Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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Sechstes Buch.

Der Zarewitsch auf der Flucht.

 

I.

Der Zarewitsch und Afrossinja fuhren in einer Mondnacht auf dem Golfe von Neapel in einem Boote spazieren.

Er hatte ein Gefühl, wie es die Musik erzeugt: Musik im Beben des goldenen Mondlichtstreifens, der auf dem Wasser lag wie eine Feuerstraße von Posilipo bis zum Rande des Himmels; Musik war im Rauschen des Meeres und in dem kaum wahrnehmbaren Atmen des Windes, der zugleich mit der salzigen Frische der See den Duft der Orangen- und Zitronenhaine von den Ufern Sorrents brachte; in den silberblauen Umrissen des Vesuvs, der durch den Mondnebel hindurchschimmerte und weißen Rauch und rotes Feuer in die Höhe steigen ließ, wie der erlöschende Altar der toten, wiedererstandenen und wieder gestorbenen Götter.

»Mütterchen, Herzensfreundin, wie schön es hier doch ist!« flüsterte der Zarewitsch.

Afrossinja betrachtete alles mit den gleichen gleichgültigen Blicken, mit denen sie einst die Newa und die Peter-Pauls-Festung zu betrachten pflegte.

»Ja, es ist warm. Man ist auf dem Wasser, und doch ist's nicht feucht,« erwiderte sie, das Gähnen unterdrückend.

Er schloß die Augen und sah vor sich ein Zimmer im Hause der Wjasemskijs an der kleinen Ochta zu Petersburg; schräge Strahlen der Frühlingsabendsonne fallen ins Zimmer; die leibeigene Dirne Afroßjka mit hochaufgeschürztem Rock und nackten Beinen scheuert, tief gebückt, mit einem Bastwisch den Fußboden. Es ist eine ganz gewöhnliche Bauerndirne, eine, von denen die Bauernburschen sagen: »Die ist stramm, rund und weiß wie eine gewaschene Rübe.« Wenn er sie aber anblickte, mußte er zuweilen an ein altes holländisches Bild »Die Versuchung des heiligen Antonius« denken, das er beim Vater in Peterhof gesehen hatte: vor dem Einsiedler steht eine nackte rothaarige Teufelin mit gespalteten Ziegenhufen an den behaarten Beinen wie bei einem Faunsweibchen. Im Gesichte Afrossinjas – in den etwas zu vollen Lippen, der Stülpnase, den großen hellen verschleierten, länglich und schief geschlitzten Augen lag etwas Ziegenhaftes, wildes und Unschuldig-Schamloses. Er mußte auch an die Aussprüche der alten Weisen über die teuflische Macht der Frauen denken: das Weib sei der Ursprung der Sünde, an der wir alle zugrunde gehen; es sei ein und dasselbe, in die Gewalt des Weibes und die des Feuers zu fallen.

Wie das gekommen war, wußte er selbst nicht mehr; er war aber fast auf den ersten Blick in einer rohen, zarten Liebe zu ihr entbrannt, einer Liebe, so stark wie der Tod.

Sie war hier am Golf von Neapel dieselbe Afroßjka wie einst im Häuschen auf der Kleinen Ochta; auch hier knabberte sie wie einst, als sie mit dem Hausgesinde an einem Feiertage auf einer Bank saß, in Ermangelung von russischen Sonnenblumenkernen – Zedernüsse, deren Schalen sie in die vom Monde vergoldeten Wellen hinausspuckte; nach der neuesten französischen Mode gekleidet, mit Reifrock, Mieder und Schönheitspflästerchen erschien sie noch verführerischer und unschuldig-schamloser. Nicht umsonst starrten sie die beiden kaiserlichen Trabanten und selbst der elegante junge Graf Esterhazy, der den Zarewitsch bei allen seinen Ausfahrten aus der Festung San-Elmo begleitete, ständig an. Alexej waren aber alle diese Männerblicke, die an ihr klebten wie die Fliegen am Honig, widerlich.

»Du bist also das hiesige Leben satt, Jesopka, und willst nach Hause?« fragte sie mit träger, singender Stimme den neben ihr im Boote sitzenden kleinen, unansehnlichen Menschen, den Schiffbauschüler Aljoschka Jurow. Man nannte ihn Jesopka (Äsop) wegen seiner Vorliebe für Narrenpossen.

