Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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III.

»Mein zeitliches Leben endet damit, daß ich vor Alter stumm, taub und blind werde. Daher bitte ich um die Gnade, mich vom Amte eines Beschließers der Kirchengewänder zu entbinden und mir zu gestatten, mich in ein Kloster zurückziehen zu dürfen . . .«

Der in seine Erinnerungen versunkene Zarewitsch hörte gar nicht das eintönige Summen des P. Iwan, der aus seiner Zelle gekommen war und sich wieder auf die Bank neben ihn gesetzt hatte.

»Ich möchte mein Häuschen und mein Hausgerät sowie auch die überflüssigen Kleider verkaufen und die beiden Waisen, die bei mir leben, meine Nichten, in irgendein Kloster tun. Und was ich noch an Heiratsgut habe, das möchte ich dem Kloster spenden, damit ich Sünder nicht umsonst das Klosterbrot esse und von mir wie von der Witwe im Evangelium zwei Scherflein angenommen werden. Dann möchte ich noch kurze Zeit ruhig und in Buße leben, bis ich nach dem Willen Gottes aus diesem Leben in das zukünftige genommen werde. Ich glaube, daß ich das Sterbealter erreicht habe, denn auch mein Vater ist in diesen Jahren gestorben . . .«

Der Zarewitsch kam zu sich – ihm war es, als ob er aus einem tiefen Schlaf erwachte, und er sah, daß die Nacht schon längst angebrochen war. Die weißen Türme der Kathedralen schimmerten in einem durchsichtigen Blau und glichen noch mehr riesigen Blüten, den Lilien des Paradieses. Die goldenen Kuppeln glänzten matt am schwarzblauen, sternübersäten Himmel. Die Milchstraße flimmerte ganz schwach. Und im Hauche der himmlischen Frische, der so gleichmäßig war wie der Atem eines Schlafenden, senkte sich auf die Erde eine unendliche Stille, das Vorgefühl des ewigen Schlafes, herab.

Und mit dieser Stille verschmolzen die leise rieselnden Worte des P. Iwan:

»Wenn man mir nur erlaubte, mich in ein Kloster zurückzuziehen, damit ich da in Ruhe lebe, bis ich aus diesem Leben in das zukünftige genommen werde . . .«

Er sprach noch lange, hielt inne, und sprach wieder; er ging einige Male fort, kam wieder und rief den Zarewitsch zum Abendessen. Aber dieser sah und hörte nichts. Er hatte seine Augen wieder geschlossen und war in Halbschlummer versunken, in den dunklen Abgrund zwischen Schlaf und Wachen, wo die Schatten der Vergangenheit wohnen, wieder zogen vor ihm Erinnerungen und Visionen vorbei, ein Bild nach dem andern, wie die Glieder einer langen Kette; und alles wurde von einem einzigen erschreckenden Bilde beherrscht, vom Bilde des Vaters, wie ein Wanderer, der nachts von einer Anhöhe herabblickt und im plötzlichen Aufzucken eines Blitzes den ganzen zurückgelegten Weg sieht, so sah auch er im schrecklichen Lichte dieses Bildes sein ganzes Leben . . .

Er ist schon siebzehn Jahre alt, steht also in dem Alter, wo man einst die Moskauer Zarensöhne zu »erklären« pflegte und die Leute aus fremden Ländern herbeiströmten, um einen neuerklärten Zarewitsch anzustaunen. Aljoscha hat aber schon eine beinahe unerträgliche Last zu tragen: er muß von Stadt zu Stadt reisen, Proviant für das Heer einkaufen, Holz für die Flotte fällen und flößen lassen, Festungen bauen, Bücher drucken, Geschütze gießen, Ukase verfassen, Regimenter anwerben und auf die sich dem Staatsdienste entziehenden Söhne von Adligen unter Androhung der Todesstrafe Jagd machen; er, der noch selbst ein Kind ist, muß die Exekution über ebensolche Kinder wie er »ohne Pardon« leiten, ein wachsames Auge haben, damit nichts gefälscht werde, und über alles dem Vater genauen Bericht erstatten, von den deutschen Deklinationen zum Bau von Bollwerken, von den Bollwerken zu Trinkgelagen, von den Trinkgelagen zu der Fahndung auf Deserteure, – von allen diesen Dingen schwindelt es ihm im Kopfe. Je größere Mühe er sich gibt, um so mehr wird von ihm verlangt. Er hat weder Ruhe noch Schonzeit. Er fürchtet, wie ein abgehetztes Pferd zu verenden. Und er weiß, daß alles vergeblich ist: »niemand kann den Vater zufriedenstellen.«

