Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Buch.

Greuel der Verwüstung

 

I.

»Als der Zar im Jahre 1701 nach Woronesh reiste, um Schiffe zu bauen, brach in Moskau nach dem Willen Gottes eine Feuersbrunst aus. Der Zarenpalast im Kreml brannte nieder; es verbrannten alle Holzbauten, das Innere der Steinbauten, die heiligen Kirchen, die Kreuze, die Kirchenkuppeln, die Heiligenschreine und die Ikonen. Die große Glocke auf dem Turm ›Iwan der Große‹, die 8 000 Pud wog, stürzte herunter und zersprang, auch die Glocke der Mariä Himmelfahrts-Kathedrale zersprang, und viele andere Glocken fielen herab. Es war so, als ob die ganze Erde brannte . . .«

Das erzählte dem Zarewitsch der siebzigjährige Bewahrer der Kirchengewänder an der Moskauer Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, P. Iwan.

Der Zar reiste, bald nachdem er von seiner Krankheit genesen, am 27. Januar 1716 ins Ausland. Der Zarewitsch blieb allein in Petersburg zurück. Da er vom Vater keinerlei Nachrichten erhielt, verschob er seine Entscheidung – entweder sich zu bessern und sich der Thronfolge würdig zu zeigen, oder Mönch zu werden, – auf unbestimmte Zeit und lebte wie früher in den Tag hinein, in Erwartung der göttlichen Ratschlüsse. Den Winter verbrachte er in Petersburg, den Frühling und den Sommer in Roshdestwenno. Im Herbste reiste er nach Moskau, um seine Verwandten zu besuchen.

Am 10. September, am Vorabend vor seiner Abreise aus Moskau, besuchte er seinen alten Freund, den Mann seiner Amme, den Bewahrer der Kirchengewänder an der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, und besichtigte in seiner Begleitung den von der Feuersbrunst verwüsteten alten Kremlpalast.

Sie gingen lange von Saal zu Saal, von Turmgemach zu Turmgemach. Alles lag in Trümmern, was das Feuer verschont hatte, war von der Zeit zerstört. In vielen Sälen gab es weder Türen noch Fenster, noch Dielen, so daß man gar nicht hineingelangen konnte. In den Wänden gähnten bereits Risse. Die Gewölbe und Dächer waren eingestürzt. Alexej konnte die Zimmer, in denen er als Kind gelebt hatte, nicht wiederfinden oder wiedererkennen.

Ohne daß es ihm P. Iwan erst zu sagen brauchte, erriet er seinen Gedanken, daß die Feuersbrunst, die in demselben Jahr, als der Zar das Alte zu zerstören begann, ausgebrochen war, ein Zeichen des göttlichen Zornes sei.

Sie betraten eine kleine alte Hauskapelle, in der einst Zar Iwan der Grausame für das Seelenheil seines Sohnes, den er ermordet, gebetet hatte.

Durch einen Riß im Deckengewölbe blickte ein so tiefer und blauer Himmel herein, wie man ihn nur über Ruinen sieht. Das Spinngewebe, das die Ränder des Risses überspannte, schimmerte in allen Farben des Regenbogens; ein vom Sturme zerbrochenes Kreuz hing noch kaum an losgerissenen Ketten und drohte herabzustürzen. Die Glimmerscheiben der Fenster waren sämtlich vom Winde eingedrückt. Durch die Löcher flogen Dohlen aus und ein; sie nisteten unter den Gewölben und verunreinigten die Heiligenschreine. Weiße Streifen von Vogelkot lagen auf den dunklen Antlitzen der Heiligen. Die eine Hälfte der Altarpforte war herabgerissen, vor dem Altar war eine große Schmutzlache.

