Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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III.

 

Lieber Vater Don,
Trauter stiller Strom,
Wasche meinen Leib;
    Feuchte Erde du,
Liebes Mütterchen,
Du bedecke mich.

 

Afrossinja sang dieses Lied, am Tische vor dem Fenster im Zimmer des Zarewitsch in der Festung San-Elmo sitzend und das rote Taftfutter von dem sandfarbigen Wams ihres Männeranzugs abtrennend. Sie erklärte, daß sie um nichts in der Welt mehr diese Narrenkleidung tragen würde.

Sie hatte einen schmutzigen seidenen Schlafrock an, an dem alle Knöpfe fehlten, und silberne ausgetretene Pantoffeln an den bloßen Füßen, vor ihr stand eine kleine Truhe, ein Handarbeitskasten aus Blech, in dem allerlei bunte Fetzen und Bänder in Unordnung durcheinanderlagen; dazwischen ein Fächer, Glacehandschuhe, Liebesbriefe des Zarewitsch und Päckchen mit Räucherpulver; Weihrauch, den sie von einem heiligen Mönch hatte, und Poudre-Maréchal vom berühmten Pariser Perückenmacher Frison in der Rue Saint-Honoré; ein Rosenkranz vom Athoskloster und Schönheitspflästerchen und Büchsen mit Pomade aus Paris. Sie war stundenlang damit beschäftigt, sich das Gesicht mit allen möglichen Schönheitsmitteln und Schminke einzureiben, was sie gar nicht brauchte, denn ihr Teint war ohnehin wunderschön.

Der Zarewitsch saß an demselben Tische und schrieb Briefe, die er in Petersburg heimlich zu verbreiten, sowie auch den Bischöfen und Senatsmitgliedern einzuschicken, gedachte.

Hochwohlgebohrne Herren Senatores.

»Ich vermeine / daß sowohl sie / als auch das gantze Volck / wegen meiner Absentirung / und bis auff diese Zeit unbekandten Auffenthalt außer Rußland in einer Ungewißheit leben werden. Zu dieser Verlassung aber meines lieben Vaterlandes / hat mich nichts anders / als die tägliche Erbitterung und Verdruß (wie ihnen bekant) gezwungen. Insonderheit aber hat es im Anfange des vergangenen Jahres wenig gefehlet / daß mir nicht der Minchs-Habit / ohne eintziges Verbrechen (wie sie selbst wissen) angelegt worden / der gütige Gott aber hat mich davon befreyet, und verwichenen Herbst eine Gelegenheit verliehen / das ich mich so wol von Euch / als dem lieben Vaterlande entfernen kunte / welche ich / wenn dieses nicht gewesen / nimmermehr verlassen wolte. Nun befinde ich mich bey allem Wohlergehen / und guter Gesundheit unter dem Schutz eines hohen Hauptes / so lange bis mich Gott heißen wird in meinem Vaterlande zu erscheinen / bey welcher Gelegenheit mich nicht zu verlassen bitte / vorjetzo aber glauben sie nicht / wofern sie die Zeitungen hören / das ich nicht mehr am Leben, oder sonsten etwas / wodurch mein Gedächtnis bey dem Volck auszutilgen gesucht wird; Gott wird mich ferner behüten / und meine Wohltäter mich nicht verlassen / welche mir auch ins künfftige in Fall der Noth beizustehen versprochen / ich bin noch am Leben / und verbleibe so wohl Ew. Hochwohlgebohrnen / als dem gantzen Vaterlands wohl wollend.

Alexej.«

Er blickte durch die offene Tür der Galerie aufs Meer hinaus. Unter dem frischen Nordwinde lag es dunkelblau, nebelig, gleichsam rauchend, stürmisch, mit weißen Wellenkämmen da; weiße, vom Winde geblähte Segel gemahnten an Schwäne. Der Zarewitsch glaubte jenes dunkelblaue Meer vor sich zu sehen, das in den russischen Liedern besungen wird und auf dem einst Fürst Oleg mit seiner Schar gegen Konstantinopel zog.

Er holte einige zusammengelegte Blätter hervor, die mit seiner eigenen Hand mit großen, beinahe kindlichen Buchstaben auf deutsch beschrieben waren. Am Rande stand die Nachschrift: »Nehmen sie nich Übel, das ich so schlecht geschrieben, weil ich kan nicht besser.« Es war ein langer Brief an den Kaiser, eine richtige Anklageschrift gegen den Vater. Er hatte den Brief schon seit längerer Zeit begonnen, korrigierte immer daran herum, strich verschiedenes aus, schrieb ihn immer von neuem und konnte ihn unmöglich zu Ende schreiben: was ihm in Gedanken als richtig erschien, klang, in Worte gekleidet, falsch: zwischen dem Wort und dem Gedanken lag eine unüberwindliche Mauer, und das wichtigste ließ sich durch keinerlei Worte ausdrücken.