Zur gleichen Zeit lernt er wie ein Schuljunge. »Zwei Wochen lang werden wir ausschließlich die deutsche Sprache treiben, um uns die Deklination vollkommen anzueignen. Dann werden wir Französisch und Arithmetik lernen. Der Unterricht wird täglich erteilt.«

Schließlich wurde es ihm doch zu viel. Im Januar 1710, als er bei heftigem Frost fünf Regimenter, die er selbst angeworben hatte und die später an der Schlacht von Poltawa teilnahmen, aus Moskau zu seinem Vater nach der Stadt Ssumy in der Ukraine führte, erkältete er sich, lag mehrere Wochen bewußtlos danieder und war beinahe aufgegeben.

Er kam zu sich an einem sonnigen Vorfrühlingstage. Das ganze Zimmer ist voller schräger gelber Sonnenstrahlen. Draußen liegen noch Schneehaufen. Doch von den Eiszapfen tropft es schon. Die Frühlingswasser rauschen, und am Himmel klingt der Lerchensang so hell wie ein Glöckchen. Aljoscha sieht über sich das Gesicht des Vaters, der sich über ihn beugt; es ist das frühere, liebe Gesicht voller Zärtlichkeit.

»Mein Lieber, mein Sonnenlicht, fühlst du dich schon besser?«

Aljoscha ist noch zu schwach, um zu antworten; er lächelt dem Vater nur zu.

»Gott sei Dank! Gott sei Dank!« sagt der Vater, indem er sich andächtig bekreuzigt. »Der Herr hat dir seine Gnade erwiesen, er hat mein Gebet erhört. Nun wirst du sicher gesund werden!«

Der Zarewitsch erfuhr später, daß der Vater während der ganzen Zeit für keinen Augenblick von seinem Lager gewichen war, daß er alle seine Geschäfte vernachlässigt und auch fast alle Nächte durchwacht hatte. Als es Aljoscha schlechter ging, bestellte er Bittgottesdienste und leistete das Gelübde, dem heiligen Alexius, dem Manne Gottes, eine Kirche zu stiften.

Dann kamen die freudevollen, langsam dahinschleichenden Tage der Genesung, Aljoscha schien es, daß die Liebkosungen des Vaters ihn wie die Wärme und das Licht der Sonne heilten. Er lag tagelang in seliger Ermattung mit einem wonnevollen Gefühl von Schwäche am ganzen Körper unbeweglich da und konnte sich an dem einfachen, doch majestätischen Gesicht des Vaters, an seinen strahlenden, schrecklichen, lieben Augen und dem reizenden, etwas spöttischen Lächeln seiner feinen, frauenhaft geschwungenen Lippen gar nicht satt sehen. Der Vater wußte nicht, wie er Aljoscha seine Liebe beweisen, womit er ihm einen Gefallen tun könnte. Einmal schenkte er ihm eine Tabaksdose, die er eigenhändig aus Elfenbein geschnitzt hatte, mit der Inschrift: »Wenig, aber von Herzen.« Der Zarewitsch bewahrte die Dose lange Jahre auf, und sooft er sie ansah, durchbohrte etwas Scharfes, Brennendes, ein Gefühl wie grenzenloses Mitleid mit dem Vater sein Herz.