P. Iwan erzählte dem Zarewitsch, wie der Priester dieser Kirche, ein fast hundertjähriger Greis, sich lange Zeit bei allen Kanzleien und Kollegien beschwert und sich sogar an den Zaren selbst mit der Bitte um Ausbesserung und Wiederherstellung der Kirche gewandt habe, »da durch die baufälligen Gewölbe soviel Wasser hineinsickere, daß die Gefahr bestehe, die heilige Eucharistie könnte entweiht werden«. Aber niemand hätte auf ihn hören wollen. Er sei vor Kummer gestorben, und das Gotteshaus eingefallen.

Die aufgescheuchten Dohlen flatterten mit unheildrohenden Schreien empor; der Wind drang heulend und weinend zum Fenster herein. Im Spinngewebe machte sich die Spinne zu schaffen. Aus dem Altar flatterte etwas heraus – wahrscheinlich eine Fledermaus – und begann über dem Kopfe des Zarewitsch zu kreisen. Es wurde ihm ganz unheimlich zumute. Die entweihte Kirche tat ihm leid. Er mußte an das Wort des Propheten vom Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte denken.

Sie gingen am Goldenen Gitter und an der Roten Treppe vorbei und stiegen zum Fazettenpalast, der besser als die anderen erhalten war, hinab. Doch im Prunksaale, in dem früher die Empfänge von Gesandten und die feierlichen Aufzüge des Zaren stattgefunden hatten, wurden jetzt nur noch neue Komödien – »Dialoge« aufgeführt und Hochzeiten von Hofnarren gefeiert. Damit aber die Erinnerung an das Alte dem Neuen nicht im Wege stünde, hatte man die alten Wandmalereien mit Kalk übertüncht, mit Ocker übermalt und mit einem lustigen Muster »auf deutsche Manier« verziert.

In einer der Vorratskammern zeigte P. Iwan dem Zarewitsch zwei ausgestopfte Löwen. Er erkannte sie sofort wieder, denn er hatte sie oft in seiner Kindheit gesehen. Sie standen zur Zeit des Zaren Alexej Michailowitsch zu beiden Seiten des Thrones im Schlosse von Kolomenskoje und konnten wie lebendige Löwen brüllen, die Augen rollen und die Rachen aufreißen. Sie waren aus Messing gegossen und mit Schafsfellen, die Löwenfelle vortäuschen sollten, überzogen. Die Mechanik, die das Löwengebrüll hervorbrachte und die Rachen und Augen bewegte, befand sich in einer besonderen Kammer, in der ein Gerüst mit Blasebälgen und Federn aufgestellt war. Man hatte diese Löwen wohl zwecks Ausbesserung nach dem Kremlpalast gebracht und sie dann in der Rumpelkammer vergessen. Die Federn waren gesprungen, die Blasebälge zerrissen, die Felle kahl geworden; aus den Bäuchen hing verfaultes Werg heraus; so elend erschienen jetzt die einst so drohenden Löwen der russischen Selbstherrscher. Auf den Löwenleibern saßen die Köpfe dummer Schafe. In den verödeten, aber unversehrt gebliebenen Sälen befanden sich die neuen Kollegien. So im Gerichts- und Totenmeßsaale, die nach dem Flusse zu lagen, das Kammerkollegium; unter den Turmgemächern – die Senatsdepartements; im Vorrats- und Getreidegebäude – das Salzkontor, das Kriegskollegium und die Bekleidungs- und Feldzugskanzlei; im Marstallgebäude – die Tuch- und Ausrüstungsmagazine. Ein jedes Kollegium war nicht nur mit seinen Archiven, Beamten, Dienern und Bittstellern in den Kreml übergesiedelt, sondern hatte auch alle seine Arrestanten, die jahrelang in den Schloßkammern eingesperrt waren, mitgebracht. Alle diese neuen Menschen wohnten im alten Schloß eng zusammengedrängt wie Würmer in einem Aas und machten viel Schmutz.