»Bei Gott, Mütterchen Afrossinja Fjodorowna, wir führen hier das jämmerlichste Leben. Die Wissenschaft, zu deren Erlernung man uns hergeschickt hat, ist so schwierig, daß wir sie uns niemals aneignen werden, selbst wenn wir uns alle Tage mit ihr befassen; wir wissen auch nicht, was wir lernen sollen: die Wissenschaft oder die Sprache. Die Unsrigen sterben in Venedig beinahe vor Hunger, denn man gibt uns nur drei Kopeken täglich. Es ist schon so weit gekommen, daß sie nichts zu essen und zu trinken haben und in Ermangelung von Kleidern halbnackt herumlaufen. Man läßt uns Arme verenden wie das Vieh. Am meisten bekümmert mich aber, daß mir der Aufenthalt auf der See unmöglich ist, da ich jedesmal krank werde. Ich bin eben kein Seemann! Es wird mein Tod sein, wenn man sich meiner nicht erbarmt. Ich wäre froh, wenn ich nach Petersburg zu Fuß zurückkehren könnte und nicht auf dem Meere fahren müßte. Ich will unterwegs von Almosen leben, aber auf dem Meere fahre ich nicht. Seine Majestät soll nur befehlen!«

»Mein Lieber, du kommst aus dem Regen in die Traufe: in Petersburg bekommst du die Knute, weil du aus der Lehre entlaufen bist,« bemerkte der Zarewitsch.

»Schlecht steht deine Sache, Jesopka! Was wird aus dir, du Ärmster werden? Wohin wirst du dich wenden?« sagte Afrossinja.

»Wohin soll ich mich wenden, Mütterchen? Entweder erhänge ich mich oder gehe auf den Berg Athos und werde Mönch . . .«

Alexej blickte ihn mitleidsvoll an und verglich unwillkürlich das Schicksal des entlaufenen Seefahrers mit dem des entlaufenen Zarewitschs.

»Mach dir keine Sorgen, mein Lieber! So Gott will, werden wir beide glücklich in die Heimat zurückkehren,« sagte er zu ihm mit gutmütigem Lächeln.

Sie hatten den goldenen Mondlichtstreifen verlassen und fuhren zum dunklen Ufer zurück. Am Fuße des Berges stand eine verlassene Villa, die in der Zeit der Renaissance auf den Trümmern eines alten Venustempels erbaut worden war.

Zu beiden Seiten der zum Meere herabführenden Freitreppe drängten sich wie die Fackelträger in einem Leichenzuge riesenhafte Zypressen; ihre zerzausten, spitzen Wipfel, die ewig vom Seewinde umgebogen wurden, hatten diese Biegung behalten und erinnerten an traurig gesenkte Köpfe. Im schwarzen Schatten schimmerten die weißen Götterbilder wie Gespenster. Auch der Strahl des Springbrunnens sah wie ein bleiches Gespenst aus. Unter dem Laube der Lorbeerbüsche verbreiteten Leuchtkäfer einen schwachen Schein wie die Flammen von Beerdigungskerzen. Der schwere Duft der Magnolien erinnerte an die Wohlgerüche, mit denen Leichen einbalsamiert werden. Einer der Pfaue, die in der Villa lebten, kam, von den Menschenstimmen und Ruderschlägen geweckt, auf die Freitreppe heraus und entfaltete seinen Schweif, der im Mondlichte wie ein edelsteinbesetzter Fächer in allen Farben des Regenbogens funkelte. Die klagenden Stimmen der Pfaue gemahnten an die durchdringenden Schreie von Klageweibern. Das Wasser des Springbrunnens lief vom Rande des überhängenden Felsens an den langen haarfeinen Gräsern herab und fiel Tropfen für Tropfen wie eine stille Tränenflut ins Meer, – als ob dort in der Grotte eine Nymphe ihre zugrundegegangenen Schwestern beweinte. Die ganze traurige Villa gemahnte an das dunkle Elysium, den unterirdischen Hain der Schatten, an einen Friedhof der gestorbenen, auferstandenen und wieder gestorbenen Götter.

»Würdest du es für möglich halten, gnädigste Herrin? – Es ist schon das dritte Jahr, daß ich in keinem Dampfbade gewesen bin!« fuhr Jesopka in seinen Klagen fort.