Ein andermal streichelte Peter dem Sohne zärtlich die Haare und sagte dabei verlegen und scheu, als ob er sich vor ihm entschuldigte:

»Wenn ich dir etwas gesagt oder getan habe, was dich kränkt, so mache dir deswegen, um Gottes willen, keinen Kummer, vergib mir, Aljoscha. Wenn man ein so schweres Leben hat, gerät man oft wegen der kleinsten Widerwärtigkeit in Zorn. Mein Leben ist aber wirklich schwer: ich habe niemanden, mit dem ich meine Gedanken teilen könnte. Keinen einzigen Helfer! . . .«

Aljoscha umschlang, wie er es oft als Kind getan hatte, den Hals des Vaters mit den Armen und flüsterte ihm, vor verschämter Zärtlichkeit bebend und ersterbend, ins Ohr:

»Mein liebes, teures Väterchen, ich liebe dich, ich liebe dich!«

Doch während er allmählich ins Leben zurückkehrte, entfernte sich der Vater ebenso allmählich wieder von ihm. Es war, als ob auf ihnen ein erbarmungsloser Fluch des Schicksals lastete: einander ewig nahe und zugleich fremd zu sein, einander heimlich zu lieben und offen zu hassen.

Und alles ging wieder seinen alten Gang: der Einkauf von Proviant, die Jagd nach den Deserteuren, das Gießen von Geschützen, das Fällen von Wäldern, das Bauen von Bollwerken, das Wandern von Stadt zu Stadt. Er muß wieder wie ein Galeerensklave arbeiten. Und der Vater ist immer unzufrieden und glaubt, daß sein Sohn nichts tue, seine Arbeiten vernachlässige und sich müßig herumtreibe. Manchmal möchte ihn Aljoscha an die Tage in Ssumy erinnern. Aber er bringt es nicht über seine Lippen.

»Zoon! Wir bestimmen, daß Ihr nach Dresden reisen sollt. Und wir befehlen Euch zugleich, während Eures dortigen Aufenthaltes ein anständiges Leben zu führen und sich mit dem größten Fleiß den Wissenschaften hinzugeben, und zwar den Sprachen, der Geometrie, der Fortifikation und zum Teil auch der Lehre von der Politik. Und wenn Du mit der Geometrie und Fortifikation fertig bist, so melde es uns.«

Im Auslande lebte er als ein von allen verlassener Verbannter. Der Vater hatte ihn wieder vergessen. Er erinnerte sich seiner nur, um ihn zu verheiraten. Die Braut, die Tochter des Herzogs von Wolfenbüttel, Charlotte, gefiel dem Zarewitsch nicht. Er wollte keine Ausländerin heiraten. »Eine Teufelin hat man mir angehängt!« schimpfte er, wenn er betrunken war.

Vor der Trauung mußte er schändlich um die Mitgift feilschen. Der Zar wollte den Deutschen auch keinen Groschen nachlassen.

Nachdem er mit der Frau ein halbes Jahr zusammengelebt hatte, mußte er sie verlassen und wieder auf die Wanderung gehen: von Stettin nach Mecklenburg, von Mecklenburg nach Abo, von Abo nach Nowgorod, von Nowgorod nach Ladoga; und wieder kam eine unendliche Müdigkeit und eine unendliche Furcht über ihn.

Diese Furcht wuchs vor jeder Begegnung mit dem Vater zu einem wahnsinnigen Grauen an. Sooft er sich der Türe des väterlichen Arbeitszimmers näherte, bekreuzigte er sich und flüsterte das Gebet: »Gedenke, Herr, des Königs David und seiner Milde!« Er wiederholte ganz ohne Verständnis die Sektionen in der Navigationslehre und konnte sich die barbarischen Worte wie Krupkammern, Balkwäger, Geigenblöcke, Ankerstöcke gar nicht merken; er betastete auf seiner Brust die ihm einst von seiner Kinderfrau geschenkte Kapsel mit besprochenem Gras, das in ein Stück Wachs geknetet war, und einem Zettel, auf dem eine uralte Beschwörungsformel zur Erweichung des Vaterherzens geschrieben stand:

»Am hohen Feiertag bin ich geboren, mit einer eisernen Mauer habe ich mich umgeben und bin vor mein Väterchen getreten. Da erzürnte mein Erzeuger, er brach mir die Knochen, kniff meinen Körper, trat mich mit den Füßen und trank mein Blut. Strahlende Sonne, helle Sterne, stilles Meer, gelbe Felder, – steht alle still. Ebenso still soll mein Vater sein zu allen Tagen, zu allen Stunden, in der Nacht und in der Mitternacht.«

»Die Festung ist gar nicht übel, mein Lieber, das muß ich schon sagen!« äußerte der Vater achselzuckend, eine Zeichnung betrachtend, die ihm der Sohn überreicht hatte. »Du hast wohl viel im Auslande gelernt?«

Aljoscha wurde nun ganz verwirrt und verlor die Fassung wie ein Schuljunge, der die Rute bekommen soll.

