Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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III.

»Ich habe eine Venus gekauft,« meldete Beklemischew aus Italien dem Zaren. »In Rom wird sie sehr hoch geschätzt. Sie steht der berühmten Florentinischen (Mediceischen) in nichts nach, ist eher schöner als diese. Man fand sie bei einfachen Leuten. Sie wurde beim Ausheben des Grundes zu einem neuen Hause ausgegraben. Zweitausend Jahre hat sie in der Erde gelegen. Lange Zeit hatte sie der Papst in seinem vatikanischen Garten stehen. Ich verheimlichte sie vor Liebhabern. Ich fürchte, daß die Ausfuhr Schwierigkeiten machen wird. Sie gehört aber schon Eurer Majestät.«

Peter unterhandelte durch seinen Bevollmächtigten Sawwa Ragusinskij und durch den Kardinal Ottobani mit dem Papste Clemens XI. wegen der Erlaubnis, die von ihm erworbene Statue nach Rußland ausführen zu dürfen. Der Papst wollte lange keine Genehmigung erteilen. Endlich erhielt man sie nach langen diplomatischen Kunstgriffen und Listen.

»Herr Kapitän,« schrieb Peter an seinen Wiener Gesandten Jagushinskij, »die schönste Statue der Venus soll aus Livorno zu Wagen nach Innsbruck gebracht werden, und von da mit einem eigenen Begleiter die Donau abwärts nach Wien, an deine Adresse. Und da die Statue, wie es dir bekannt ist, auch dort sehr hochgeschätzt wird, sollst du in Wien ein Wagengestell auf Federn machen lassen, auf dem man sie unbeschädigt nach Krakau bringen kann; von Krakau kann man sie aber wieder zu Wasser weiterschicken.«

Auf Meeren und Flüssen, über Berge und Täler, Städte und Steppen und schließlich auch durch armselige russische Dörfer, Urwälder und Sümpfe, überall durch den Willen des Zaren sorgsam behütet, bald auf Wasserwellen und bald im federnden Wagen schaukelnd, machte die Göttin in ihrem dunklen Kasten wie in einer Wiege oder einem Sarge ihre lange Reise aus der Ewigen Stadt nach der neugegründeten Siedlung Petersburg.

Endlich war sie glücklich angelangt. So sehr auch der Zar wünschte, die Statue, von der er so viel gehört und die er so lange erwartet hatte, so bald wie möglich zu sehen, überwand er doch seine Ungeduld und beschloß, den Kasten nicht vor dem ersten feierlichen Erscheinen der Venus beim Feste im Sommergarten zu öffnen.

Schaluppen, Ruder- und Segelboote, Ewer und andere »neumodische Schiffe« landeten vor der hölzernen Treppe, die direkt ins Wasser hinabführte, und hielten an den am Ufer eingerammten Pfosten mit den Eisenringen. Die Ankommenden stiegen aus den Booten und gingen die Treppe zur mittleren Galerie hinauf, wo im Lichte der Illumination bereits eine geputzte Menge wogte, rauschte und sich hin und her bewegte: Kavaliere in bunten seidenen und samtenen Röcken, Dreimastern, mit Degen an der Seite, in Strümpfen und Schnallenschuhen mit hohen Absätzen, in üppigen pyramidalen schwarzen, blonden, seltener gepuderten Perücken mit unnatürlich reichen Locken; die Damen in ungemein weiten runden mit Fischbein versteiften Reifröcken »nach der neuesten Mode von Versailles«, mit langen Schleppen, mit Schönheitspflästerchen auf den geschminkten Gesichtern, mit Spitzenhauben, Federn und Perlen im Haar. In dieser glänzenden Menge sah man aber auch gewöhnliche Militäruniformen aus grobem Soldatentuch und sogar Matrosen- und Schifferjoppen, nach Teer riechende Stiefel und lederne Südwester der holländischen Seeleute.

Die Menge machte einem seltsamen Zuge Platz: kräftige Heiducken und Grenadiere des Zaren trugen auf ihren Schultern mit sichtbarer Mühe, unter der schweren Last gebückt, einen langen, schmalen, schwarzen Kasten, der wie ein Sarg aussah. Nach der Länge des Sarges zu urteilen, mußte die Leiche von übermenschlichem Wuchs sein. Der Kasten wurde auf den Boden gesetzt.

Der Zar begann ganz allein, ohne fremde Hilfe, ihn zu öffnen. Die Zimmermanns- und Schreinerwerkzeuge flogen in den geübten Händen Peters nur so hin und her. Er hatte große Eile und zog die Nägel mit solcher Ungeduld heraus, daß er sich an einem von ihnen die Hand blutig ritzte.

Alle drängten sich ringsherum, stellten sich auf die Fußspitzen und blickten neugierig einander über die Schultern und Köpfe.

Der Geheime Rat Pjotr Andrejitsch Tolstoi, der viele Jahre in Italien gelebt hatte, ein gelehrter Mann und obendrein ein Dichter – er war der erste russische Übersetzer der Metamorphosen Ovids – erzählte den Damen und jungen Mädchen, die sich um ihn drängten, von den Ruinen eines alten Venustempels:

»Als ich einmal auf der Durchreise in Castello di Bajä bei Neapel war, sah ich dort einen Tempel dieser Göttin Venus. Die Stadt ist ganz zerstört, und die Stelle, wo sie einst gestanden, mit Wald bewachsen. Der Tempel ist aus Backsteinen erbaut; er ist mit hohen Säulen geschmückt und von schöner Architektur. An den Gewölben sind zahllose unsaubere Götter dargestellt. Ich sah dort auch andere Tempel – der Diana, des Merkur und des Bacchus, denen der verdammte Tyrann Nero Opfer darbrachte; für diese seine Liebe zu ihnen befindet er sich jetzt mit ihnen zusammen in der Hölle . . .«

Pjotr Andrejitsch öffnete eine Perlmuttertabatiere, auf deren Deckel drei Schäfchen und ein Schäfer, der einer schlafenden Schäferin den Gürtel löst, dargestellt waren, reichte sie der niedlichen jungen Fürstin Tscherkasskaja, nahm selbst eine Prise und fügte schmachtend hinzu:

»Bei meinem Aufenthalt in Neapel war ich, wie ich mich noch ganz genau entsinne, in eine gewisse schöne Cittadina Franceska inamoriert. Sie kostete mich über zweitausend Dukaten. Auch heute noch wohnt jenes Amore in meinem Herzen . . .«

Er sprach so gut italienisch, daß seine russische Rede immer mit lateinischen Brocken durchsetzt war; er sagte inamoriert statt verliebt und Cittadina statt Bürgermädchen.

Tolstoi war ein Siebziger, war aber noch so kräftig, rüstig und frisch, daß er wie ein Fünfziger aussah. Was die Galanterie gegen Damen betraf, so konnte er darin, nach einem Ausspruche des Zaren, »alle jungen Venusjäger in den Sack stecken«. Er fiel durch die samtene Weichheit seiner Bewegungen auf, durch seine samtweiche Stimme, sein samtzartes Lächeln und seine samtnen, ungewöhnlich dichten und schwarzen, wahrscheinlich gefärbten Brauen. »Er ist ganz wie Samt, hat aber doch einen Stachel!« pflegte man von ihm zu sagen. Auch Peter selbst, der seine »Paladine« mit viel zu wenig Vorsicht behandelte, sagte: »Wenn man mit Tolstoi zu tun hat, soll man im Busen einen Stein bereit halten.« Dieser »elegante und exzellente Herr« hatte manche dunkle, böse und sogar blutige Tat auf dem Gewissen. Aber er verstand es, alle Spuren zu verwischen.