»Ach ja, ein Dampfbad mit frischen birkenen Badebesen, und nach dem Bade ein Schluck Kirschenmet!« seufzte Afrossinja auf.

»Wenn man das hiesige saure Zeug trinkt und an den russischen Schnaps denkt, möchte man weinen!« stöhnte Jesopka.

»Und Preßkaviar . . .« fiel Afrossinja ein.

»Geräucherten Stör!«

»Und Stinte aus dem Weißen See!«

So überboten sie einander in Erinnerungen, mit denen sie sich gegenseitig ihre Herzenswunden aufrissen.

Der Zarewitsch hörte ihrem Zwiegespräch zu, sah die Villa an und mußte unwillkürlich lächeln: so seltsam war der Widerspruch zwischen diesen alltäglichen Dingen, von denen sie träumten, und der traumhaften Wirklichkeit.

Längs der im Mondlichte flammenden Straße im Meere bewegte sich ein anderes Boot, eine schwarze Spur im zitternden Golde hinterlassend. Die Klänge einer Mandoline wurden vernehmbar und das Lied, das eine junge Frauenstimme sang:

Quant è bella giovinezza,
Che si fugge tuttavia.
Chi vuol esser lieto, sia –
Di doman non c'è certezza.

Dieses Liebeslied hatte einst Lorenzo Medici der Prächtige für den Triumphzug des Bacchus und der Ariadne bei einem Florentiner Feste verfaßt. Es lag darin die kurze Fröhlichkeit der Renaissance und die ewige Trauer um diese Fröhlichkeit.

Der Zarewitsch lauschte dem Liede, ohne die Worte zu verstehen; aber die Musik erfüllte sein Herz mit süßer Wehmut.

Schön und herrlich ist die Jugend,
Doch so flüchtig. Laß die Sorgen:
Willst du glücklich sein, so sei es
Und verschieb es nicht auf morgen!

»Nun singe uns, Mütterchen, ein russisches Lied!« flehte Jesopka. Er wollte sogar vor ihr niederknien, verlor aber das Gleichgewicht und wäre um ein Haar aus dem Boote gefallen: er stand nämlich nicht ganz fest auf den Beinen, denn er hatte während der ganzen Zeit aus einer umflochtenen Flasche, die er verschämt unter dem Rockschoße versteckt hielt, von dem »sauren Zeug« genippt. Einer der Ruderer, ein halbnackter, brauner, hübscher Bursche verstand aber, was er wollte: er lächelte Afrossinja zu, blinzelte Jesopka an und reichte ihm seine Guitarre. Dieser begann auf ihr wie auf einer dreisaitigen Balalaika zu klimpern.

Afrossinja lächelte, warf dem Zarewitsch einen Blick zu und begann plötzlich mit ihrer lauten, etwas kreischenden Dorfweiberstimme zu singen, wie sie einst beim Frühlingsabendrot im Birkenwäldchen über dem Flusse im Reigen zu singen pflegte. Und an den Gestaden Neapels, der alten Parthenope, erklang ein noch nie gehörtes Lied:

Ach du Hausflur, schöner Hausflur, du mein Hausflur weiß und neu,
Bist aus Ahornholz gezimmert und mit Gittern schön verziert!

Eine grenzenlose Trauer um das Vergangene lag im fremden Liede:

Qui vuol esser lieto, sia, –
Di doman nun c'è certezza.

Eine grenzenlose Trauer um das Kommende lag im heimatlichen Liede:

Fliege du, mein lieber Falke, in die Ferne, in die Höh',
In die Höhe, in die Ferne, in das liebe Heimatland.
In der fernen lieben Heimat der gestrenge Vater wohnt.
Ach, so streng ist der Herr Vater, ohne Gnade ist sein Sinn.

Die beiden Lieder, das eigene und das fremde flossen in eins zusammen.

Der Zarewitsch konnte nur mit Mühe seine Tränen zurückhalten. Er glaubte Rußland noch niemals so geliebt zu haben wie jetzt. Er liebte es jetzt aber mit einer neuen, weltumfassenden Liebe zugleich mit ganz Europa; er liebte das fremde Land wie das eigene. Die Liebe zum fremden Land floß mit der Liebe zum eigenen Land in eins zusammen, wie die beiden Lieder.


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