Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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II.

Der Prozeß gegen die Ketzer kam vor den neuerrichteten Heiligsten Synod.

Laut Gerichtsbeschluß wurden der flüchtige Kosak Amerjanka Bespalyj und seine leibliche Schwester Akulina gerädert. Die andern wurden mit der Knute gepeitscht, durch Aufreißen der Nasenlöcher gebrandmarkt und die Männer nach Sibirien und die Weiber in Spinnhäuser und Klostergefängnisse geschickt.

Tichon, der im Gefängnisspital an seinen Wunden beinahe gestorben wäre, rettete sein früherer Gönner, der General Jakow Williamowitsch Bruce. Er nahm ihn bei sich auf, heilte ihn und verwendete sich für ihn beim Bischof von Nowgorod, Feofan Prokopowitsch. Feofan nahm sich Tichons an, denn er zeigte gern sein Hirtenmitleid mit den verirrten Schafen, das er stets predigte: »Gegen die Gegner der Kirche soll man mit Milde und Vernunft auftreten und nicht, wie man es jetzt tut, mit grausamen Worten und Verbannungen.« Er erwartete auch, daß die Lossagung Tichons von der Ketzerei und sein Wiedereintritt in die rechtgläubige Gemeinde den andern Ketzern und Raskolniki als wohltuendes Beispiel dienen würde.

Feofan rettete ihn vor der Knutenstrafe und der Verbannung, nahm ihn zu sich ins Haus, um seine Buße zu überwachen, und brachte ihn nach Petersburg.

Die Petersburger Wohnung des Bischofs befand sich auf der Apothekerinsel, am Flusse Karpowka, inmitten eines dichten Waldes. Im Erdgeschoß des Hauses lag die Bibliothek. Als Feofan das Interesse Tichons für die Bücher sah, betraute er ihn mit der Neueinordnung der Bibliothek. Die Fenster, die auf den Wald hinausgingen, standen in den heißen Sommertagen meistens offen, und die Stille des Waldes floß mit der Stille der Bibliothek, und das Rauschen des Laubes mit dem Rauschen der Buchseiten zusammen. Man hörte hier den Specht picken und den Kuckuck rufen. Man sah zuweilen ein Elchpaar, das man von der damals noch ganz wüsten Petrowskii-Insel hierher getrieben hatte, auf die Waldwiese heraustreten. Ein grünliches Dämmerlicht füllte das Zimmer. Es war hier frisch und gemütlich. Tichon verbrachte hier ganze Tage unter den Büchern. Es war ihm, als ob er in die Bibliothek des Jakow Bruce zurückgekehrt wäre, als wären seine vier Wanderjahre nur ein Traum gewesen.

Feofan war gütig gegen ihn. Er trieb ihn nicht zur schnelleren Rückkehr in den Schoß der rechtgläubigen Kirche an und gab ihm nur, aus Ermangelung eines russischen Katechismus, einige deutsche theologische Werke zu lesen. In freien Stunden unterhielt er sich mit ihm über das Gelesene und berichtigte die falschen, von der Lehre der rechtgläubigen Kirche abweichenden Ansichten der Protestanten. In der übrigen Zeit durfte Tichon alles tun, was ihm beliebte.

Tichon nahm seine mathematischen Studien wieder auf. In der Kälte der reinen Vernunft ruhte er sich vom Feuer des Wahnsinns, vom Delirium des Roten und des Weißen Todes aus.

Er las auch in den Werken der Philosophen Descartes, Leibniz und Spinoza. Er erinnerte sich noch an die Worte des Pastors Glück: »Die wahre Philosophie entfremdet von Gott, wenn man nur von ihrer Oberfläche kostet; und sie führt zu Gott, wenn man aus ihrer Tiefe schöpft.«

Für Descartes war Gott der Erste Beweger der Ersten Materie. Das Weltall war für ihn eine Maschine. Er kannte weder Liebe, noch Geheimnisse, noch Leben, nichts außer der Vernunft, die sich in allen Welten wie das Licht in durchsichtigen Eiskristallen spiegelt. Tichon empfand ein Grauen vor diesem toten Gotte.

»Die Natur ist voller Leben,« behauptete Leibniz in seiner Monadologie. »Ich will beweisen, daß die Ursache einer jeden Bewegung der Geist ist, und der Geist ist eine lebendige Monade, die aus Ideen besteht, wie das Zentrum aus Winkeln.« Die Monaden sind von Gott nach der prästabilierten Harmonie zu einem Ganzen vereinigt. »Die Welt ist ein Uhrwerk Gottes, Horologium Dei.« – »Also wieder statt des Lebens – eine Maschine, statt eines Gottes – Mechanik,« – dachte Tichon, und es wurde ihm wieder unheimlich zumute.