Um diese Tortur nicht über sich ergehen lassen zu müssen, stellte er sich krank und nahm Arzneien ein.

Das Grauen ging in Haß über.

Vor dem Pruth-Feldzug wurde der Zar gefährlich krank und glaubte schon sterben zu müssen. Als der Zarewitsch davon erfuhr, ging ihm zum erstenmal der Gedanke an den möglichen Tod seines Vaters durch den Kopf, und er spürte etwas wie Freude. Er erschrak vor dieser Freude, er verdrängte sie, konnte sie aber nicht vernichten. Sie lauerte irgendwo in der heimlichsten Tiefe seiner Seele wie ein Tier im Hinterhalte.

Einmal, während eines Trinkgelages, als der Zar seiner Gewohnheit gemäß die Betrunkenen gegeneinander aufhetzte, um aus ihrem Wortwechsel ihre geheimen Gedanken auszuspionieren, brachte der Zarewitsch, der auch betrunken war, die Rede auf die Staatsangelegenheiten und auf die Unterdrückung des Volkes.

Alle wurden still, selbst die Narren hörten auf zu schreien. Der Zar lauschte aufmerksam seinen Worten. Aljoscha stand vor Freude das Herz still: vielleicht wird ihn der Vater verstehen und auf seine Stimme hören?

»Schon genug geschwatzt!« unterbrach ihn plötzlich der Zar mit jenem Lächeln, das Aljoscha so gut kannte und so sehr haßte. »Ich seh, mein Lieber, daß du von politischen und bürgerlichen Dingen ebensoviel verstehst wie ein Bär vom Orgelspiel . . .«

Er wandte sich ab und gab den Narren ein Zeichen. Sie begannen wieder zu brüllen. Der betrunkene Fürst Menschikow fing mit anderen Würdenträgern zu tanzen an.

Der Zarewitsch sprach aber noch immer weiter und schrie mit hoher Stimme, die ihm oft versagte. Der Vater schenkte ihm aber keine Beachtung, stampfte mit den Füßen, klatschte in die Hände und pfiff und sang den Tanzenden zu:

Tary-bary-rastabary,
Frischer Schnee ist heut gefallen,
Hasen rennen, Hörner schallen,
Brenne, haue, stich!

Er hatte dabei den rohen Gesichtsausdruck eines Soldaten, den Gesichtsausdruck dessen, der einst geschrieben hatte: »Wir haben heute den Feind ordentlich traktiert; es sind nur wenige Säuglinge am Leben geblieben.«

Fürst Menschikow, ganz außer Atem vom Tanzen, blieb plötzlich vor dem Zarewitsch stehen, stemmte sich die Arme in die Seiten und sagte mit frechem Lächeln, in dem sich das Lächeln des Zaren spiegelte:

»Du, Zarewitsch!« rief der Erlauchte, wobei er das Wort Zarewitsch wie immer so aussprach, daß es wie »Psarewitsch« (Hundesohn) klang.

»Du, Zarewitsch, was bläst du Trübsal? Komm, tanz mit uns!«

Aljoscha erblaßte, griff nach dem Degen, beherrschte sich aber gleich wieder und sagte, ohne ihn anzublicken, durch die Zähne:

»Lakai!«

»Was? Was hast du gesagt, du junger Hund?«

Der Zarewitsch wandte sich um, blickte ihm gerade in die Augen und sagte laut:

»Ich sage: Lakai! Der Blick eines Lakaien ist schlimmer als Schimpf . . .«

Im gleichen Augenblick tauchte vor Aljoscha das wie von einem Krampf verzerrte Gesicht des Vaters auf. Er schlug den Sohn ins Gesicht, daß er aus Mund und Nase blutete; dann packte er ihn an der Kehle, warf ihn zu Boden und begann ihn zu würgen. Die alten Würdenträger Romodanowskij, Scheremetjew und die Dolgorukijs, denen der Zar selbst den Befehl gegeben hatte, ihn bei seinen Wutanfällen zu bändigen, stürzten auf ihn zu, faßten ihn an den Armen und schleppten ihn vom Sohne weg: sie fürchteten, daß er ihn ermorden könnte.