»Der Kaiser muß mich retten,« lautete eine Stelle, die er jetzt überlas. »Ich bin vor meinem Vater unschuldig; ich war ihm stets gehorsam und liebte und ehrte ihn nach Gottes Gebot. Ich weiß, daß ich ein schwacher Mensch bin. So hat mich aber Menschikow erzogen: er ließ mich nichts lernen, hielt mich immer vom Vater ferne und behandelte mich wie einen leibeigenen Sklaven oder einen Hund. Man ließ mich absichtlich viel trinken, vom übermäßigen Trinken und infolge der schlechten Behandlung ist mein Geist geschwächt. Mein Vater war übrigens früher gut zu mir. Er betraute mich mit der Leitung der Regierungsgeschäfte, alles ging gut, und er war mit mir zufrieden. Doch von der Zeit an, als meine Frau Kinder bekam und die neue Zarin gleichfalls einen Sohn gebar, fing man an, die Kronprinzessin schlecht zu behandeln; sie mußte der Zarin wie eine Magd dienen, und sie starb vor Kummer. Die Zarin und Menschikow hetzen den Vater gegen mich auf. Sie beide sind von Bosheit erfüllt, sie haben weder einen Gott, noch ein Gewissen. Der Zar hat ein gutes und gerechtes Herz, solange er sich selbst überlassen ist; er ist aber von bösen Menschen umgeben, zudem sehr jähzornig und in seinem Zorne grausam; er glaubt, wie Gott das Recht über Leben und Tod der Menschen zu haben. Er hat schon viel unschuldiges Blut vergossen und hat sogar oft mit eigenen Händen die Verurteilten gefoltert und hingerichtet, wenn der Kaiser mich meinem Vater auslieferte, wäre es dasselbe, wie wenn er mich tötete. Und selbst wenn mich der Vater begnadigte, würden meine Stiefmutter und Menschikow sich nicht eher beruhigen, bis sie mich durch Schnaps oder Gift umgebracht hätten. Der Thronverzicht ist mir mit Gewalt erpreßt worden; ich will gar nicht ins Kloster; ich habe genügend Vernunft, um regieren zu können. Aber ich schwöre bei Gott, daß ich niemals daran gedacht habe, das Volk aufzuwiegeln, wenn es auch gar nicht schwer zu machen wäre: denn das Volk liebt mich; meinen Vater haßt es aber wegen seiner unwürdigen Zarin, der bösen und verderbten Günstlinge, wegen der Beschimpfung der Kirche und der guten alten Sitten, sowie auch dafür, daß er, ohne Geld und Blut zu schonen, ein Tyrann und der Feind seines Volkes ist . . .«

»Ein Feind seines Volkes?« wiederholte der Zarewitsch vor sich hin und strich diese Worte aus: sie erschienen ihm unwahr. Er wußte ja, daß sein Vater das Volk liebte, obwohl diese Liebe erbarmungsloser als jede Feindschaft war: wen ich liebe, den schlage ich, wie es in einem russischen Sprichworte heißt. Es wäre wohl besser, wenn er es weniger liebte. Auch ihn, seinen Sohn, liebt er. Wenn er ihn nicht liebte, würde er ihn doch nicht so quälen. Auch jetzt, wie jedesmal, wenn er den Brief durchlas, hatte er das dunkle Gefühl, daß er gegen seinen Vater im Rechte war, doch nicht ganz im Rechte: ein einziger Strich, ein Haar trennte dieses »nicht ganz im Rechte« von: »ganz und gar nicht im Rechte«, und er überschritt in seinen Anklagen immer, wenn auch unbewußt diesen Strich. Es war, als ob ein jeder von ihnen seine eigene Wahrheit besäße, und diese beiden Wahrheiten ewig unvereinbar, ewig unversöhnlich wären. Und die eine müßte die andere vernichten, wer aber auch siegen würde, der Sieger bliebe immer der Schuldige, und der Besiegte wäre immer im Rechte.

Dies alles hätte er nicht einmal für sich selbst in Worte kleiden, um so weniger einem andern erklären können. Wer würde ihn auch verstehen, wer würde ihm glauben? Wer außer Gott hätte zwischen Vater und Sohn richten können?