Aber am unheimlichsten, weil am verständlichsten war für ihn Spinoza. Er sprach das aus, was die andern nicht auszusprechen wagten. »Die Behauptung, daß Gott sich in der Menschengestalt verkörpert habe, ist ebenso sinnlos, wie die Behauptung, daß ein Kreis die Natur eines Dreiecks oder eines Quadrats angenommen habe. ›Das Wort ward Fleisch‹, ist nur eine orientalische Redewendung, die für die Vernunft keinerlei Bedeutung haben kann. Das Christentum unterscheidet sich von den andern Bekenntnissen nicht durch den Glauben, nicht durch die Liebe und nicht durch irgendwelche andere Gaben des Heiligen Geistes, sondern einzig und allein dadurch, daß es sich auf Wunder, das heißt auf Unwissenheit stützt, welche der Ursprung alles Bösen ist, und auf diese Weise den Glauben in Aberglauben verwandelt.« Spinoza deckte den geheimen Gedanken aller neueren Philosophen auf: entweder mit Christo gegen die Vernunft, oder mit der Vernunft gegen Christum.

Einmal brachte Tichon bei einem Gespräche mit Feofan die Rede auf Spinoza.

»Der Grund jener Philosophie muß als dumm erscheinen,« erklärte der Bischof mit verächtlichem Lächeln, »wenn man einsieht, daß Spinoza seine Gedankengänge aus den nichtswürdigsten Widersprüchen zusammengeflochten und seine Dummheit mit verführerischen und hochmütigen Worten überdeckt hat . . .«

Diese Schmähworte vermochten Tichon weder zu überzeugen, noch zu beruhigen.

Er fand auch keinen Trost in den Werken der ausländischen Theologen, die alle älteren und neueren Philosophen mit der gleichen Leichtigkeit abfertigten, wie der russische Bischof den Spinoza.

Manchmal betraute der Bischof Tichon mit dem Abschreiben von Akten des Heiligsten Synods. In der Eidesformel des Geistlichen Reglements fielen ihm die Worte auf: »Ich bekenne unter meinem Eide als den höchsten Richter dieses Geistlichen Kollegiums den Selbstherrscher aller Reußen, unsern Allergnädigsten Zaren.« Der Zar war also das Haupt der Kirche, der Zar stand an Stelle Christi.

»Magnus ille Leviathan, quae Civitas appellatur, officium artis est et Homo artificialis. – Jener große Leviathan, den man Staat nennt, ist ein künstliches Erzeugnis und ein künstlicher Mensch.« Ihm fielen diese Worte aus dem Werke »Leviathan« des englischen Philosophen Hobbes ein, der ebenfalls behauptete, daß die Kirche ein Teil des Staates, ein Glied des großen Leviathans, des riesenhaften Automaten sein müsse; vielleicht gar ein Glied des »Bildes des Tieres«, das nach dem Ebenbilde jenes Gottes-Tieres geschaffen ist, von dem die Apokalypse spricht?

Die Kälte der Vernunft, die ihm aus dieser toten Kirche eines toten Gottes entgegenwehte, war für Tichon ebenso tödlich wie das Feuer des Wahnsinns und wie die Flammen des Roten und des Weißen Todes.

Schon war der Tag festgesetzt, an dem an Tichon in der Dreifaltigkeits-Kathedrale die Zeremonie der heiligen Ölung zum Zeichen seines Wiedereintritts in die rechtgläubige Kirche vollzogen werden sollte.

Am Vorabend dieses Tages hatte Feofan in seine Wohnung an der Karpowka Gäste zum Abendessen geladen.

Es war eine jener Versammlungen, die Feofan in seinen lateinischen Briefen »noctes atticae – Attische Nächte« zu nennen pflegte. Indem die Gäste zu den gesalzenen und geräucherten Fastenspeisen der bischöflichen Küche das berühmte Bier des P. Kellermeisters Gerassim tranken, unterhielten sie sich über Philosophie, über die »Erscheinungen und Satzungen der Natur«, meistenteils in einem sehr freien, wie manche behaupteten, sogar atheistischen Geiste.

Tichon stand in der Glasgalerie, die die Bibliothek mit dem Speisezimmer verband, und lauschte aus der Ferne dieser Unterhaltung.