Um dem Erlauchten eine Satisfaktion zu geben, jagte man den Zarewitsch aus dem Hause und stellte ihn als Wachtposten draußen vor der Türe auf, wie man einen Schuljungen in die Ecke stellt. Es war eine Winternacht mit Frost und Schneesturm. Er hatte nur einen Rock ohne Pelzmantel an. Die Tränen und das Blut auf seinem Gesichte froren ein. Der Schneesturm heulte, wirbelte, tanzte und sang wie betrunken. Und hinter den erleuchteten Fenstern tanzte und sang die betrunkene alte Närrin, die Fürstin-Äbtissin Rsjewskaja. Mit dem wilden Heulen des Schneesturmes vermischte sich ihr wildes Lied:

Mutter hat mich mal im Rausch geboren,
In der Schenke hat man mich getauft,
Und im Branntwein wurde ich gebadet.

Aljoscha fühlte solchen Gram, daß er imstande war, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.

Plötzlich schlich sich aber jemand von hinten an ihn heran, warf ihm einen Pelz über die Schultern, kniete vor ihm nieder und begann, ihm die Hände zu küssen; es schien Aljoscha, als ob ein freundlicher Hund sie ihm leckte. Es war ein alter Soldat vom Preobrashenskij-Garderegiment, ein zufälliger Genosse Aljoschas im Wachtpostenstehen, ein heimlicher Raskolnik.

Der Alte blickte ihm mit unendlicher Liebe in die Augen, und es wurde Aljoscha klar, daß er bereit war, seine Seele für ihn zu opfern. Er weinte und flüsterte, ihn gleichsam anbetend:

»Herr Zarewitsch, Väterchen, unser Augenlicht, unsere strahlende Sonne! Armes Waisenkind, hast weder Vater noch Mutter. Der himmlische Vater und die Allerreinste Muttergottes mögen dich schützen! . . .«

Der Vater verprügelte Aljoscha mehr als einmal, sowohl unvorschriftsmäßig – mit den Fäusten, wie auch vorschriftsmäßig – mit dem Stock. Der Zar tat alles nach neuen Sitten, den Sohn prügelte er aber nach alter Sitte, nach den Vorschriften des »Domostroj«, des vom Priester Sylvester, dem Ratgeber Iwans des Grausamen, des Sohnesmörders, verfaßten Sittenspiegels:

»Gib deinem Sohne keine Freiheit in seiner Jugend, sondern zerbrich ihm die Rippen, solange er wächst; denn wenn du ihn mit dem Stocke schlägst, wird er nicht sterben, sondern gesünder werden.«

Aljoscha fühlte eine tierische Angst vor den Schlägen: »Er wird mich noch zum Krüppel schlagen!« Aber er gewöhnte sich an den seelischen Schmerz und an die Schande. Zuweilen regte sich in ihm etwas wie Schadenfreude. »Gut, schlage mich nur! Du tust dir und nicht mir Schimpf an!« schien er dem Vater zu sagen, wenn er ihn mit einem unendlich demütigen und unendlich frechen Blicke ansah.

Der Vater hatte aber wohl diesen Gedanken erraten; er schlug ihn nicht mehr, er fand aber eine noch grausamere Strafe: er hörte mit ihm zu sprechen auf. Wenn Aljoscha zu reden anfing, so schwieg er, als ob er ihn nicht hörte, und behandelte ihn wie Luft. Dieses Schweigen währte Wochen, Monate, Jahre. Aljoscha fühlte es immer und überall, und es wurde ihm immer unerträglicher. Es war kränkender als jedes Schimpfen, schrecklicher als jedes Schlagen. Es erschien ihm wie ein langsamer Mord, wie eine Grausamkeit, die weder von Gott noch von Menschen verziehen werden kann.