Er legte den Brief mit einem schweren Gefühl und dem geheimen Wunsche, ihn zu vernichten, weg und lauschte eine Weile dem Gesange Afrossinjas, die mit dem Abtrennen des Kleiderfutters zu Ende war und nun vor dem Spiegel neue französische Schönheitspflästerchen probierte. Dieses ewige leise Singen in der Langweile des Gefängnisses war bei ihr ebenso unwillkürlich wie der Gesang eines Vogels in einem Bauer: das Singen war ihr wie das Atmen ein Lebensbedürfnis, und sie wußte selbst kaum, daß sie sang. Dem Zarewitsch erschien aber der Widerspruch zwischen dem Probieren der französischen Schönheitspflästerchen und dem traurigen russischen Volksliede sehr sonderbar:

Feuchte Erde du,
Liebes Mütterchen,
Du bedecke mich.
Nachtigall im Busch,
Liebes Schwesterlein,
Sing mein Sterbelied.
Kuckuck, du im Wald,
Tief im Eichenwald,
Liebes Brüderlein, –
Sprich die Litanei.
Weiße Birke du,
Meine junge Frau,
Du beweine mich . . .

In den jeden Ton widerhallenden Festungskorridoren wurden Schritte vernehmbar, Werdarufe der Posten und das Klirren der Schlösser und Riegel. Der Wachoffizier klopfte an die Türe und meldete den Kriegs-Feld-Konzipisten Weingarten, den Sekretär des Vizekönigs, – des Vize-Roj, wie ihn die Russen nannten, – des kaiserlichen Statthalters in Neapel.

Mit tiefer Verbeugung trat ein kurzarmiger, dicker Mensch mit einem Gesicht so rot wie rohes Fleisch, hängender Unterlippe und verschwommenen Schweinsaugen ins Zimmer, wie die meisten Gauner sah er recht einfältig aus. »Dieser dicke Deutsche ist eine feine Bestie,« pflegte Jesopka von ihm zu sagen.

Weingarten brachte eine Kiste alten Falerner und Moselwein als Geschenk für den Zarewitsch, den er, um das Inkognito in Gegenwart von Fremden zu wahren, hochgeborener Graf nannte; Afrossinja aber, der er die Hand küßte – er war ein großer Courschneider – einen Korb Früchte und Blumen.

Er überbrachte auch einige Briefe aus Rußland und mündliche Aufträge aus Wien.

»Man war in Wien sehr erfreut zu hören, daß der hochgeborene Herr Graf sich bei guter Gesundheit und bestem Wohlergehen befindet. Augenblicklich ist noch Geduld erforderlich, und zwar mehr als bisher. Als letzte Neuigkeit kann ich mitteilen, daß man schon in der ganzen Welt darüber spricht, der Zarewitsch sei verschwunden. Die einen meinen, er sei vor der Grausamkeit seines Vaters entflohen; andere glauben, er sei auf Befehl des Vaters ermordet worden; andere wiederum sagen, er sei auf der Reise Mördern zum Opfer gefallen. Doch niemand weiß genau, wo er sich aufhält, hier ist eine Abschrift von dem Bericht des kaiserlichen Residenten Pleyer; es wird vielleicht den hochgeborenen Herrn Grafen interessieren, was man über ihn aus Petersburg schreibt. Das sind die eigenen Worte seiner Majestät des Kaisers: Ich möchte dem lieben Zarewitsch zu seinem eigenen Nutzen raten, sich verborgen zu halten und die größte Vorsicht zu beobachten, denn nach Rückkehr seines Vaters des Zaren nach Petersburg wird eine peinliche Untersuchung beginnen.«

Er neigte sich zum Ohre des Zarewitsch und fügte flüsternd hinzu:

»Hoheit können ganz ruhig sein! Ich habe die zuverlässigsten Nachrichten: der Kaiser wird Eure Hoheit niemals im Stiche lassen und ist bereit, Eurer Hoheit nach dem Tode des Vaters unter Umständen mit bewaffneter Hand zum Throne zu verhelfen.«

»Ach nein, was fällt Euch ein! Ich will nicht . . .« unterbrach ihn der Zarewitsch mit demselben schweren Gefühl, mit dem er vorhin den Brief an den Kaiser weggelegt hatte. »So Gott will, wird es doch nicht so weit kommen, daß um meinetwegen ein Krieg ausbricht. Ich bitte Euch nicht darum, sondern nur, daß Ihr mir Euren Schutz nicht versagt! Das andere will ich aber nicht . . . Ich bin übrigens dankbar. Der Herr lohne dem Kaiser die Gnade, die er mir zuwendet!«

Er ließ eine Flasche Moselwein aus der ihm geschenkten Kiste entkorken, um auf das Wohl des Kaisers zu trinken.