»Der Mist und der Kot der Pferdeställe, der Abtritte und der Gefangenen setzen das Zarische Eigentum und all die Kostbarkeiten, die seit alter Zeit im Palaste aufgespeichert sind, keiner geringen Gefahr aus,« sagte P. Iwan dem Zarewitsch. »Denn daraus entsteht ein unerträglicher Gestank, der das goldene und silberne Geschirr und alle Kostbarkeiten des Zaren leicht schwarz machen kann. Man sollte alles vom Schmutz säubern und die Gefangenen anderswo einsperren, wir haben schon oft darum gebeten und uns viel beschwert, aber niemand will auf uns hören . . .« schloß der Greis mit trauriger Miene.

Es war ein Sonntag, und die Kollegien standen leer. Aber die Luft war in allen Räumen unerträglich. An allen Wänden sah man Spuren der speckigen Rücken der Bittsteller, die sich hier gerieben hatten, Tintenflecke, unanständige Zeichnungen und Inschriften. Aber aus der matten Vergoldung der alten Fresken schauten noch immer die strengen Antlitze der Propheten, Erzväter und russischen Heiligen hervor.

Im Kreml selbst befand sich mitten unter den Palästen und Kathedralen am Tainitzkijtore eine Branntweinschenke für die Beamten und Schreiber; sie hieß »Rutschbahn«, weil sie dicht über dem steilen Abhang des Kremlhügels stand. Sie war wie ein Giftpilz emporgewachsen und hatte viele Jahre im geheimen in Blüte gestanden, trotz der Ukase: »diese Branntweinschenke unverzüglich aus dem Kreml zu entfernen und, damit kein Ausfall an der Schnapssteuer entstehe, statt ihrer eine oder mehrere neue Schenken an geziemenden Plätzen zu errichten«.

In einem der Kanzleisäle war ein solcher Gestank, daß der Zarewitsch sofort ein Fenster öffnete, von unten her drang aus der überfüllten »Rutschbahn« ein wildes, tierisches Geheul, das Stampfen der Tanzenden, das Klimpern einer Balalaika und ein trunkenes Lied herauf:

Mutter hat mich mal im Tanz geboren,
In der Schenke hat man mich getauft,
Und im Branntwein wurde ich gebadet . . .

Der Zarewitsch kannte das Lied: die Fürstin-Äbtissin Rshewskaja hatte es oft bei den Trinkgelagen seines Vaters gesungen.

Dem Zarewitsch kam es vor, daß aus der Rutschbahn wie aus einem gähnenden Schlunde zugleich mit diesem Lied, den Mutterschimpfworten und dem Geruch gemeinen Schnapses ein erstickender Gestank zu den Zarenpalästen emporsteige, von dem es ihm übelte, schwarz vor den Augen wurde und sein Herz sich wie in Todesangst zusammenkrampfte.

Er hob die Augen zu der Decke des Saales. Das Deckengemälde stellte den Lauf der Gestirne dar, den Sonnen- und Mondkreis, Engel, die den Gestirnen dienen, und allerlei andere göttliche Kreaturen; auf einem Thron aus Regenbogen, der auf vieläugigen Rädern ruhte, saß Christus-Immanuel; in seiner Linken hielt er einen goldenen Kelch, in der Rechten ein Szepter, auf dem Haupte hatte er eine siebenzackige Krone; auf grüngoldenem Grunde stand die Inschrift: »Urewiges Wort des Vaters, das du die Gestalt des Herrn angenommen und die Kreatur vom Nichtsein ins Sein geführt hast, schenke deinen Kirchen den Frieden und dem gläubigen Zaren den Sieg.«

Von unten klang aber das Lied herauf:

Mutter hat mich mal im Tanz geboren,
In der Schenke hat man mich getauft . . .