Dieses Schweigen war das Ende von allem, weiter kam nichts, als eine Finsternis, und in der Finsternis das tote, unbewegliche, zu einer Steinmaske erstarrte Gesicht des Vaters, mit dem Ausdruck, mit dem er es zum letztenmal gesehen hatte. Und von den toten Lippen klangen die toten Worte: »Wie ein brandiges Glied werde ich dich abhauen, wie mit einem Verbrecher werde ich mit dir verfahren!«

* * *

Der Faden der Erinnerungen war zerrissen. Er kam zu sich und schlug die Augen auf. Die Nacht war noch ebenso still wie vorher; die weißen Türme der Kathedralen schimmerten bläulich; die goldenen Kuppeln glänzten matt am schwarzen, sternübersäten Himmel; die Milchstraße flimmerte ganz schwach. Und im Rauche der himmlischen Frische, der so gleichmäßig war wie der Atem eines Schlafenden, senkte sich auf die Erde eine unendliche Stille, das Vorgefühl des ewigen Schlafes herab.

Der Zarewitsch fühlte sich in diesem Augenblick mit der Müdigkeit seines ganzen Lebens beladen: der Rücken, die Arme und Beine und alle Glieder taten ihm weh; die Knochen schmerzten vor Mattigkeit.

Er wollte aufstehen, hatte aber nicht die Kraft dazu. Er hob nur die Arme zum Himmel und stöhnte, als ob er den anriefe, der ihm allein hätte antworten können:

»Mein Gott! Mein Gott! . . .«

Aber niemand gab ihm Antwort. Auf Erden und im Himmel herrschte ein Schweigen, als ob ihn der himmlische Vater ebenso verlassen hätte wie der irdische.

Er bedeckte sich das Gesicht mit den Händen, beugte den Kopf tief auf die Steinbank hinab und weinte erst leise und klagend wie ein verlassenes Kind, dann immer lauter und wahnsinniger. Er schluchzte und schlug mit der Stirne gegen den Stein und schrie vor Kränkung, Empörung und Grauen. Er weinte, daß er keinen Vater mehr habe, und in diesem Weinen war der Schrei von Golgatha, der ewige Schrei des Sohnes an den Vater:

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Plötzlich merkte er, wie in jener Winternacht auf Posten, daß jemand im Finstern auf ihn zugekommen war, sich über ihn gebeugt und ihn umarmt hatte. Es war P. Iwan, der Bewahrer der Kirchengewänder an der Verkündigungskathedrale.

»Was hast du, mein Teurer? Der Herr sei mit dir! Wer hat dich gekränkt, mein Liebster?«

»Der Vater! . . . Der Vater! . . .« stöhnte Ajoscha.

Der Alte begriff alles. Er seufzte schwer auf, schwieg eine Weile und begann dann mit hoffnungsloser Demut zu flüstern, und es schien, daß die uralte Weisheit der Jahrhunderte aus seinem Munde spräche:

»Was kann man tun, Aljoschenjka? Demütige dich, demütige dich, mein Kind! Mit einer Peitsche kann man eine Axt nicht entzweihauen. Mit dem Zaren kann man nicht streiten. Im Himmel ist Gott, und auf der Erde ist der Zar. Den Zaren kann niemand richten. Der Zar ist nur vor Gott allein verantwortlich. Er ist aber nicht nur dein Zar, sondern auch dein Vater, den Gott dir gegeben . . .«

»Er ist nicht mein Vater, er ist ein Peiniger, ein Mörder!« rief Aljoscha aus. »Er sei verflucht, verflucht, der Unmensch! . . .«

»Herr Zarewitsch, Eure Hoheit, erzürne Gott nicht, rede keine so frechen Worte! Groß ist die Gewalt des Vaters. In der Schrift heißt es: Ehre deinen Vater . . .«

Der Zarewitsch hörte plötzlich zu weinen auf, wandte sich schnell um und blickte den Alten lange unverwandt an. Schließlich sagte er:

»Aber es steht auch etwas anderes in der Schrift, Väterchen: ›Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater.‹ Hörst du, Alter? Der Herr hat mich wider meinen Vater erregt! Ich bin das Schwert, das der Herr für das Herz dessen, der mich geboren, herabgesandt hat, ich bin sein Gericht und seine Strafe, die ihm der Herr bestimmt hat! Nicht um meinetwillen habe ich mich gegen ihn erhoben, sondern um der Kirche, des Landes und des ganzen Christenvolkes willen! Ich eifere für den Herrn! Ich werde mich nicht demütigen, ich werde ihm nicht untertan sein, und wenn ich auch sterben müßte! Die Welt ist zu eng für uns beide. Entweder er oder ich! . . .«

In dem vom Krampfe verzerrten Gesicht, dem zitternden Kinn, den unheimlich brennenden Augen erschien plötzlich eine gespenstische Ähnlichkeit mit dem Vater.