Als er aus dem Nebenzimmer, wohin er sich für einen Augenblick begeben hatte, um irgendeinen wichtigen Brief zu holen, zurückkehrte, traf er Weingarten, wie er Mademoiselle Eufrosyne mit galanter Liebenswürdigkeit – weniger mit Worten als mit Gebärden – zu erklären suchte, wie schade es sei, daß sie nicht mehr Männerkleider, die ihr so gut stünden, trage.

»L'amour même ne saurait se présenter avec plus de grâces!« schloß er französisch, indem er seine Schweinsaugen mit jenem besonderen Ausdruck, der dem Zarewitsch so widerlich war, auf sie richtete.

Als Weingarten ins Zimmer getreten, hatte Afrossinja in aller Eile ein neues elegantes Kleid aus zweifarbig schillerndem Taft über ihren schmutzigen Schlafrock geworfen, eine Haube aus teuren Brabanter Spitzen über ihre ungekämmten Haare gestülpt, Puder aufgelegt und sogar ein Schönheitspflästerchen über ihre linke Braue geklebt, wie sie es auf dem Korso zu Rom bei einer aus Paris zugereisten Dirne gesehen hatte. Der Ausdruck von Langweile war von ihrem Gesichte verschwunden, und sie wurde auf einmal lebhaft; obwohl sie weder deutsch noch französisch verstand, begriff sie auch ohne Worte, was der Deutsche von ihrer Männerkleidung gesagt hatte; sie lächelte schelmisch, heuchelte Erröten und verdeckte das Gesicht schamhaft mit dem Ärmel wie ein Bauernmädchen.

»So ein Schlachtschwein! Daß Gott mir verzeihe! Nun hat sie wirklich einen gefunden, von dem sie sich die Cour schneiden lassen kann!« dachte sich der Zarewitsch, die beiden geärgert anblickend. »Ihr ist es ja ganz gleich, wer es ist, nur daß es einmal Abwechslung gibt. Ach, diese Töchter Evas! Das Weib und der Teufel haben den gleichen Wert . . .«

Als Weingarten gegangen war, machte sich der Zarewitsch an die Lektüre der Briefe.

Am wichtigsten war der Bericht Pleyers.

»Die Garderegimenter, die zum größten Teil aus Angehörigen des Adels bestehen, haben im Einverständnis mit der übrigen Armee in Mecklenburg ein Komplott gemacht, um den Zaren zu ermorden, die Zarin mit dem jüngsten Zarewitsch und den beiden Töchtern herzubringen und in dasselbe Kloster zu stecken, wo die alte Zarin eingekerkert ist; die letztere zu befreien und ihrem Sohne, dem rechtmäßigen Thronerben, die Regierung zu übergeben!«

Der Zarewitsch stürzte mit einem Zuge zwei Glas Moselwein hinunter und begann mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen; er murmelte etwas vor sich hin und fuchtelte mit den Armen.

Afrossinja verfolgte ihn schweigend und unverwandt, aber gleichgültig mit ihren Blicken. Nachdem Weingarten gegangen war, hatte ihr Gesicht wieder den gewohnten Ausdruck von Langeweile angenommen.

Endlich blieb er vor ihr stehen und sagte:

»Nun, Mütterchen, bald wirst du deine Stinte aus dem Weißen See zu essen bekommen! Ich habe gute Nachrichten erhalten, vielleicht wird uns Gott bald die Möglichkeit geben, in Freuden heimzukehren . . .«

Er erzählte ihr ausführlich alles, was im Berichte Pleyers stand; die letzten Worte, die ihn offenbar am meisten freuten, las er deutsch:

»Alles ist allhier zum Aufstand sehr geneigt. Alle beklagen sich, daß die Adligen und die Bürgerlichen gleich behandelt werden, daß alle gleich unter die Soldaten und Matrosen gesteckt werden und daß infolge des Bauens von Städten und Schiffen die Dörfer zugrunde gerichtet sind.«

Afrossinja hörte ihm schweigend, mit demselben Ausdruck von Langweile zu; erst als er fertig war, fragte sie ihn mit gedehnter, träger Stimme:

»Und wenn man den Zaren umbringt und nach dir schickt, wirst du dann zu den Verschwörern gehen, Alexej Petrowitsch?«

Sie blickte ihn von der Seite so an, daß er, wenn er weniger von seinen Gedanken in Anspruch genommen wäre, sich hätte wundern müssen und vielleicht sogar in dieser Frage einen geheimen Stachel bemerkt hätte. Aber er merkte nichts.