»Unter klugen Menschen kann ein Streit über Glaubenssachen gar nicht vorkommen, denn der kluge Mensch kümmert sich nicht darum, was der andere glaubt und ob er Lutheraner, Kalvinist oder Heide ist; denn er sieht nicht auf den Glauben, sondern auf die Handlungen und die Moral des Menschen« sagte Bruce.

»Uti boni vini non est quaerenda regio, sic nec boni viri religio et patria.– Man soll nach dem Ursprung eines guten Weines ebensowenig forschen wie nach dem Glauben und der Herkunft eines guten Mannes,« bestätigte Feofan.

»Das Studium der Philosophie können nur entweder Unwissende oder schlechte Pfaffen verbieten,« bemerkte Wassilij Nikitisch Tatischtschew, der Präsident des Bergkollegiums.

Der gelehrte Hieromonach P. Markell suchte zu beweisen, daß viele Heiligengeschichten gegen die Wahrscheinlichkeit sündigten.

»Es ist viel geschwindelt worden!« wiederholte er den berühmten Ausspruch Fedoßkas.

»In unsern Tagen gibt es keine Wunder mehr,« stimmte Doktor Blumentrost dem Hieromonachen bei.

»Dieser Tage,« begann mit feinem Lächeln Peter Andrejewitsch Tolstoi, »besuchte ich einen Freund, bei dem ich zwei Garde-Unteroffiziere antraf. Sie hatten einen großen Streit: der eine bejahte und der andere verneinte die Existenz Gottes. Der Verneinende schrie: ›Rede keinen Unsinn, es gibt keinen Gott!‹ Ich mischte mich in den Streit ein und fragte: ›Wer hat dir gesagt, daß es keinen Gott gibt?‹ – ›Leutnant Iwanow gestern auf dem Gostinnyj-Dwor!‹ – ›Das ist auch der richtige Ort!‹ . . .«

Alle lachten, alle waren guter Dinge.

Tichon war es unheimlich zumute.

Er fühlte, daß diese Menschen einen Weg eingeschlagen hatten, den sie nicht zu Ende gehen würden, und daß sie früher oder später in Rußland dorthin gelangen würden, wo man in Westeuropa bereits angelangt war: entweder mit Christo gegen die Vernunft, oder mit der Vernunft gegen Christum.

Er kehrte in die Bibliothek zurück, setzte sich ans Fenster neben die Wand, an der die gleichmäßigen Bücherreihen in gleichen Leder- und Pergamenteinbänden standen, blickte auf den leeren, toten, schrecklichen weißen Himmel über den schwarzen Tannen und dachte an die Worte Spinozas:

»Gott und der Mensch haben ebensowenig miteinander gemein, wie das Sternbild des Hundes mit dem Hunde, dem bellenden Tiere. Der Mensch kann wohl Gott lieben, aber Gott kann den Menschen nicht lieben.«

Dort im toten Himmel schien der tote Gott zu wohnen, der nicht lieben kann. Es wäre schon besser, zu wissen, daß es überhaupt keinen Gott gäbe. »Und vielleicht gibt es auch wirklich keinen?« dachte er sich, und ihn überfiel derselbe Schrecken wie damals, als Iwanuschka zu weinen und Awerjanka, der über ihn das Messer gezückt, zu lächeln begonnen hatte.

Tichon sank in die Knie und begann zu beten, indem er zum Himmel emporstarrte und nur das eine Wort wiederholte:

»Gott! Gott! Gott!«

Doch im Himmel herrschte ein Schweigen, und auch in seinem Herzen war nichts als Schweigen. Ein grenzenloses Schweigen, ein grenzenloses Grauen.

Aus dem tiefsten Abgrund dieses Schweigens sprach aber plötzlich jemand zu ihm. Jemand antwortete ihm und sagte ihm, was er zu tun habe.

Tichon stand auf, stieg in seine Kammer, zog unter dem Bette sein Köfferchen hervor, holte daraus seine alte Pilgerkutte, den Ledergürtel, den Rosenkranz, das Käppchen, das kleine Bild der heiligen Sophia, der Allweisheit Gottes, das ihm einst Sofja geschenkt hatte, zog den Rock und die übrige deutsche Kleidung aus, legte die aus dem Köfferchen hervorgeholten Sachen an, nahm den Ranzen über die Schulter, ergriff den Stock, bekreuzigte sich und ging, von niemand bemerkt, aus dem Hause in den Wald.

Am nächsten Morgen, als es Zeit war, in die Kirche zur heiligen Ölung zu gehen, begann man Tichon überall zu suchen. Man suchte lange Zeit, konnte ihn aber nicht finden. Er war spurlos verschwunden, wie von der Erde verschlungen.


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