Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.

Im Palais roch es nach saurer Kohlsuppe. Zum Mittagessen wurde eine Kohlsuppe gekocht. Peter liebte sie wie alle einfachen Soldatengerichte.

Das Speisezimmer war durch ein Fenster mit der außerordentlich sauberen Küche verbunden, die wie die altholländischen Küchen mit Kacheln ausgelegt war und deren Wände glänzendes Kupfergeschirr schmückte; die Speisen wurden durch dieses Fenster in rascher Folge hineingereicht: der Zar liebte es nicht, lange bei Tisch zu sitzen. Außer Kohlsuppe und Grütze gab es Flensburger Austern, Sülze, Sprotten, Rindsbraten mit Gurken und gesalzenen Zitronen und Entenfüßchen in saurer Sauce. Er bevorzugte überhaupt alles Saure und Gesalzene; Süßes konnte er nicht leiden. Zum Nachtisch gab es Nüsse, Äpfel und Limburger Käse. Zum Trinken – Kwas und französischen Rotwein »Eremitage«. Nur ein einziger Kammerlakai wartete bei Tafel auf.

Es waren wie immer einige Gäste zu Tisch geladen: Jakob Bruce, der Leibarzt Blumentrost, irgendein englischer Steuermann, der Kammerjunker Mons und die Hofdame Hamilton. Peter hatte Mons ganz unerwartet für Katenjka eingeladen. Als sie davon erfuhr, lud sie ihrerseits die Hofdame Hamilton ein, vielleicht um ihrem Mann verstehen zu geben, daß ihr manches von seinen Liebesaffairen bekannt war. Es war dieselbe Schottländerin Hamilton, die »Dirne Hamentow«, die so stolz, keusch und kalt wie eine marmorne Diana schien und über die getuschelt wurde, als man in der Wasserröhre der Fontäne im Sommergarten eine Kinderleiche gefunden hatte, die in eine aus dem Palais stammende Serviette eingewickelt war.

Sie saß ganz blaß, ohne einen einzigen Blutstropfen im Gesicht bei Tisch und sprach während der ganzen Zeit kein Wort.

Trotz aller Bemühungen Katenjkas wollte kein ordentliches Gespräch zustande kommen. Sie erzählte den Traum, den sie letzte Nacht gehabt hatte: ein böses Tier mit weißem Fell und einer Krone auf dem Kopfe, auf der drei Kerzen brannten, habe mehreremale das unverständliche Wort »Saldoreth!« geschrieen.

Peter liebte die Träume und schrieb sie sich oft nachts auf seiner Schiefertafel auf. Nun erzählte er auch seinen Traum: nichts als Wasser, Seemanöver, Schiffe und Galeonen; er hatte im Traume bemerkt, daß »die Segel und Masten in der Größe nicht zueinander stimmten«.

»Ach, Väterchen!« sagte Katenjka gerührt. »Selbst im Schlafe hast du keine Ruhe und denkst immer an deine Schiffe!«

Als er wieder in finsteres Schweigen versank, brachte sie die Rede auf die neuen Schiffe.

»Der ›Neptun‹ ist ein vortreffliches, schnelles Schiff und wohl das beste in der ganzen Flotte. Auch der ›Hangöudd‹ ist ein schnelles Schiff und gehorcht leicht dem Steuer; für seine Höhe ist er aber nicht genügend steif: beim leisesten Wind legt er sich mehr auf die Seite als alle andern; wie wird er sich erst bei einem richtigen Sturme verhalten? Die große Kanonenschaluppe, die der Baas van Rehn erbaut hat, wollte ich vor Eurer Rückkehr nicht vom Stapel laufen lassen; damit sie nicht eintrocknet, ließ ich sie mit Brettern bedecken.«

Sie sprach von den Schiffen wie von ihren leiblichen Kindern:

»Der ›Hangöudd‹ und der ›Leßnoj‹ sind wie zwei Brüder: der eine kann ohne den andern gar nicht leben. Jetzt, wo sie nebeneinander liegen, ist es eine Freude, sie anzusehen. Die fertig gekauften Schiffe können im Vergleich mit den von uns erbauten als ›Pflegekinder‹ bezeichnet werden, denn sie unterscheiden sich von den unsrigen ebenso sehr, wie in den Augen des Vaters der Pflegesohn vom leiblichen Sohn.«

Peter antwortete einsilbig und schien an etwas anderes zu denken. Er blickte verstohlen bald Katenjka, bald Mons an. Mit dem festen, glatten, wie aus einem rosafarbigen Stein gemeißelten Gesicht und den türkisblauen Augen glich der elegante Kammerjunker einer Porzellanpuppe.

Katenjka fühlte, daß ihr »Greis« sie beobachtete. Sie beherrschte sich aber meisterhaft, wenn sie auch etwas von der Denunziation wußte, so verriet sie doch nicht die geringste Unruhe. Es konnte höchstens auffallen, daß ihre Augen, wenn sie ihren Mann anblickte, noch etwas mehr einschmeichelnde Freundlichkeit ausdrückten als sonst; vielleicht sprach sie auch etwas zu viel, immer von einem Thema auf das andere überspringend, als ob sie nach einem Gegenstand suchte, der die Aufmerksamkeit ihres Mannes fesseln könnte. »Sie bespricht mir die Zähne«, hätte er sich sagen können.

Sie war noch nicht mit den Schiffen zu Ende, als sie die Rede auf die Kinder Lisanjka und Annuschka brachte, denen im Sommer »die Blattern beinahe die Gesichtchen verdorben hätten«, und auf das »Tannenzäpfchen«, dessen Gesundheit nach dem letzten Zahnen etwas gelitten hätte.

»Mit Gottes Hilfe kehrt nun sein gewöhnlicher Zustand wieder zurück. Jetzt ist schon der fünfte Zahn glücklich durchgebrochen. Gebe Gott, daß es auch bei den folgenden Zähnen ebenso gut abläuft! Er hat nur noch Schmerzen im rechten Auge.«

Peter wurde für einen Augenblick lebhaft und erkundigte sich beim Leibarzt nach dem Gesundheitszustande des »Zäpfchens.«

»Seiner Hoheit geht es mit dem Auge besser«, teilte Blumentrost mit. »Es hat sich auch schon ein Zähnchen auf der anderen Seite unten gezeigt. Er geruht jetzt mit den Fingerchen etwas tiefer hineinzutasten: offenbar wollen auch die Backenzähnchen durchbrechen.«

»Er wird einmal ein tapferer General werden!« mischte sich Katenjka ein. »Er will nur mit Soldaten spielen und sich immer mit dem Abrichten der Rekruten und dem Kanonenschießen ergötzen. Er kann jetzt nur diese drei Worte sprechen: Papa, Mama, Soldat! Ja, ich muß Euch bitten, Väterchen, mich in Schutz zu nehmen, denn er beginnt mit mir immer zu zanken, wenn Ihr fortreist. Wenn ich ihm sage, daß der Papa verreist ist, mag er es gar nicht hören. Aber er ist außer sich vor Freude, wenn ich sage, daß der Papa wieder hier ist,« sagte Katenjka in singendem Tone und blickte ihrem Mann mit süßlichem Lächeln gerade in die Augen.

Peter erwiderte nichts, warf aber plötzlich auf sie und auf Mons einen solchen Blick, daß es allen ganz bange wurde. Katenjka schlug die Augen nieder und erbleichte. Die Hamilton hob die Augen und lächelte leise. Schweigen trat ein. Es wurde allen ganz unheimlich zumute.