»Ich weiß nicht,« antwortete er nach einigem Nachdenken, »wenn die Boten nach dem Tode des Vaters zu mir kommen, so werde ich mich vielleicht ihnen anschließen . . . warum soll ich schon jetzt daran denken? Gottes Wille geschehe!« rief er plötzlich aus, den Gedankengang gleichsam abbrechend. »Ich spreche nur von dem, was Gott tut: der Vater tut das Seinige, und auch Gott tut das Seinige! . . .«

Vor Freude ganz erschöpft, ließ er sich in einen Sessel fallen und begann weiter zu sprechen, ohne auf Afrossinja zu blicken, wie vor sich hin:

»Es ist eine gedruckte Meldung eingetroffen, daß die schwedische Flotte nach der livländischen Küste abgesegelt sei, um Truppen ans Land zu setzen. Wenn es wahr ist, wird es ein großes Unglück geben: Bei uns in Petersburg wird sich Fürst Menschikow mit den Senatoren nicht einigen können. Unser Hauptheer ist aber in weiter Ferne. Die Senatoren sind untereinander entzweit und werden einander nicht helfen; die Schweden können viel Unheil anrichten. Petersburg liegt ja so nahe an der Grenze. Wenn sie schon bis Kopenhagen gekommen sind, können wir Petersburg ebenso leicht verlieren wie Asow. Nicht lange werden wir diese Stadt besitzen: entweder wird sie von den Schweden genommen werden, oder sie wird von selbst zugrunde gehen. Petersburg wird leer und verwüstet sein!« wiederholte er wie eine Beschwörungsformel die Prophezeihung seiner Tante, der Zarewna Marfa Alexejewna.

»Und wenn es dort jetzt ruhig ist, so hat auch diese Ruhe ihren Grund. Da schreibt mir Onkel Awram Lopuchin: die Menschen aller Stände reden nur von mir, fragen nach mir, bemitleiden mich und sind immer bereit, für mich einzustehen; in der Gegend von Moskau gärt es schon im Volke. Auch an der unteren Wolga ist das Volk unruhig. Das ist auch gar nicht verwunderlich: wie haben sie es bisher leiden können? Sie werden es nicht so gehen lassen. Ich glaube, daß ihnen bald die Geduld reißt, und dann geht es los! Und dann die Verschwörung in Mecklenburg, die Schweden, der Kaiser und ich! Von allen Seiten droht Gefahr! Alles zittert und wankt. Und wenn es kracht und einstürzt, so wird großer Staub aufsteigen. Alles wird drüber und drunter gehen! Auch der Vater wird kaum mit heiler Haut davonkommen! . . .«

Zum ersten Male in seinem Leben fühlte er sich stark und für den Vater gefährlich. Wie in jener unvergeßlichen Nacht während Peters Krankheit, als hinter dem vereisten Fenster der monddurchleuchtete, blaue, wie mit blauer Flamme brennende, berauschende Schneesturm tanzte, stockte ihm vor Freude der Atem. Die Freude berauschte ihn mehr als der Wein, den er fortwährend, ohne es selbst zu merken Glas auf Glas trank; dabei blickte er auf das Meer hinaus, das ebenfalls blau, wie mit blauer Flamme brennend und eben so trunken und berauschend war wie jene Nacht.

»In den deutschen Zeitungen steht, daß mein jüngster Bruder Petinjka in diesem Sommer in Peterhof um ein Haar vom Blitz erschlagen worden wäre; die Amme, die ihn auf dem Arm getragen, sei mit knapper Not dem Tode entronnen; ein Wachtposten, der in der Nähe stand, sei aber erschlagen worden. Seit jener Zeit ist das Kind immer krank; es ist ihm wohl nicht beschieden, am Leben zu bleiben. Und man hatte es doch so ängstlich behütet! Schade um Petinjka! Die kindliche Seele ist ja vor Gott unschuldig. Der Arme hat für fremde Sünden, für die Sünden seiner Eltern zu büßen. Der Herr errette ihn und erbarme sich seiner! Ich sage aber, es ist immerhin Gottes Wille, ein Wunder, ein Wink des Himmels! Daß der Vater noch nicht zur Vernunft gekommen ist! Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!«

»Wer von den Senatoren wird für dich eintreten?« fragte plötzlich Afrossinja, und ein seltsamer Funke leuchtete für eine Sekunde in ihren Augen auf, als ob man hinter einem dunklen Vorhang ein Licht vorbeigetragen hätte.