Nun krümmten sich die letzten Nägel, das Holz knarrte, der Deckel ging in die Höhe, und der Kasten war geöffnet. Zuerst sah man etwas Graues und Gelbes, das wie der Staub vermoderter Gebeine aussah. Es waren Hobel- und Sägespäne von Fichtenholz, Filz- und Wollabfälle, in die man die Statue gebettet hatte, damit sie es weicher habe.

Peter wühlte mit beiden Händen herum, tastete endlich den Marmorleib und rief voller Freude aus:

»Da ist sie, da ist sie!«

Das Zinn zum Verlöten der Eisenklammern, die den Sockel mit der Statue verbinden sollten, wurde bereits geschmolzen. Der Architekt Leblond machte sich mit großem Eifer an einer Art Aufzugsmaschine mit kleinen Leitern, Tauen und Flaschenzügen zu schaffen. Zuerst mußte man aber die Statue mit den Händen aus dem Kasten heben.

Diener halfen Peter bei dieser Arbeit. Als aber einer von ihnen mit einem unziemlichen Scherzwort die »nackte Dirne« an einer unpassenden Stelle berührte, gab ihm der Zar eine solche Ohrfeige, daß alle sofort einen großen Respekt vor der Göttin bekamen.

Die wollenen Flocken fielen wie Klumpen grauer Erde vom glatten Marmor herab. Und nun entstieg die Göttin, wieder zu neuem Leben erwacht, wie vor zweihundert Jahren in Florenz, ihrem Sarg.

Die Stricke wurden angezogen, die Flaschenzüge knirschten. Sie stieg immer höher empor. Peter stand auf einer Leiter, um die Statue auf dem Sockel zu befestigen, und hielt sie dabei mit beiden Armen umfangen.

Leblond, der eine klassische Bildung genossen hatte, sagte unwillkürlich: »Die Venus in den Armen des Mars!«

»So hübsch sind sie beide,« rief ein junges Hoffräulein der Kronprinzessin Charlotte, »daß ich an Stelle der Zarin eifersüchtig werden würde!«

Peter war beinahe ebenso übermenschlich groß wie die Statue. Und sein Menschengesicht bewahrte seinen Adel auch neben dem göttlichen Antlitz: der Mensch war der Göttin würdig.

Sie schwankte noch zum letztenmal, erzitterte und blieb plötzlich regungslos aufrecht auf dem Sockel stehen.

Es war ein Werk des Praxiteles: Aphrodite Anadyomene, die Schaumgeborene, die himmlische Urania, die alte phönizische Astarte, die babylonische Militta, die Urmutter des Seins, die große Allernährerin, die den Himmel mit Sternen wie mit Samen erfüllt und aus ihren Brüsten die Milchstraße hatte fließen lassen.

Sie war hier die gleiche wie auf den Hügeln von Florenz, wo sie der Schüler Leonardo da Vincis in abergläubischer Angst anstaunte; die gleiche, wie in der Tiefe Kappadociens, in der Nähe der alten Feste Macellum, im verlassenen Tempel, wo sie ihr letzter Verehrer, ein blasser schmächtiger Knabe in dunkler Kleidung, der spätere Kaiser Julian Apostata anbetete. Sie war noch immer ebenso keusch und wollüstig, nackt, doch sich ihrer Nacktheit nicht schämend. Von jenem Tage an, als sie dort in Florenz ihrem tausendjährigen Grabe entstiegen, war sie immer weiter und weiter, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Volk zu Volk gewandert, ohne irgendwo stehen zu bleiben, bis sie endlich auf ihrem Triumphzuge die äußerste Grenze der Erde – das hyperbolische Skythien erreicht hatte, hinter dem es nichts mehr gibt als Nacht und Chaos. Von ihrem Sockel herab blickte sie nun zum erstenmal mit gleichsam erstaunten und neugierigen Augen auf dieses fremde, neue Land, auf diese moosbewachsenen Sümpfe, auf diese seltsame Stadt, die den Siedlungen nomadisierender Barbaren glich, auf diesen Himmel, der weder in der Gewalt des Tages noch der Nacht war, und auf diese schwarzen, langsamen, schrecklichen Wellen, die an die des unterirdischen Styx gemahnten. Dieses Land war ihrer olympischen, sonnendurchleuchteten Heimat so unähnlich; es war hoffnungslos, wie das Land des Vergessens, wie der dunkle Hades. Und doch lächelte die Göttin mit ihrem ewigen Lächeln, wie die Sonne lächeln würde, wenn sie in den dunklen Hades hineinschiene.

Pjotr Andrejitsch Tolstoi rezitierte auf Wunsch der Damen das Gedicht »Vom Cupido«, die von ihm verfaßte Übersetzung der alten anakreontischen Hymne an Eros:

Eingeschlummert in der Rose
Kelch war eine müde Biene;
Sieh! da naht sich leise, lose,
Eros mit verschlagner Miene!

Arme Menschen zu berücken
Soll der Rose Duft und Schein,
Seinen kleinen Köcher schmücken,
Drin die Liebespfeil' voll Pein.

Doch die Biene jäh erwachet,
Sticht ihn in das Fingerlein,
Daß, der sonst der Schmerzen lachet,
Plötzlich selbst hob an zu schrein.

Weinend lief er zu Kytheren,
Seiner holden Mutter hin;
Um dem bittern Schmerz zu wehren,
Hält er ihr den Finger hin.

»Mutter,« schluchzt er, »eine Schlange
Stach mich in dem Kelch der Rose,
Klein, beflügelt . . . ach, wie bange
Ist mir vor des Todes Lose!«

Drauf die Holde ihm erwidert:
»Wenn der Biene Stachel schon
Dir das Leben so verbittert,
So bedenke, lieber Sohn:

Wieviel Schmerzen sonder Weilen
Du den armen Menschen schaffst,
Die mit deinen spitzen Pfeilen
Mitten in das Herz du trafst!«

Den Damen, die außer Kirchenkantaten und Psalmen keinerlei russische Verse kannten, erschien das Liedchen ganz wundervoll.

Tolstoi hatte es auch im passendsten Moment vorgetragen: Peter entzündete gerade mit eigener Hand statt der ersten Rakete des Feuerwerks eine kleine Flugmaschine in Gestalt eines Cupido, der eine brennende Fackel in der Hand hielt. Cupido glitt an einem unsichtbaren Draht von der Galerie zu einem Floße auf der Newa hin, wo Feuerwerksgerüste »zur feurigen Ergötzung nach einem aus Lunten angefertigten Plane« aufgestellt waren, und entzündete mit seiner Fackel das erste allegorische Bild – einen Altar aus Brillantfeuer mit zwei flammenden rubinroten Herzen. In dem einen der Herzen leuchtete ein smaragdgrünes lateinisches P, und im anderen – ein C: das bedeutete Petrus und Catarina. Die beiden Herzen verschmolzen, und es wurde die Inschrift sichtbar: »Aus zweien bilde ich eins.« Das bedeutete, daß die Göttin Venus und Cupido den Ehebund Peters mit Katharina segneten.