Peter wandte sich aber, als ob nichts vorgefallen wäre, an Jakob Bruce und begann mit ihm über Astronomie zu sprechen, über das Newtonsche System, die Sonnenflecke, die man durch ein Fernrohr mit geschwärztem Okular sehen kann und über die bevorstehende Sonnenfinsternis. Er war vom Gespräch so hingerissen, daß er bis zum Schluß der Tafel auf nichts anderes achtete. Noch bei Tische sitzend, zog er sein Notizbuch aus der Tasche und notierte:

»Das Volk von der Sonnenfinsternis zu unterrichten, damit sie es nicht für ein Wunder halten können; denn was die Menschen vorher wissen, ist kein Wunder mehr. Daß niemand sich untersteht, Fabeln über falsche Wunder zu erfinden und zum Ärgernis des Volkes zu verbreiten.«

Alle atmeten erleichtert auf, als Peter von der Tafel aufstand und sich ins anstoßende Zimmer begab.

Er ließ sich in einen Sessel vor dem brennenden Kamin nieder, setzte sich seine große eiserne Brille mit den runden Gläsern auf, zündete sich die Pfeife an und begann die neuen holländischen Zeitungen durchzusehen, wobei er mit einem Bleistift die Stellen am Rande bezeichnete, die für die russischen Zeitungen übersetzt werden sollten. Er holte wieder sein Notizbuch hervor und schrieb ein:

»Über Glück und Unglück soll alles gedruckt werden, was vorgeht; nichts soll verheimlicht werden.«

Ein bleicher Sonnenstrahl brach durch die Wolken, scheu und schwach wie das Lächeln eines Todkranken. Das helle Viereck, das der Fensterrahmen am Boden zeichnete, streckte sich bis zum Kamine hin, und die rote Flamme wurde dünner und durchsichtiger. Hinter den Fenstern hoben sich die feinen Baumäste wie Äderchen vom Himmel ab, der an geschmolzenes Silber erinnerte. Der zarte, empfindliche Orangenbaum, den die Gärtner aus einem Treibhause ins andere trugen, freute sich über den Sonnenstrahl, und seine Früchte leuchteten im dunklen, gestutzten Laube wie goldene Kugeln auf. Zwischen den schwarzen Baumstämmen schimmerten die nackten, frostigen weißmarmornen Götter und Göttinnen, die letzten, die noch nicht eingesargt waren; auch sie schienen sich zu beeilen, noch einen letzten wärmenden Sonnenstrahl zu erhaschen.

Zwei kleine Mädchen kamen ins Zimmer gelaufen. Das ältere, die neunjährige Annuschka, hatte schwarze Augen, ein weißes Gesicht und rote Backen; sie war still, gesetzt, dick und etwas plump; »das Tönnchen« pflegte Peter sie zu nennen. Das jüngere, die siebenjährige Lisanjka, war blondlockig, blauäugig, leicht wie ein Vögelchen, flink und mutwillig; sie war faul beim Lernen, liebte nur Spiele, Tanz und Gesang, war sehr hübsch und bereits eine Kokette.

»Ach, ihr Räuberinnen!« rief Peter aus, indem er die Zeitungen weglegte und ihnen die Arme mit zärtlichem Lächeln entgegenstreckte. Er umarmte und küßte sie und setzte sich das eine Kind auf das eine, und das andere auf das andere Knie.

Lisanjka zog ihrem Vater die Brille von der Nase. Die Brille gefiel ihr nicht, weil sie ihn älter machte: mit der Brille kam er ihr wie ein Großvater vor. Dann flüsterte sie ihm ihren alten sehnlichen Wunsch ins Ohr:

»Der holländische Steuermann Jesajas König hat mir gesagt, es gäbe in Amsterdam einen winzigen grünen Affen, so klein, daß man ihn in eine Walnuß hineintun könne. Diesen Affen möchte ich gerne haben, lieber Papa!«

Peter zweifelte, ob ein Affe grün sein könne, gab aber das feierliche Versprechen – dreimal mußte er »bei Gott« wiederholen –, mit der nächsten Post nach Amsterdam zu schreiben. Lisanjka war ganz entzückt und begann ein neues Spiel: sie bemühte sich, ihre Hand durch die blauen Rauchringe, die aus der Pfeife Peters kamen, wie durch ein Armband zu stecken.