»Was brauchst du das zu wissen?« Der Zarewitsch blickte sie erstaunt an, als ob er sie vergessen und sich erst jetzt daran erinnert hätte, daß sie ihm zuhörte.

Afrossinja fragte nicht mehr. Aber ein kaum wahrnehmbarer fremder Schatten war plötzlich zwischen ihnen vorbeigehuscht.

»Wenn sie auch nicht alle meine Feinde sind, so verfolgen sie mich doch, um meinem Vater gefällig zu sein, denn sie sind alle feig,« fuhr der Zarewitsch fort. »Ich brauche aber niemand. Ich spucke auf sie alle, wenn mir nur das gemeine Volk erhalten bleibt!« wiederholte er sein Lieblingswort. »Wenn ich einmal Zar bin, werde ich die Alten abschaffen, und mir neue Menschen nach meinem Willen wählen. Ich werde das Volk von allen Lasten befreien, damit es sich ausruhen kann. Den Bojaren werde ich ihr Fett nehmen; sie haben sich genug am Volke gemästet; um die Bauern werde ich mich bekümmern, um die Schwachen und Armen, um die geringsten Brüder in Christo. Ich werde eine kirchliche und eine weltliche Reichsversammlung aus Erwählten des Volkes einberufen: sollen doch alle Menschen dem Zaren die Wahrheit sagen dürfen, ohne Furcht und mit freier Stimme, damit der Staat und die Kirche durch die Beratung vieler und durch die Gnade des heiligen Geistes für alle Ewigkeit geläutert werden! . . .«

Es war ein Traum im Wachen, und die Traumgesichter wurden immer nebelhafter, immer unwahrscheinlicher.

Ein böser spitziger Gedanke stach ihm plötzlich ins Herz wie eine Bremse: Nichts wird davon in Erfüllung gehen; alles ist Lüge! »Die Meise rühmte sich, daß sie das Meer anzünden werde, aber sie brachte es nicht fertig,« wie es im Sprichwort heißt.

Und er erschien sich neben seinem Vater, dem Riesen, der aus Eisen ein neues Rußland schmiedete, wie ein kleiner Junge, der Seifenblasen steigen ließ. Wie konnte er sich nur mit dem Vater messen?

Aber er verscheuchte sofort diesen Gedanken wie eine zudringliche Fliege: Gottes Wille geschehe in allen Dingen; soll nur der Vater sein Eisen schmieden; er tut das Seinige, und Gott tut das Seinige. Wenn Gott will, wird das Eisen wie eine Seifenblase zerspringen.

Und nun gab er sich ganz dem süßen Traume hin. Er fühlte sich nicht mehr stark, sondern schwach – aber es war eine angenehme Schwäche; mit einem milden, trunkenen Lächeln auf den Lippen lauschte er dem Rauschen des Meeres und glaubte in diesem Rauschen etwas Vertrautes, aus alter Zeit Bekanntes zu hören: war es die Großmutter, die ihn einlullte, war es der Paradiesvogel Sirin, der ihm seine königlichen Lieder sang?

»Und dann, wenn ich das Reich in Ordnung gebracht und das Volk von seinen Lasten befreit habe, werde ich mit großem Heere und mächtiger Flotte gegen Konstantinopel ziehen. Die Türken werde ich vertreiben, die Sklaven vom Joche der Heiden befreien und auf der Hagia Sophia das Kreuz wieder aufrichten. Und ich werde ein Konzil zur Wiedervereinigung der Kirchen einberufen. Ich werde der ganzen Welt Frieden schenken, damit alle Völker von den vier Enden der Welt unter den Schatten der Sophia, der Weisheit Gottes in das heilige Reich zusammenströmen, um den kommenden Heiland zu empfangen! . . .«

Afrossinja hörte ihm schon lange nicht mehr zu; sie gähnte fortwährend und bekreuzigte sich den Mund; schließlich stand sie auf, reckte sich und kratzte sich den Kopf.

»Ich bin so müde . . . Am Nachmittag kam der Deutsche, und ich habe darum nicht ausschlafen können. Ich will mich hinlegen, was meinst du, Petrowitsch?«

»Geh nur, Mütterchen, schlafe mit Gott, vielleicht komme ich auch bald. Ich will nur noch den Tauben das Futter geben.«

Sie zog sich ins anstoßende Schlafzimmer zurück, und der Zarewitsch ging auf die Galerie hinaus, wo die Tauben, die um diese Stunde immer ihr Futter bekamen, bereits zusammenflogen.