Nun erschien eine andere Figur – ein leuchtendes Transparentbild mit zwei Darstellungen: auf der einen Seite blickt Neptun auf die eben im Meere erbaute Festung Kronschlot; darunter die Inschrift: »Videt et stupescit!« – »Er schaut und staunt.« Auf der andern Seite – Petersburg, die zwischen Wäldern und Sümpfen neuerbaute Stadt, mit der Inschrift: »Urbs ubi silva fuit« – »Eine Stadt, wo früher Wald war.«

Peter, der ein großer Liebhaber von Feuerwerk war und ähnliche Veranstaltungen immer selbst leitete, erklärte den Zuschauern die Allegorie.

Mit ohrenbetäubendem Sausen und Pfeifen stiegen in den Himmel feurige Garben zahlloser Raketen, die in der dunklen Höhe zu einem Regen langsam fallender, schmelzender, roter, blauer, grüner und violetter Sterne zerstieben. Die Newa verdoppelte sie in ihrem schwarzen Spiegel. Feuerräder drehten sich, Feuerfontänen stiegen empor, Schwärmer zischten und sprangen umher: Wasser- und Luftballons explodierten wie Bomben mit ohrenbetäubendem Krachen. Es erschienen flammende Paläste mit feurigen Säulen, Gewölben und Treppen, und auf dem wie die Sonne blendenden Hintergrunde leuchtete das letzte Bild auf: ein Bildhauer, dem Titanen Prometheus ähnlich, steht vor einer unvollendeten Statue, die er aus einem Marmorblock herausmeißelt; darüber ein von Strahlen umgebenes allsehendes Auge mit der Inschrift: »Deo adjuvante« – »Mit Gottes Hilfe.« Der Marmorblock bedeutete das alte Rußland, die unvollendete, aber schon der Venus gleichende Statue – das neue Rußland; der Bildhauer war Peter selbst.

Das letzte Bild mißlang; die Statue war zu schnell abgebrannt und dem Bildhauer vor die Füße gefallen. Nun schien er mit seinem Meißel ins Leere zu schlagen. Auch der Hammer löste sich auf, und der Arm fiel herunter. Das Allsehende Auge wurde trüb und schien mißtrauisch und unheildrohend zu blinzeln.

Niemand schenkte dem übrigens Beachtung: alle waren von einem neuen Schauspiel hingerissen. Mitten in von bengalischem Feuer in allen Farben erleuchteten Rauchwolken erschien ein riesiges Ungetüm, das halb an ein Pferd, halb an einen Drachen erinnerte, mit einem Schuppenschwanz, stachelbesetzten Flossen und Flügeln. Es schwamm auf der Newa von der Festung zum Sommergarten. Zahllose mit Ruderern vollbesetzte Boote schleppten es an einem Seil. Auf dem Rücken des Ungetüms thronte in einer Riesenmuschel Neptun mit langem weißem Bart, mit dem Dreizack in der Hand; zu seinen Füßen kauerten Sirenen und Tritonen, die in Hörner bliesen. »Die Tritonen des nordischen Neptuns posaunen, über die Meere wandernd, den Ruhm des russischen Zaren,« erklärte einer der Zuschauer, der Erzpriester der Flotte, Gawriïl Bushinskij. Das Ungeheuer schleppte sechs Paar leere, fest verspundete Fässer nach sich, auf denen die Kardinale des Narrenkonzils saßen; ein jeder war an seine Tonne festgebunden, damit er nicht ins Wasser rutsche. So schwammen sie im Gänsemarsch hintereinander her, laut in Kuhhörner blasend, weiter kam ein ganzes aus gleichen Fässern bestehendes Floß mit einem riesigen Bottich voll Bier; im Biere schwamm eine hölzerne Schöpfkelle, und in dieser saß wie in einem Boote der Fürst-Papst, der Bischof des Gottes Bacchus. Bacchus selbst saß am flachen Rande des Bottichs.

Zu den Klangen einer feierlichen Musik näherte sich diese ganze Wasserprozession langsam dem Sommergarten und landete vor der Mittelgalerie, und die Götter stiegen die Treppe hinauf.

Neptun entpuppte sich als der Hofnarr des Zaren, der alte Bojare Ssemjon Turgenjew: die Sirenen mit den langen Fischschwänzen, die sie wie Schleppen nachschleiften, so daß man von ihren Füßen fast nichts sehen konnte, als leibeigene Mägde; die Tritonen als Stallknechte des Generaladmirals Apraxin; der Satyr oder Pan, der Gefährte des Bacchus, als der französische Tanzmeister des Fürsten Menschikow. Der geschickte Franzose vollführte solche Sprünge, daß man meinen konnte, er habe Bocksbeine wie ein wirklicher Faun. Gott Bacchus mit dem Tigerfell auf den Schultern, dem Kranz aus gläsernen Weintrauben auf dem Kopf, einer Wurst in der einen und einer Schnapsflasche in der andern Hand, war der Dirigent des Hofsängerchors, Konon Karpow, ein ungewöhnlich dicker Kerl mit roter Fratze. Damit er dem Bacchus noch ähnlicher sähe, wurde er drei Tage zuvor erbarmungslos mit Schnaps vollgepumpt, so daß Konon, nach Ansicht seiner Trinkgenossen, rot wurde wie eine Moosbeere und sich in den leibhaftigen Iwaschka Chmelnizkij verwandelte.

Die Götter scharten sich um die Venusstatue. Bacchus, den die Kardinäle und der Fürst-Papst ehrerbietig stützten, kniete vor ihr nieder, berührte mit der Stirn die Erde und sprach mit seiner dröhnenden Baßstimme, die eines Protodiakons würdig war:

»Hochehrwürdige Mutter Venus, der demütige Knecht Iwaschka-Bacchus, Sohn der verbrannten Semele, Kelterer der Weinesfreude, erhebt Anklage gegen dein Söhnchen Jerjomka-Eros. Gestatte diesem ausgelassenen Jerjomka nicht, uns, deine Leibeigenen zu kränken, unsere Herzen zu verwunden und unsere Seelen zu verderben. Herrin, erbarme dich unser!«

Die Kardinäle riefen im Chor: »Amen!«

Karpow begann in seiner Betrunkenheit ein richtiges Kirchenlied zu singen, wurde aber noch zur rechten Zeit unterbrochen.