Annuschka erzählte wahre Wunder von der Klugheit und Sanftheit ihres Lieblings Mischka, des zahmen Seehundes, der in der mittleren Fontaine des Sommergartens wohnte.

»Papachen, warum sollte man nicht Mischka einen Sattel umbinden und auf ihm wie auf einem Pferde im Wasser herumreiten?«

»Wenn er untertaucht, müßtest du doch ertrinken, nicht wahr?« entgegnete Peter.

Mit den Kindern plauderte und lachte er wie ein Kind.

Plötzlich erblickte er im schmalen Spiegel, der zwischen zwei Fenstern stand, Mons und Katenjka. Sie standen zusammen im Nebenzimmer vor dem Liebling der Zarin, dem grünen guineischen Papagei und fütterten ihn mit Zucker.

»Eure Majestät ist ein Dummkopf!« kreischte der Papagei durchdringend. Man hatte ihm die Worte gelehrt: »Wünsche Gesundheit Eurer Majestät!« und »Der Papagei ist ein Dummkopf!«; er hatte aber beide Sätze durcheinandergebracht.

Mons hatte sich zur Zarin gebeugt und erzählte ihr etwas, beinahe ins Ohr. Katenjka hielt die Augen gesenkt, war etwas rot geworden und hörte ihm zu mit dem gezierten, süßlichen Lächeln einer Schäferin aus der »Fahrt nach der Insel der Cythere«.

Peters Gesicht verfinsterte sich plötzlich. Aber er küßte seine Kinder und verabschiedete sie mit zärtlichen Worten:

»Geht jetzt, geht mit Gott, ihr Räuberinnen! Grüße deinen Mischka von mir, Annuschka!«

Der Sonnenstrahl erlosch. Im Zimmer wurde es finster, feucht und kalt. Dicht über dem Fenster begann ein Rabe zu krächzen. Und wieder ließen sich Hammerschläge vernehmen. Man nagelte die Särge zu, in denen die auferstandenen Götter wieder begraben werden sollten.

Peter setzte sich mit Bruce an das Schachbrett. Sonst spielte er immer gut, heute war er aber zerstreut. Schon beim vierten Zug verlor er die Königin.

»Schach der Königin!« sagte Bruce.

»Eure Majestät ist ein Dummkopf!« kreischte der Papagei.

Peter erhob zufällig die Augen und erblickte wieder im gleichen Spiegel Mons und Katenjka. Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, daß sie gar nicht merkten, wie der kleine, einem Teufel ähnliche Affe von hinten herangeschlichen kam, die Pfote ausstreckte, eine schelmische Grimasse schnitt und den Saum von Katenjkas Kleid in die Höhe hob.

Peter sprang auf und stieß mit dem Fuße das Schachbrett um, so daß alle Figuren zu Boden fielen. Ein Krampf durchzuckte sein Gesicht. Die Pfeife fiel ihm aus dem Munde und zerbrach; die glühende Asche zerstob auf dem Fußboden. Auch Bruce sprang erschrocken auf. Die Zarin und Mons hörten den Lärm und wandten sich um.

Im gleichen Augenblick trat die Hamilton ins Zimmer. Sie bewegte sich wie eine Nachtwandlerin, ohne etwas zu sehen und zu hören. Als sie aber an Peter vorüberging, neigte sie kaum wahrnehmbar den Kopf und blickte ihn durchdringend an. Ihr schönes blasses, wie totes Gesicht atmete eine solche Kälte, daß man sie für eine der Marmorgöttinnen halten konnte, die eben eingesargt wurden.

Der Zar begleitete sie mit den Blicken bis zur Türe. Dann wandte er seinen Blick auf Bruce und auf das umgestoßene Schachbrett und sagte mit schuldbewußtem Lächeln:

»Entschuldige Jakow Willimowitsch . . . ich tat es nicht absichtlich . . .«

Er verließ das Palais, setzte sich in ein Boot und ruderte zu seiner Jacht hinüber, um da nach dem Essen auszuruhen.


 << zurück weiter >>