Der Alte sah ihn erschrocken, wie einen Besessenen, an; er bekreuzigte ihn, bekreuzigte sich selbst, schüttelte den Kopf und lallte mit seinen alten Lippen die Worte der uralten Weisheit:

»Demütige dich, demütige dich, mein Kind! Unterwirf dich dem Vater! . . .«

Auch die alten Mauern des Kreml, die Paläste, die Kathedralen, und selbst die Erde, in der die Asche seiner Väter ruhte, alles schien zu sagen: »Demütige dich, demütige dich!«

Als der Zarewitsch das Haus P. Iwans betrat, und dessen Frau, Aljoschas Amme, die alte Marfa Afanasjewna, sein Gesicht sah, glaubte sie, daß er krank sei. Sie erschrak noch mehr, als er sich weigerte, das Abendbrot mit ihnen zu essen, und sich in die Schlafkammer begab. Die Alte wollte ihm Lindenblütentee zu trinken geben und ihn mit Kampferspiritus einreiben. Um sie zu beruhigen, nahm er schließlich doch ein Glas Branntwein zu sich. Sie legte ihn mit eigenen Händen ins Bett, das ungewöhnlich weich war und auf dem sich ein ganzer Berg von Daunenkissen und Federbetten türmte; in einem solchen Bett hatte er schon lange nicht geschlafen. So friedlich brennt das Lämpchen vor dem Heiligenbilde, so angenehm duften die ihm bekannten trockenen Heilkräuter, Zypressenzweige und Weihrauch: so einschläfernd wirkt auf ihn das Flüstern der Alten, die ihm alte Kindermärchen erzählte von Iwan dem Zarewitsch und dem grauen Wolf, vom Hähnchen mit dem goldenen Kamm, vom Bastschuh, der Blase und dem Strohhalm, die gemeinsam über einen Fluß gehen wollten: der Strohhalm zerbrach, der Bastschuh ertrank, und die Blase blies sich so auf, daß sie zerplatzte; all dies ist so anheimelnd, friedlich und beruhigend, daß Aljoscha sich im Halbschlummer wie ein kleiner Knabe fühlt, der in seinem Bettchen, im Turmgemach bei Großmutter liegt: als ob alles, was er erlebt, gar nicht geschehen wäre; als ob sich über ihn nicht Marfa Afanasjewna, sondern seine Großmutter beuge, ihn zudecke, einwickle, bekreuzige und ihm zuflüstere: »Schlaf, mein Schätzchen Aljoschenjka, schlaf mit Gott, Kindchen.« Und alles ist so still, so wunderbar still. Und der Paradiesvogel Sirin singt ihm zarische Lieder. Dem süßen Gesange lauschend, glaubt er zu sterben und schläft einen ewigen Schlaf ohne Traumgesichte.