Der Fürst-Papst, der ehemalige Erzieher Peters, der alte Bojare und Kämmerer des Zaren Alexej, Nikita Moissejewitsch Sotow, in einem Narrenmantel aus rotem Samt mit Hermelinbesatz, mit einer blechenen dreifachen, von einer unanständigen Darstellung des nackten Eros bekrönten Tiara auf dem Kopf, stellte auf einen aus Bratspießen zusammengesetzten Dreifuß vor dem Sockel der Göttin eine runde Messingschüssel, in der gewöhnlich Punsch gebraut wurde, hin, goß Schnaps hinein und zündete ihn an. Indessen schleppten die Grenadiere des Zaren an langen, unter der schweren Last sich biegenden Stangen Riesenbottiche Pfefferbranntwein herbei. Außer den geistlichen Herren, die auch bei dieser Veranstaltung wie bei allen ähnlichen Narrenfesten anwesend waren, mußten alle Gäste, und zwar nicht nur die Herren, sondern auch die Damen und sogar die jungen Mädchen der Reihe nach an den Bottich herantreten, aus den Händen des Fürst-Papstes eine große hölzerne Kelle mit Pfefferbranntwein nehmen, fast alles austrinken und die wenigen in der Kelle übrig gebliebenen Tropfen ins Feuer des Altars schütten; dann mußten die Kavaliere, je nach ihrem Alter, die Jungen die Hand und die Alten den Fuß der Venus küssen; die Damen hatten sich vor ihr »mit zeremoniellem Kompliment« zu verbeugen. Das alles war bis ins kleinste vom Zaren selbst erdacht und vorgeschrieben: alles mußte »unter Androhung einer harten Strafe«, ja selbst der Knute genau nach der Vorschrift ausgeführt werden. Die alte Zarin Praskowja Fjodorowna, Peters Schwägerin, die Witwe seines Bruders, des Zaren Iwan Alexejewitsch, trank wie die andern Schnaps aus dem Bottich und verneigte sich vor der Venus. Sie war immer bemüht, Peter gefällig zu sein und schickte sich demütig in alle Neuerungen: gegen die Strömung kann man doch nicht schwimmen! Aber diesmal war es der ehrwürdigen Alten im dunklen Witwenkleide – Peter hatte ihr erlaubt, die altmodische Tracht zu behalten – doch sehr bitter zumute, als sie vor der »schamlosen nackten Dirne« nach »deutscher Manier« knixen mußte. »Ich würde lieber ins Grab steigen, als das alles mitansehen müssen,« dachte sie sich. Auch der Zarewitsch küßte demütig die Hand der Venus. Michailo Petrowitsch Awramow wollte sich verstecken, man schleppte ihn aber mit Gewalt herbei; obwohl er zitterte, totenblaß wurde, sich in Krämpfen wand, schwitzte und fast in Ohnmacht fiel, als er, die teuflische Ikone küssend, die Berührung des kalten Marmors auf seinen Lippen spürte, führte er doch die Zeremonie mit peinlicher Genauigkeit unter dem strengen Blick des Zaren aus, vor dem er noch größere Angst hatte, als vor den weißen Teufeln.

Die Göttin schien ohne Zorn auf die gotteslästerlichen Masken der Götter und auf die Späße der Barbaren herabzuschauen. Selbst in dieser Blasphemie lag eine unwillkürliche Verehrung. Der närrische Dreifuß verwandelte sich in einen wirklichen Altar, auf dem in der zuckenden und wie ein Schlangenstachel feinen bläulichen Flamme die Seele des Dionysos, des ihr verwandten Gottes, loderte, von dieser Flamme beleuchtet, lächelte die Göttin weise.

Das Trinkgelage nahm seinen Anfang. Am oberen Ende der Tafel saß unter einem Dach aus Hopfen und Preiselbeerblättern, die von den heimatlichen Sümpfen stammten und die klassische Myrte ersetzen sollten, Bacchus rittlings auf einem Faß, aus dem der Fürst-Papst den Wein in die Becher schenkte. Tolstoi wandte sich an Bacchus und rezitierte ein anderes Gedicht, das er selbst aus dem Anakreon übersetzt hatte:

Wenn der Sorgenbrecher Bacchos,
Kind des Zeus, des Leidens Wender,
Herrscht als Sieger mir im Herzen,
Lehret er, der Weinesspender,
Schweben mich im Tanzesreigen.

Oh, – und welche Lust beim Wein,
Wenn, bewegt von heitrem Rausche,
Ich auf Tanz und Lieder lausche
Und, lud Aphrodite ein,
schwebe hin im Tanzesreigen.

»Aus diesen Versen kann man schließen,« bemerkte Peter, »daß Anakreon ein ordentlicher Säufer und ein Mensch, der sich nichts abgehen ließ, war.«

Nach den üblichen Trinksprüchen auf das Blühen der russischen Flotte, auf den Zaren und die Zarin erhob sich der Archimandrit Feodossij Janowskij mit feierlicher Miene, das Weinglas in der Hand.

Trotz des Ausdrucks polnischen Hochmuts im Gesicht – er stammte aus dem niederen polnischen Adel – trotz des blauen Bandes des Andreasordens und des mit Diamanten besetzten Brustbildes mit der Darstellung des Zaren auf der einen und dem Kruzifix auf der andern Seite – die erstere war reicher und mit größeren Diamanten besetzt als die andere – trotz alledem sah Feodossij, nach einem Ausspruche Awramows, wie eine Frühgeburt aus. Kleingewachsen, mager, mit spitzem Gesicht, in einer riesengroßen Mönchskappe aus schwarzem Krepp, der in langen Falten herabhing, in einer ungemein weiten Kutte mit flatterndem schwarzen Saume erinnerte er an eine große Fledermaus. Wenn er aber scherzte und besonders wenn er gotteslästerliche Reden führte, was er im Rausche immer zu tun pflegte, so funkelten seine listigen Äuglein mit so stechendem Witz, so frecher Fröhlichkeit, daß das jämmerliche Gesicht der Fledermaus oder der Frühgeburt beinahe anziehend erschien.

»Ich spreche keine Schmeichelworte,« wandte sich Feodossij an den Zaren, »ich rede aus der Tiefe meines Herzens. Durch die Taten Eurer Zarischen Majestät sind wir aus der Finsternis der Unwissenheit auf die Bühne des Ruhms, aus dem Nichtsein ins Sein gehoben worden und in die Gemeinschaft der politischen Völker eingetreten. Du hast uns in allen Dingen erneuert und deine Untertanen zu einem neuen Leben wiedergeboren, was war Rußland früher, und was ist es jetzt? Betrachten wir die Gebäude: statt roh gezimmerter Hütten sind leuchtende Paläste erstanden, statt dürren Reisigs ein blühender Garten. Betrachten wir die städtischen Befestigungen: auch hier besitzen wir Dinge, die man früher nicht einmal auf Bildern gesehen hat . . .«

Lange noch sprach er über die neuen Gesetzbücher, über die freien Wissenschaften und Künste, über die Flotte der »waffentragenden Archen« und über die Läuterung und Erneuerung der Kirche.

»Und du,« rief er zum Schlusse aus, in seiner Begeisterung die weiten Ärmel seiner Kutte wie schwarze Flügel emporwerfend und dabei einer Fledermaus noch ähnlicher sehend, »und du, du neue, neuregierende Stadt Peters, bist du nicht der größte Ruhm deines Gründers? Dort, wo niemand an die Möglichkeit einer menschlichen Siedlung glaubte, entstand eine Stätte, die des Zarenthrones würdig ist. Urbs ubi silva fuit – eine Stadt, wo früher Wald war. Wer wird die Lage der Stadt nicht loben? Der Platz übertrifft an Schönheit nicht nur das ganze russische Reich, man kann auch in den andern Ländern Europas nichts Ähnliches finden! Auf einer anmutig lustigen Stätte ist die Stadt gegründet! Du hast, Majestät, aus Rußland eine Metamorphose gedichtet!«

Alexej hörte zu und betrachtete Fedoska mit großer Aufmerksamkeit. Als jener von der »anmutig lustigen Lage« Petersburgs sprach, trafen sich seine Augen für einen Augenblick wie zufällig mit denen des Zarewitschs. Alexej glaubte, in der Tiefe dieser Augen einen Funken von Hohn zu sehen. Und er mußte daran denken, wie oft Fedoska in seiner Gegenwart, natürlich hinter dem Rücken des Vaters, auf diese »lustige Stätte« geschimpft und sie »Teufelssumpf« und »Teufelsloch« genannt hatte. Der Zarewitsch hatte übrigens schon seit langem den Eindruck, daß Fedoska sich über den Vater fast offen lustig machte, doch so geschickt und fein, daß es niemand merkte, außer ihm, Alexej, dem Fedoska in solchen Fällen einen schnellen, hinterlistigen Blick, den Blick eines Mitwissers, zuwarf.