Er warf ihnen Brosamen und Körner hin und lockte sie mit dem leisen, freundlichen Rufe zu sich heran:

»Gulj! Gulj! Gulj!«

Wie in Roshdestwenno flogen die Tauben girrend zu seinen Füßen zusammen, flatterten über seinem Kopfe, setzten sich auf seine Hände und Schultern und bedeckten ihn mit ihren Flügeln wie mit einem Gewande. Er blickte von der Höhe aufs Meer hinab, und es schien ihm, als ob er selbst auf den zitternden Flügeln in die endlose Ferne fortfliege, übers blaue Meer, zu dem wie die Sonne strahlenden Tempel der heiligen Sophia, der Weisheit Gottes.

Die Empfindung des Fluges war so stark, daß ihm der Herzschlag stockte und der Kopf schwindelte. Ein Grauen befiel ihn. Er schloß die Augen und hielt sich krampfhaft an einem Vorsprung der Mauer fest: er hatte nicht mehr das Gefühl des Fliegens, sondern das des Stürzens.

Mit schwankenden Schritten kehrte er ins Zimmer zurück. Im gleichen Augenblick kam auch Afrossinja, völlig entkleidet, im bloßen Hemd und barfuß aus dem Schlafzimmer; sie stieg auf einen Stuhl, um das Lämpchen vor dem Heiligenbilde nachzufüllen. Es war die vom Zarewitsch besonders verehrte altertümliche Ikone der Muttergottes aller Leidenden, die er auf allen Reisen mit sich führte und von der er sich niemals trennte.

»Diese Sünde! Morgen ist Mariä Himmelfahrt, und ich hatte das Lämpchen vergessen. Die Himmelskönigin wäre beinahe ohne Lämpchen geblieben. Wirst du die Stundengebete lesen? Soll ich das Betpult hinstellen?«

Am Vorabend aller großen Feiertage pflegte der Zarewitsch in Ermangelung eines Popen selbst den Gottesdienst abzuhalten, die Stundengebete zu lesen und die Psalmen zu singen.

»Nein, Mütterchen, vielleicht später in der Nacht. Auch ich bin so müde und habe Kopfweh.«

»Du hättest weniger Wein trinken sollen, Väterchen.«

»Ich glaube, es kommt nicht vom Wein, sondern von meinen Gedanken: gar zu freudig sind die Nachrichten, die ich bekommen habe! . . .«

Nachdem sie das Lämpchen angezündet hatte, blieb sie noch vor dem Tische stehen, um aus dem von dem Deutschen geschenkten Körbchen den reifsten Pfirsich auszuwählen: sie aß gern im Bett vor dem Einschlafen etwas Süßes.

Der Zarewitsch ging auf sie zu und umarmte sie.

»Afrossjuschka, meine Herzensfreundin, freust du dich denn nicht? Du wirst ja Zarin, und der Silbelne . . .«

Der »Silberne,« oder der »Silbelne«, wie er das Wort auf Kinderart aussprach, war der Beiname des Kindes, wie er fest überzeugt war eines Knaben, den Afrossinja gebären sollte: sie war im dritten Monat schwanger. »Du bist die Goldene, und unser Söhnchen wird der Silberne sein,« pflegte er ihr in zärtlichen Augenblicken zu sagen.

»Du wirst Zarin, und der Silberne wird Thronfolger!« fuhr der Zarewitsch fort, »wir wollen ihn Wanja nennen: der frömmste Selbstherrscher und Zar aller Reußen, Iwan Alexejewitsch!«

Sie befreite sich vorsichtig aus seinen Armen, blickte über die Schulter weg, ob das Lämpchen ordentlich brenne, biß ein Stück vom Pfirsich ab und antwortete ihm schließlich vollkommen ruhig:

»Du beliebst zu scherzen, Väterchen, wie komme ich leibeigene Magd dazu, Zarin zu werden?«

»Wenn ich dich heirate, so wirst du es. Auch der Vater hat es ebenso gemacht. Meine Stiefmutter, Katerina Alexejewna ist ja auch nicht Gott weiß welch nobler Abstammung: sie hat einst mit den Finnenweibern zusammen Wäsche gewaschen, wurde im bloßen Hemde gefangen genommen, und doch ist sie Zarin. Auch du, Afrossinja Fjodorowna, wirst Zarin werden, denn du bist nicht schlechter als die andern.«

Er wollte ihr alles sagen, was er fühlte, konnte es aber nicht in Worte kleiden: daß er sie vielleicht eben deswegen lieb gewonnen habe, weil sie eine einfache Magd sei; er sei zwar vom zarischen Geblüte, doch ebenso einfach wie sie; er liebe nicht die hochmütigen Bojaren, sondern nur das gemeine Volk; aus den Händen des gemeinen Volkes werde er auch die Krone empfangen; er werde das Gute mit Gutem vergelten: das gemeine Volk werde ihn zum Zaren machen, und er werde Afrossinja, die Magd aus dem gemeinen Volke zur Zarin erheben.

