um erwürget zu werden und den Gläubigen als Speise zu dienen!« erklang in der Stille aus dem Keller die Stimme Mütterchens, so dumpf und geheimnisvoll, als ob es die Stimme der »feuchten Mutter Erde« wäre.

Die Zarin trat ein, mit einer silbernen Schüssel in Form eines kleinen Taufbeckens in den Händen, in der auf zusammengerollten weißen Tüchern ein nacktes Kindlein lag. Es schlief; man hatte ihm offenbar einen einschläfernden Trank eingegeben. Zahllose brennende Wachskerzen klebten an einem dünnen Holzreifen, der mit Speichen an den untern Rand des Beckens befestigt war, so daß die Flammen auf der Höhe des Beckenrandes brannten und das Kind mit grellem Licht übergossen. Es sah aus, als ob es im Innern einer Wasserrose mit brennender Krone läge.

Die Zarin hielt das Becken vor den Zaren hin und rief:

»Dir wird das Deine von den Deinen dargebracht, für Alle und für Alles!«

Der Zar bekreuzigte das Kind dreimal und sprach:

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.«

Dann nahm er das Kind auf die Arme und zückte über ihm das Messer.

Tichon lag wie die andern auf der Erde, das Gesicht mit den Händen bedeckt. Aber er schielte mit einem Auge durch die Finger und sah alles. Es schien ihm, als strahlte das nackte Kindlein wie die Sonne, als sei es nicht Iwanuschka, sondern das geheimnisvolle Lamm, das von dem ersten Tage der Schöpfung an zum Opfer dargebracht wird, und als gleiche das Gesicht dessen, der das Messer über ihm gezückt hatte, dem Antlitze Gottes. Und er wartete mit unaussprechlichem Grauen und wünschte mit unaussprechlicher Sehnsucht, daß das Messer in den weißen Leib dringen und das rote Blut emporspritzen möchte. Wenn alles vollbracht und das Oberste zum Untersten geworden sein würde, dann würde auch im letzten Grauen die letzte Wollust liegen.

Das Kind fing plötzlich zu weinen an. Väterchen lächelte, und das Antlitz Gottes verwandelte sich plötzlich in das Antlitz des Tieres.

»Tier, Teufel, Antichrist! . . .« ging es plötzlich Tichon durch den Kopf. Plötzlicher, schrecklicher, überirdischer Gram preßte sein Herz zusammen. Doch im gleichen Augenblick war es ihm, als ob er aus dem Schlafe erwachte. Er kam wieder zum Bewußtsein, sprang auf, stürzte sich auf Awerjanka Bespalyj, packte ihn am Arm und hielt den Stoß auf.

Alle sprangen auf, fielen über Tichon her und hätten ihn wohl in Stücke zerrissen, wenn nicht plötzlich an der Türe donnergleiche Schläge erschollen wären. Die Türe wurde von außen erbrochen. Beide Flügel erbebten, fielen zur Erde, und in die Stube stürzte Marjuschka, von Männern in grünen Röcken und Dreimastern, mit blanken Degen gefolgt. Die Soldaten erschienen Tichon als Engel Gottes.

Es wurde ihm finster vor den Augen. Er fühlte auf seiner Schulter einen schweren Druck; er hob die Hand und fühlte etwas Warmes und Klebriges: es war Blut; im Handgemenge hatte man ihn wohl mit einem Messer verletzt.

Er schloß die Augen und sah vor sich die roten Flammen der brennenden Kapelle, den Roten Tod. Weiße Vögel flatterten in den roten Flammen. Er dachte: »Der Weiße Tod ist schrecklicher als der Rote!« und verlor das Bewußtsein.


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