Peter beantwortete die Ansprache wie alle zeremonielle Reden mit kurzen Worten:

»Es ist mein Wunsch, daß das ganze Volk erfahre, was der Herr an uns getan hat. Man soll auch in Zukunft nicht erlahmen, sondern sich um den Nutzen und die allgemeinen Vorteile bemühen, die uns der Herr vor Augen hält.«

Er fuhr nun in der allgemeinen Unterhaltung fort und gab auf Holländisch, damit es auch die anwesenden Ausländer verstehen konnten, den Gedanken »vom Kreislauf der Wissenschaften« wieder, den er neulich vom Philosophen Leibniz gehört und der ihm so gut gefallen hatte: alle Wissenschaften und Künste wurden im Orient und in Griechenland geboren; sie kamen von dort nach Italien, dann nach Frankreich und Deutschland und schließlich über Polen nach Rußland; jetzt sind wir an der Reihe. Über Rußland werden sie wieder nach Griechenland und dem Orient, ihrer ursprünglichen Heimat zurückkehren und so ihren Kreis vollenden.

»Diese Venus,« schloß, auf die Statue weisend, Peter mit dem ihm eigenen etwas naiven Pathos auf russisch, »diese Venus kam zu uns aus Griechenland. Bei uns ist schon alles mit dem Pfluge des Mars durchfurcht und bestellt. Und nun warten wir auf die gute Ernte, die uns der Herr bescheren möge! Unsere Frucht möge nicht so träge sein wie die der Dattel, die der Säende niemals zu Gesicht bekommt. Und nun möge sich Venus, die Göttin jeglicher Anmut, häuslicher und politischer Eintracht zum Ruhme des russischen Namens mit Mars vereinigen!«

»Vivat! Vivat! Vivat, Peter der Große, Vater des Vaterlands, der Kaiser Allrußlands!« riefen alle, die Gläser mit dem Ungarwein erhebend.

Der kaiserliche Titel, der noch weder in Europa noch in Rußland selbst bekanntgegeben worden war, wurde hier, im Kreise der Paladine Peters allgemein gebraucht.

Im linken, für die Damen bestimmten Flügel der Galerie wurden die Tische weggerückt, und man begann zu tanzen. Die Trompeten, Oboen und Pauken der Militärkapellen des Ssemjonowschen und des Preobrashenskijschen Leibgarderegiments schallten unter den Bäumen des Sommergartens, durch die Entfernung, vielleicht auch durch den Zauber der Göttin gedämpft; sie klangen hier zu ihren Füßen wie die zarten Flöten und Bratschen im Reiche Cupidos, wo auf weichen Matten Schäfchen grasen und die Schäfer den Schäferinnen den Gürtel lösen. Pjotr Andrejitsch Tolstoi, der im Menuett an der Seite der Fürstin Tscherkasskaja schritt, sang ihr zu den Klängen der Musik mit seiner samtweichen Stimme ins Ohr:

Cupido, laß den Pfeil,
Wir sind ja nicht mehr heil!
Wir sind so süß versehret
Durch deinen Pfeil von Golde,
Die Liebe, ach, die holde,
An unsren Herzen zehret . . .

Die niedliche Fürstin knickste geziert nach den Regeln des Menuetts vor den Kavalieren und erwiderte mit dem schmachtenden Lächeln der Schäferin Chloë die Komplimente des siebzigjährigen Schäfers Daphnis.

Und in den dunklen Alleen, Lauben und in allen heimlichen Winkeln des Sommergartens hörte man ein Flüstern, Tuscheln, Rascheln, Küsse und Liebesseufzer. Göttin Venus herrschte bereits im hyperboreischen Skythien.

Die Diener und Kammerpagen des Zaren saßen in einem Kreise, in einiger Entfernung von den andern, in einem Eichenwäldchen am Rande des Sommergartens, wo sie niemand hören konnte, und sprachen wie echte Skythen und Barbaren über die Liebesstreiche ihrer Basen, der Hoffräulein, Kammerjungfrauen und selbst der »Dirnen«.

In Gegenwart von Frauen waren sie bescheiden und schüchtern; doch unter sich sprachen sie von den »Weibern« und »Dirnen« mit tierischer Schamlosigkeit.

»Die Dirne Hamentowa hat eine Nacht mit dem Herrn geschlafen,« berichtete einer von ihnen in gleichgültigem Tone.

»Hamentowa« nannten sie das Hoffräulein der Zarin, Maria Williamowna Hamilton.

»Der Herr ist ein Galan und kann nicht ohne Maitressen leben,« bemerkte ein anderer.

»Er ist nicht ihr erster Geliebter,« entgegnete ein Kammerpage, ein fünfzehnjähriger Bengel, indem er mit wichtiger Miene auf die Seite spuckte und einen kräftigen Zug aus seiner Pfeife tat, von der es ihm übelte. »Wassjucha hat ihr noch vor dem Herrn einen dicken Bauch gemacht.«

»Wo tun sie bloß alle die Kinder hin?« wunderte sich der erste.

»Der Mann weiß nicht, wo die Frau überall herumbummelt!« sagte grinsend der Bengel. »Brüder, ich habe neulich selbst aus dem Busche gesehen, wie Wilka Monsow mit der Hausfrau liebelte . . .«

William Mons war der Kammerjunker der Zarin, ein Ausländer »gemeiner Abstammung«, doch ein gewandter und hübscher Kerl.

Sie rückten näher zusammen und begannen einander ganz leise ins Ohr noch viel interessantere Geschichten zu erzählen; daß man z. B. vor kurzem in diesem selben Zarengarten beim Ausputzen einer verstopften Springbrunnenleitung eine Kindesleiche gefunden habe, die in eine Serviette aus dem Schlosse eingewickelt gewesen sei.

Im Sommergarten gab es auch die für jeden nach französischem Geschmack angelegten Garten obligatorische »Grotte«; es war ein mittelgroßes viereckiges recht unschönes Gebäude am Ufer des Fontankaflusses, das von außen wie eine holländische Kirche aussah, aber innen mit großen Muscheln, Perlmutter, Korallen, Tuffsteinen und einer Menge Springbrunnen, die eine für das feuchte Petersburger Klima übermäßige, von Peter so sehr geliebte Fülle von Wasser in ihr Marmorbecken ergossen, geschmückt war und tatsächlich an eine Unterwassergrotte erinnerte.

In dieser Grotte unterhielten sich einige ehrwürdige alte Herren – Senatoren und Würdenträger; auch sie sprachen über die Liebe und die Frauen.