Sie schwieg mit gesenkten Augen, und in ihrem Gesichte konnte man nur lesen, daß sie sehr schläfrig sei. Er umarmte sie aber immer fester und ungestümer und fühlte durch das dünne Gewebe die Frische ihres elastischen nackten Körpers. Sie wehrte sich und stieß seine Hände zurück. Plötzlich zog er durch eine unbeabsichtigte Bewegung an ihrem halb aufgeknöpften Hemd, das nur noch an einer Schulter hing. Das Hemd ging ganz auf, glitt herunter und fiel ihr vor die Füße.

Ganz nackt, vom matten Golde ihrer roten Haare wie von einer Glorie umgeben, stand sie vor ihm. So seltsam und verführerisch erschien das schwarze Schönheitspflästerchen über ihrer linken Augenbraue. In ihren länglich und schief geschlitzten Augen lag etwas Ziegenhaftes, Fremdartiges und Wildes.

»Laß mich, Aljoschka! Ich schäme mich!«

Wenn sie sich auch schämte, so doch nicht allzusehr: sie wandte sich nur ein wenig mit ihrem gewohnten, trägen, gleichsam verächtlichen Lächeln von ihm weg und blieb unter seinen Liebkosungen wie immer kalt, unschuldig, beinahe jungfräulich, trotz der kaum wahrnehmbaren Rundung ihres Leibes, die die Schwangerschaft kaum andeutete. In solchen Augenblicken schien es ihm, als ob ihr Körper seinen Armen entglitte, zerschmelze, sich wie ein Gespenst in der Luft auflöse.

»Afrossja! Afrossja!« flüsterte er, indem er sich bemühte, das Gespenst einzufangen und festzuhalten. Und plötzlich sank er vor ihr in die Kniee.

»Schäme dich,« wiederholte sie. »Vor einem Feiertag! Da brennt ja auch das Lämpchen . . . Diese Sünde, diese Sünde . . .«

Aber gleich darauf führte sie mit gleichgültiger und sorgloser Gebärde den angebissenen Pfirsich an ihren halb geöffneten Mund, der ebenso rot und frisch war wie die Frucht.

»Ja, es ist eine Sünde,« ging es ihm durch den Kopf. »Vom Weibe kommt jede Sünde, an der wir zugrundegehen . . .«

Auch er blickte unwillkürlich auf das Heiligenbild zurück, und plötzlich fiel es ihm ein, daß ein ganz gleiches Bild nachts während des Gewitters im Sommergarten den Händen seines Vaters entglitten und am Sockel der Venus von Petersburg, der weißen Teufelin, in Stücke gegangen war.

Im Viereck der offenen Türe, die nach dem dunkelblauen Meere hinausging, zeichnete sich ihr goldig-weißer Körper gegen das glühende Meeresblau wie der Schaum der Wellen ab. In der einen Hand hielt sie die Frucht und hatte die andere gesenkt, um mit einer keuschen Gebärde wie die Schaumgeborene selbst ihre Blöße zu bedecken. Hinter ihr schäumte aber und funkelte das blaue Meer wie eine schale Ambrosia, und sein Rauschen klang wie das ewige Lachen der Olympier.

Das war dieselbe leibeigene Magd Afroßjka, die an einem Frühlingsabend im Hause der Wjasemskij's auf der Kleinen Ochta zu Petersburg tief gebeugt, den Rock hoch gerafft, mit einem Bastwische den Fußboden gescheuert hatte. Es war die Magd Afroßjka und die Göttin Aphrodite in der gleichen Person.

»Venus, Venus, weiße Teufelin!« ging es dem Zarewitsch durch den Kopf. In seiner abergläubischen Angst war er bereit, aufzuspringen und wegzulaufen. Aber der sündhafte und doch unschuldige Körper hauchte ihn wie eine eben aufgegangene Blüte mit dem ihm wohlvertrauten, berauschenden, schrecklichen Dufte an, und ohne selbst zu wissen, was er tat, verneigte er sich vor ihr noch tiefer, küßte ihre Füße, blickte ihr in die Augen und flüsterte wie ein Betender:

»Zarin! Du meine Zarin!«

Und die trübe Flamme des Lämpchens flackerte vor dem heiligen, wehmütigen Antlitze der Ikone.


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