Der Zarewitsch las die Inschrift im Sonnenkreise:

»Die Sonne erkannte ihren Untergang, und es wurde Nacht.«

Diese Worte klangen in seiner Seele wie eine Prophezeiung: die alte Sonne des Moskauer Zarentums hatte ihren Untergang im schwarzen finnischen Sumpfe, im fauligen herbstlichen Schmutze erkannt, – »und es wurde Nacht« – keine schwarze, sondern die schreckliche weiße Nacht von Petersburg. Die alte Sonne war erloschen. Das alte Gold, die Krone und die Geschmeide des Monomachen waren in der stinkenden Luft der neuen Zeit schwarz geworden. Und es war der Greuel der Verwüstung in die heilige Stätte gekommen.

Wie auf der Flucht vor unsichtbaren Verfolgern eilte er, ohne sich umzublicken, über die Gänge, Korridore und Treppen aus dem Schlosse, so daß P. Iwan auf seinen alten Beinen kaum mitkommen konnte. Erst auf dem Platze unter freiem Himmel blieb der Zarewitsch stehen und holte tief Atem. Die Herbstluft war hier rein und kühl. Und die alten weißen Steine der Kathedralen erschienen ihm rein und neu.

In einem Winkel neben der Mauer der Verkündigungskathedrale und der Kapelle des heiligen Georg stand unter der Zelle, die P. Iwan bewohnte, eine niedrige Bank, eine Art Rasenbank; hier pflegte er oft zu sitzen und seine alten Knochen in der Sonne zu wärmen.

Der Zarewitsch ließ sich ganz erschöpft auf diese Bank nieder. Der Alte ging nach Hause, um sich sein Nachtlager zu bereiten. Der Zarewitsch blieb allein.

Er fühlte sich so müde und zerschlagen, als ob er einen Weg von tausend Werst zurückgelegt hätte. Er wollte weinen, hatte aber keine Tränen; sein Herz brannte, und die Tränen verdampften darauf wie Wassertropfen auf einem heißen Stein.

Die weißen Mauern schimmerten im stillen Abendscheine wie im Lichte einer ewigen Lampe. Die goldenen Kuppeln der Kathedralen glühten wie Feuer. Der Himmel wurde erst lila, dann dunkel; seine Farbe glich der eines verwelkenden Veilchens. Und die weißen Türme erschienen als Riesenblüten mit flammenden Kronen.

Die Uhren begannen zu schlagen, zuerst am Spasskij-, Tainitzkij- und Rispoloshenskij-Tore, dann auf allen anderen nahen und fernen Toren und Türmen. Die langsamen, gedehnten Wellen rollten zitternd durch die empfindliche Luft: die Uhren schienen einander etwas zuzurufen und miteinander über die Geheimnisse der Vergangenheit und der Zukunft zu sprechen. In den älteren Uhren begleitete eine Menge kleinerer Glocken eine große Stundenglocke mit heiserer, aber immer noch feierlicher Kirchenmusik; die neueren holländischen Spieluhren antworteten ihnen mit geschwätzigem Glockenspiel und neumodischen Tänzen »nach Amsterdamer Manier«. Und alle diese alten und neuen Töne riefen im Zarewitsch ferne Erinnerungen an seine ferne Kindheit wach.

Er schloß die Augen, und seine Seele versank in einen Halbschlummer, in den dunklen Abgrund zwischen Schlaf und Wachen, wo die Schatten der Vergangenheit wohnen. So wie bunte Schatten über eine weiße Wand gleiten, wenn ein Sonnenstrahl durch eine Ritze in ein dunkles Zimmer fällt, so zogen vor ihm Erinnerungen und Visionen vorbei. Und alle diese Erinnerungen wurden von einem einzigen erschreckenden Bilde beherrscht, vom Bilde des Vaters, wie ein Wanderer, der nachts von einer Anhöhe herabblickt und im plötzlichen Aufzucken eines Blitzes den ganzen zurückgelegten Weg sieht, so sah auch er im schrecklichen Lichte dieses Bildes sein ganzes Leben.


 << zurück weiter >>