Gegen Morgen träumte ihm aber, daß er im Kreml auf dem Roten Platz, mitten unter dem Volke in der Palmsonntagsprozession mitgehe. Im großen zarischen Prunkgewande, im goldgestickten Mantel, mit der goldenen Krone und dem goldenen Geschmeide des Monomachen auf dem Kopfe führt er am Zaume die Eselin, auf der der alte Patriarch mit silberweißen Haaren sitzt. Wie er aber genauer hinblickt, sieht er, daß es kein Greis ist, sondern ein Jüngling in schneeweißem Gewande mit einem Antlitze, das wie die Sonne strahlt, daß es Christus selbst ist. Das Volk sieht oder erkennt ihn nicht. Alle haben so schreckliche, fahle, aschgraue Gesichter wie Verstorbene. Alle schweigen, und es ist so still, daß Aljoscha sein eigenes Herz schlagen hört. Auch der Himmel ist so schrecklich und leichenfahl wie vor einer Sonnenfinsternis. Vor seinen Füßen dreht sich aber unablässig ein kleines buckliges Männchen mit einem Dreispitz auf dem Kopfe und einer Tonpfeife zwischen den Zähnen; er bläst ihm den Rauch des stinkenden holländischen Knasters in die Nase, flüstert ihm etwas zu, grinst frech und zeigt mit dem Finger nach der Richtung, von der ein immer anwachsendes und immer näher kommendes Dröhnen wie ein Orkan erschallt. Und Aljoscha sieht, daß eine andere Prozession der seinigen entgegenkommt: der Protodiakon des Allertrunkensten Konzils, der Zar Peter Alexejewitsch führt am Zaume statt einer Eselin irgendein Fabeltier, auf dem eine Gestalt mit dunklem Antlitz sitzt; Aljoscha kann sie nicht erkennen, es kommt ihm aber vor, daß die Gestalt zugleich dem Gauner Fedoska und Petjka, dem Dieb, ähnelt, aber noch schrecklicher und abstoßender ist als diese beiden; vor ihnen schreitet eine schamlose nackte Dirne; es ist entweder Afrosjka oder die Petersburger Venus. Zur Begrüßung der Prozession läuten alle Kirchenglocken, auch die große Glocke am Glockenturme »Iwan der Große«. Und das Volk ruft wie bei der Hochzeit des Fürst-Papstes Nikita Sotow:

»Der Patriarch heiratet! Der Patriarch heiratet! Der Patriarch und die Patriarchin sie leben hoch!«

Und sie sinken in die Kniee und beten das Tier, die Buhlerin und die nahende Herrschaft des Pöbels an:

»Hosianna! Hosianna! Gesegnet sei, der da kommt!«

Aljoscha steht, von allen verlassen, mit Christus allein, unter dem wahnsinnig gewordenen Pöbel. Der wilde Zug jagt ihnen entgegen mit Geschrei und Gejohle, mit Finsternis und Gestank, von dem das Gold der Zarengewänder und selbst die Sonne des Antlitzes Christi schwarz werden. Gleich werden sie von den Nahenden zertreten, zerstampft, hinweggefegt werden, und über die heilige Stätte wird der Greuel der Verwüstung kommen.

Plötzlich ist alles verschwunden. Es träumt ihm weiter, daß er am Ufer eines großen Flusses, wohl an der Landstraße, die aus Polen nach der Ukraine führt, stehe. Es ist ein Abend im Spätherbste. Nasser Schnee, schwarzer Schmutz. Der Wind reißt die letzten Blätter von den zitternden Espen ab. Ein in Lumpen gehüllter blaugefrorener Bettler fleht ihn an: »Um Christi willen, eine Kopeke!« – Es ist ein Gebrandmarkter, – denkt sich Aljoscha, indem er die blutigen Male an den Händen und Füßen des Bettlers betrachtet. – Wohl ein entlaufener Rekrut . . . – Und der halberfrorene Bursche tut ihm so leid, daß er ihm statt der einen Kopeke sieben Gulden geben will. Er erinnert sich im Traume, daß er in sein Reisetagebuch unter den andern Ausgaben folgendes eingetragen hat: »22. November. Für die Überfahrt über den Fluß 3 Gulden; für das Nachtquartier in der jüdischen Schenke 5 Gulden; einem halberfrorenen Burschen 7 Gulden.« Er streckt schon seine Hand dem Bettler entgegen, als plötzlich eine rauhe Hand sich auf seine Schulter legt und eine rauhe Stimme, wohl die eines Wachsoldaten am Schlagbaum, spricht:

»Das Geben von Almosen kostet fünf Rubel Strafe; die Bettler sind aber mit der Knute und dem Aufreißen der Nasenlöcher zu bestrafen und nach Roggerwiek zu verschicken.«

»Hab Erbarmen mit ihm,« fleht Aljoscha. »Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber dieser da hat nicht, da er sein Haupt hinlege . . .«

Und wie er den »halberfrorenen Burschen« genauer ansieht, gewahrt er, daß sein Antlitz wie die Sonne ist, daß es Christus selbst ist.


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