»In alten Zeiten war ein gutes Eheleben so keusch wie das Mönchsleben; heute aber gilt der Ehebruch als eine Art Galanterie, selbst bei den Ehemännern, die ganz ruhig zusehen, wie ihre Frauen mit andern liebeln und uns Narren nennen, weil wir auch in diesem schwachen Punkte auf Ehre sehen. Man hat den Weibern die Freiheit gegeben – bald werden sie uns im Nacken sitzen!« brummte der älteste der alten Herren.

Ein anderer, der etwas jünger war, bemerkte, daß »allen jüngeren und in den alten Gebräuchen nicht ganz verstockten Männern der freiere Verkehr mit dem weiblichen Geschlechte recht angenehm sei«; daß »die Liebesleidenschaft, die bei rohen Sitten ganz unbekannt sei, nun begonnen habe, sich der empfindsamen Herzen zu bemächtigen«; daß »die Ehe an einem einzigen Tage alle Blumen knicke, die Gott Amor jahrelang gepflegt habe«, und daß »die Eifersucht das Hitzfieber der Liebe sei«.

»Schöne Frauen waren immer zur Unzucht geneigt,« erklärte einer, der in den mittleren Jahren stand. »Aber bei den jetzigen koketten Frauen haben natürlich die Teufel Wohnungen in den Rippen gebaut. Sie haben schon einmal so eine Politik, daß sie von nichts anderem als von Liebe hören wollen. Auch die kleinen Mädchen machen es ihnen nach und denken nur daran, ob sie nicht auch liebeln können, was ihnen aber nicht recht gelingen will; und dazu gebrauchen sie ihre kindlichen Mienen! Oh, wie sind doch die Gefühle der Frauen vom Wunsche zu gefallen beherrscht!«

Nun kam die Zarin Jekaterina Alexejewna in die Grotte in Begleitung des Kammerjunkers Mons und der Hofdame Hamilton, einer stolzen Schottländerin mit dem Gesichte einer Diana.

Als der jüngste der alten Herren merkte, daß die Zarin ihren Gesprächen lauschte, nahm er die Damen galant in Schutz.

»Daß das weibliche Geschlecht jede Achtung verdient, wird schon durch die Tatsache allein bewiesen, daß Gott Adams Weib am letzten Tage der Schöpfung erschaffen hat, als ob die Welt ohne sie unvollständig wäre. Man behauptet, daß der weibliche Körper in sich alles vereinigt, was es in der ganzen Natur an Gutem und Schönem gibt. Wenn wir uns zu allen diesen Vorzügen auch noch die Anmut ihres Geistes hinzudenken, wie können wir dann noch an der Vortrefflichkeit der Frau zweifeln? Und womit kann sich ein Kavalier, der den Frauen die schuldige Ehrfurcht versagt, rechtfertigen? Wenn wir aber auch an ihnen gewisse zarte Schwächen sehen, so dürften wir nicht vergessen, wie zart die Materie ist, aus der sie erschaffen sind  . . .«

Der älteste Herr schüttelte nur den Kopf. In seinem Gesicht konnte man aber lesen, daß er nach wie vor der Ansicht war: »Der Krebs ist kein Fisch, und das Weib ist kein Mensch; das Weib und der Teufel haben dasselbe Gewicht.«

Am unendlichen tiefen, traurigen, goldgrünen Himmel erstrahlte in der Lücke zwischen den zerfetzten Wolken die feine silberne Sichel des Neumondes. Sie warf einen zarten Strahl in die Tiefe einer einsamen Allee, wo auf einer Rasenbank, vor einem Springbrunnen, im Halbkreise hoher geschorener Spaliere unter einer marmornen Pomona ein etwa siebzehnjähriges Mädchen saß. Sie trug einen Reifrock aus rosa Taft mit gelben chinesischen Blümchen, eine weinglasförmig zusammengeschnürte Taille und die neueste Frisur »Erblühende Anmut«; in ihrem einfachen, echt russischen Gesicht war aber geschrieben, daß sie erst vor kurzem aus der ländlichen Stille, wo sie von Tanten und Kinderfrauen bemuttert, unter dem Strohdach eines alten Gutshauses gelebt hatte, angekommen war.

Scheu um sich blickend, knöpfte sie zwei oder drei Knöpfe ihres Mieders auf und holte hastig ein im Busen verstecktes, zu einer Röhre zusammengerolltes, von der Berührung mit ihrem Körper noch warmes Papier heraus. Es war ein Liebesbillett von ihrem neunzehnjährigen Cousin, der auf Befehl des Zaren aus derselben ländlichen Stille direkt nach Petersburg auf die Navigationsschule der Admiralität gebracht worden war und vor einigen Tagen auf einer Kriegsfregatte zusammen mit anderen Seekadetten entweder nach Kadix oder nach Lissabon, jedenfalls aber, wie er sich selbst ausdrückte, »dorthin, wo der Teufel Ostern feiert«, abgereist war.

Im Scheine der Weißen Nacht und des Mondes las das Mädchen das Billett, das auf Linien mit großen, runden, unbeholfenen Buchstaben gekritzelt war:

»Mein Herzensschatz und Engel Nastenjka! Ich möchte gerne wissen, warum du mir keinen Abschiedskuß geschickt hast. Cupido, der verdammte Dieb, hat mir das Herz mit seinem Pfeile durchbohrt. Ich habe großen Kummer, und in meinem wunden Herzen ist das Blut geronnen.«

An dieser Stelle war zwischen den Zeilen mit Blut statt mit Tinte ein von zwei Pfeilen durchbohrtes Herz gemalt; einige rote Punkte sollten die Blutstropfen darstellen.

Weiter folgte ein Gedicht, das er wohl irgendwo abgeschrieben hatte:

Denke, meine liebe Wonne, wie wir uns erfreuten
Und mit angenehmen süßen Reden uns zerstreuten.
Ach so viele lange Tage muß ich dich entbehren!
Fliege zu mir, teures Täubchen, trockne meine Zähren!
Wenn ich dich vor mir erblicke, ruf ich: »Meine Sonne,
Bist du's wirklich, meine Holde, meine einz'ge Wonne?«

Nachdem Nastenjka das Billett zu Ende gelesen hatte, rollte sie es wieder sorgfältig zusammen, versteckte es am Busen unter dem Kleide, senkte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit ihrem Tüchlein, das nach dem Parfüm »Amors Seufzer« duftete.

Als sie das Tuch wieder vom Gesicht nahm und zum Himmel emporblickte, sah sie, daß eine schwarze Wolke, die einem Ungetüm mit offenem Rachen glich, die feine Mondsichel beinahe verschlungen hatte. Der letzte Strahl spielte im Tränentropfen, der an der Wimper des Mädchens hing. Sie beobachtete, wie der Mond allmählich verschwand, und sang ganz leise das einzige ihr bekannte Liedchen, das einst Gott weiß auf welchen Wegen zu ihr gedrungen war:

Wenn ich auch im schönsten Garten bin,
Kann doch nichts erheitern meinen Sinn.
Wie die Taube ohne Flügel leidet,
Leid' ich, wenn der liebe Freund mich meidet.
Ich vergieße Tränen und vergehe,
Wenn ich meinen liebsten Freund nicht sehe.

Alles um sie her war ihr fremd, gekünstelt und »nach Versailler Mode« zugestutzt: die Fontäne, die Pomona, die Spaliere, das Fischbeinmieder, der Reifrock aus rosa Taft mit den gelben chinesischen Blümchen, die Frisur »Erblühende Anmut« und das Parfüm »Amors Seufzer«. Nur sie allein mit ihrem stillen Gram und stillem Lied war noch ebenso natürlich, einfach und russisch, wie sie es unter dem Strohdache des großväterlichen Gutshauses gewesen war.

Und in der Nähe, in den dunklen Alleen und Lauben, in allen heimlichen Winkeln des Sommergartens hörte man noch immer ein Flüstern, Tuscheln, Rascheln, Küsse und Liebesseufzer. Und zugleich mit den Klängen des Menuetts, die wie Musik von Hirtenflöten und Liebesgeigen im Reiche der Venus anzuhören waren, tönte die schmachtende Weise:

Cupido, laß den Pfeil,
Wir sind ja nicht mehr heil,
Wir sind so süß versehret
Durch deinen Pfeil von Golde,
Die Liebe, ach, die holde,
An unsren Herzen zehret . . .

Am Zarentische in der Galerie herrschte eine lebhafte Unterhaltung.

Peter sprach mit den Mönchen über die Entstehung der hellenischen Vielgötterei und äußerte sein Erstaunen darüber, daß die alten Griechen, »die ein ziemliches Verständnis für die Naturgesetze und die mathematischen Prinzipien gehabt hätten, ihre seelenlosen Götzen Götter nannten und an sie glaubten«.

Michailo Petrowitsch Awramow konnte sich nicht länger beherrschen; er fühlte sich in seinem Element und begann zu beweisen, daß die Götter tatsächlich existierten und daß die vermeintlichen Götter in Wirklichkeit Teufel seien.

»Du sprichst von ihnen so,« sagte Peter erstaunt, »als ob du sie gesehen hättest.«

»Ich nicht, aber andere Leute haben sie mit eigenen Augen gesehen, Majestät,« rief Awramow aus.

Er holte aus der Tasche ein dickes ledernes Portefeuille, wühlte darin herum, suchte zwei vergilbte Ausschnitte aus holländischen Zeitungen heraus und übersetzte sie ins Russische:

»Aus Spanien wird gemeldet: ein gewisser Ausländer hat in die Stadt Barcelona einen Satyr, einen mit Wolle wie mit Fichtenrinde bewachsenen Mann mit Bockshörnern und Hufen gebracht. Er lebt von Brot und Milch, spricht nicht, sondern meckert wie ein Bock. Diese mißgestaltete Erscheinung zieht viele Zuschauer an.«

Im zweiten Bericht hieß es:

»In Jütland fingen die Fischer eine Sirene oder ein Meerweib. Dieses Meerwunder gleicht oben einem Menschen und unten einem Fische; die Hautfarbe ist blaßgelb; die Augen sind geschlossen; auf dem Kopfe hat die Sirene schwarze Haare und zwischen den Fingern Schwimmhäute wie eine Gans. Die Fischer zogen das Netz mit großer Mühe heraus, wobei es stark beschädigt wurde. Die Einwohner bauten ein sehr großes Faß, füllten es mit Salzwasser und setzten das Meerweib hinein; sie hoffen, es auf diese Weise vor Fäulnis zu bewahren. Obwohl schon viele Fabeln über Meerwunder im Umlaufe sind, setzen wir obiges in diese Zeitung, weil es wirklich feststeht, daß das erstaunliche Meerwunder tatsächlich gefangen worden ist. Aus Rotterdam, den 27. April 1714.«

Man glaubte jedem gedruckten Wort, besonders aber, wenn es in einer ausländischen Zeitung stand: Wenn man auch im Auslande lügt, wo kann man dann überhaupt noch Wahrheit finden? Viele der Anwesenden glaubten an Seejungfrauen, an Wassergeister, Waldteufel, Kobolde, Hausgeister und Werwölfe; sie glaubten nicht nur daran, sie behaupteten auch, diese Geister mit eigenen Augen gesehen zu haben. Und wenn es Waldteufel gibt, warum soll es keine Satyre geben? Und wenn es Seejungfrauen gibt, warum nicht auch Meerweiber mit Fischschwänzen? Und in diesem Falle können ja auch die übrigen Götter und sogar diese selbe Venus tatsächlich existieren!

Alle hielten inne und schwiegen – durch die Stille zog etwas Unheimliches – alle hatten das unklare Gefühl, als ob sie etwas täten, was man nicht tun durfte.

Immer tiefer und schwärzer senkte sich der mit Wolken bedeckte Himmel herab. Immer greller zuckten die bläulichen Wetterleuchten oder die donnerlosen Blitze. Und es war, als ob dieses Aufleuchten am dunklen Himmel eine Spiegelung der zuckenden bläulichen Flamme wäre, die immer noch im Dreifuß zu Füßen der Statue brannte, oder als ob in der Tiefe des dunklen Himmels wie in der umgekehrten Opferschale eines Riesenaltars, in den dunklen Wolken wie in schwarzen Kohlen verborgen, eine blaue Flamme lodere und ab und zu als ein Wetterleuchten hervorbreche. Und das Feuer des Himmels und das Feuer des Altars, die in gleichen Zuckungen loderten, schienen ein Zwiegespräch über ein drohendes, den Menschen noch unbekanntes, doch schon auf Erden und im Himmel in Erfüllung gehendes Geheimnis zu führen.

Der Zarewitsch, der in der Nähe der Statue saß, sah sie nach der Vorlesung der Zeitungsausschnitte zum erstenmal aufmerksam an. Und der weiße nackte Leib der Göttin erschien ihm plötzlich so bekannt, als ob er ihn schon einmal irgendwo gesehen hätte, ja noch mehr als das: als ob ihm dieser Leib mit der jungfräulichen Rückenlinie, diesen Grübchen an den Schultern schon einmal in seinen sündhaftesten, leidenschaftlichsten, heimlichsten Träumen, deren er sich selbst schämte, erschienen wäre. Und plötzlich fiel es ihm ein, daß er diese selbe Rückenlinie und diese Grübchen bei seiner Geliebten, der leibeigenen Magd Jewfrossinja gesehen hatte. Es schwindelte ihm, wahrscheinlich vom Weine, von der Hitze, von der Schwüle, von diesem ganzen ungeheuerlichen Feste, das wie ein Fieberdelirium war. Er blickte die Statue noch einmal an, und der weiße nackte Leib erschien ihm in der doppelten Beleuchtung der rötlich glimmenden Talgnäpfchen der Illumination und der blauen Flamme im Dreifuße so lebendig, schrecklich und verführerisch, daß er den Blick senken mußte. Wird denn auch ihm wie dem Awramow die Göttin Venus einst als ein schrecklicher, abstoßender Werwolf, als die Magd Afrosjka erscheinen? Er schlug in Gedanken ein Kreuz.

»Es ist kein Wunder, daß die Hellenen, die von den christlichen Satzungen nichts wußten, die seelenlosen Götzenbilder anbeteten,« sagte Fedoska, das Gespräch, das durch die Vorlesung unterbrochen war, wieder aufnehmend. »Aber ein Wunder ist es, daß wir Christen die wahre Ikonenverehrung nicht kennen und die Ikonen wie die Götzenbilder anbeten.«

Nun begann eines der Gespräche, die Peter so sehr liebte: von allerlei falschen Wundern und Zeichen, von den Schwindeleien der Mönche, der Besessenen und der Narren in Christo, von den »Ammenmärchen und dem Geschwätz der langbärtigen Bauern«, d. h. von dem Aberglauben der russischen Popen. Alexej mußte noch einmal die ihm längst bis zum Überdruß bekannten Geschichten mit anhören: vom angeblich unverbrennbaren Hemde der Muttergottes, das der Zarin Jekaterina Alexejewna von den Jerusalemer Mönchen zum Geschenk gemacht worden war, und das sich bei näherer Untersuchung als ein Gewebe von unverbrennbaren Asbestfasern herausstellte; von den »natürlichen Reliquien« des livländischen Fräulein von Groot, deren Haut »gegerbtem, aufgespanntem Schweinsleder glich und, wenn man einen Finger hineindrückte, sich als sehr elastisch erwies«; von anderen gefälschten Reliquien, die aus Elfenbein gemacht waren und die Peter der neuerrichteten Petersburger »Kunstkammer« als Denkmal »des Aberglaubens, der heute durch die Bemühungen der Geistlichkeit allmählich ausgerottet wird«, überweisen ließ.

»Ja, genug ist in der russischen Kirche mit den Wundern geschwindelt worden!« schloß Fedoska scheinbar bekümmert, in Wirklichkeit aber mit Schadenfreude. Dann erzählte er vom letzten falschen Wunder: in einer armen Kirche der Petersburger Seite war ein Muttergottesbild aufgetaucht, das Tränen vergoß und der neuen Stadt unsägliches Elend und sogar den Untergang prophezeite. Als Peter durch Fedoska von diesem Wunder erfahren hatte, war er sofort in die Kirche gefahren, hatte das Bild untersucht und den Schwindel aufgedeckt. Das war erst vor kurzem geschehen; man hatte noch nicht Zeit gehabt, die Ikone in die Kunstkammer zu bringen, und sie befand sich im Sommerpalais des Zaren, einem kleinen holländischen Häuschen, das im Sommergarten, wenige Schritte von der Galerie, an der Ecke der Newa und der Fontanka stand.

Der Zar wollte die Ikone den Anwesenden zeigen und schickte einen der Diener, sie zu holen.

Als der Diener wiederkam, stand Peter von seinem Platze auf, trat vor die Venusstatue, wo es etwas geräumiger war, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Marmorsockel und begann, die Ikone mit beiden Händen haltend, den »Schwindelmechanismus« zu erklären. Alle drängten sich um ihn, stellten sich auf die Fußspitzen und blickten einander ebenso neugierig über die Köpfe und Schultern hinweg, wie vorhin, als die Kiste mit der Statue geöffnet wurde. Fedoska leuchtete mit einer Kerze.

Die Ikone war uralt, das Antlitz dunkel, fast schwarz. Aber die großen, traurigen, wie vom Weinen angeschwollenen Augen blickten wie lebendig. Der Zarewitsch hatte dieses Bild der »Muttergottes aller Leidenden Freude« von Kindheit auf verehrt und geliebt.

Peter nahm das mit Edelsteinen besetzte Silberblech herunter, das nur ganz lose auf dem Bilde lag: man hatte es schon bei der ersten Besichtigung heruntergerissen. Dann löste er zwei neue Messingschrauben, mit denen an der Rückseite des Bildes ein ebenfalls neues Brettchen aus Lindenholz befestigt war; in dieses Brettchen war ein anderes kleineres eingesetzt, das sich leicht auf einer Sprungfeder bewegte und dem leisesten Fingerdruck nachgab. Er nahm beide Brettchen herunter und zeigte zwei kleine Vertiefungen, die im Holze gerade unter den Augen der Muttergottes ausgehöhlt waren; zwei kleine mit Wasser getränkte Schwämme wurden in diese Öffnungen gelegt, und das Wasser sickerte durch die beiden kaum sichtbaren in die Augen gebohrten Löcher hindurch und bildete Tropfen, die wie Tränen aussahen.

Um die Sache besser zu erklären, machte Peter gleich den Versuch: er feuchtete die Schwämmchen an, legte sie in die Vertiefungen, drückte auf das Brettchen, und in den Augen des Bildes zeigten sich Tränen.

»Das ist die Quelle der wundertätigen Tränen,« sagte Peter. »Die Mechanik ist ja recht einfach!«

Sein Gesicht blieb dabei so ruhig, wie wenn er irgendein interessantes Naturspiel oder ein anderes Wunder in seiner Kunstkammer erklärte.

»Ja, es ist viel geschwindelt worden!« wiederholte Fedoska mit leisem Lächeln.

Alle schwiegen. Jemand, wohl ein Betrunkener, stöhnte dumpf im Schlafe; jemand anderer kicherte so seltsam und unerwartet, daß sich alle fast entsetzt nach ihm umsahen.

Alexej wollte schon lange fortgehen. Über ihn war aber eine Erstarrung gekommen wie im Fiebertraume, wenn man fliehen will, und seine Füße nicht bewegen kann, wenn man schreien will, und keine Stimme hat. So stand er in dieser Erstarrung da und sah, wie Fedoska die Kerze hielt, wie die gewandten Finger Peters mit der Ikone hantierten, wie über das traurige Antlitz Tränen herabliefen und wie über allem der nackte, schreckliche und verführerische Leib der Venus leuchtete. Er sah zu, und ein Gram, eine Übelkeit, wie man sie in der Sterbestunde spürt, drang ihm in das Herz und würgte ihn an der Kehle. Und es war ihm, als ob es niemals enden würde, als ob es immer so gewesen sei und in alle Ewigkeit so bleiben werde.

Plötzlich zuckte ein blendender Blitz auf; es war, als ob sich über ihren Köpfen ein flammender Abgrund aufgetan hätte. Ein unerträglich greller, weißer Schein, viel weißer als die Sonne, drang durch die Glaskuppel und übergoß die Marmorstatue. Fast im gleichen Augenblick erdröhnte ein kurzer doch so betäubender Donnerschlag, als ob das ganze Firmament in Stücke geborsten wäre.

Die Finsternis, die nun eintrat, erschien nach dem Blitze so undurchdringlich schwarz wie das Dunkel eines Kellers. Und in dieser Schwärze begann fast augenblicklich ein Sturm zu heulen, zu pfeifen und zu dröhnen, ein Orkan mit peitschendem Regen und Hagel.

In der Galerie entstand eine große Verwirrung. Man hörte die gellen Aufschreie der Frauen; die eine von ihnen bekam einen hysterischen Anfall und weinte und lachte zugleich. Die Menschen waren wie verrückt, sie rannten hin und her, ohne zu wissen wohin, stießen miteinander zusammen und fielen übereinander her. Jemand schrie mit verzweifelter Stimme: »Heiliger Wundertäter Nikola! . . . Heilige Muttergottes! . . . Erbarmet Euch unser! . . .«

Peter ließ die Ikone fallen und eilte fort, um die Zarin aufzusuchen.

Die Flamme des umgeworfenen Dreifußes zuckte vor dem Erlöschen zum letztenmal als eine zwiegespaltene riesengroße bläuliche Schlangenzunge auf und erleuchtete das Antlitz der Göttin. Mitten im Sturm und Dunkel und dem Entsetzen, das alle ergriffen hatte, war es allein ruhig geblieben.

Jemand trat auf die Ikone, Alexej, der sich gebeugt hatte, um sie aufzunehmen, hörte das Holz bersten. Die Ikone war mitten entzweigespalten.

 


 


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