Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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V.

Peter hatte einen unnatürlich leisen Schlaf. Es war verboten, nachts am Palais vorbeizufahren und selbst vorbeizugehen. Am Tage, wo sich in einem bewohnten Hause Geräusche unmöglich vermeiden ließen, pflegte er auf seiner Jacht zu schlafen.

Als er sich hingelegt hatte, spürte er große Müdigkeit: er war wohl an diesem Tage zu früh aufgestanden und hatte sich auf der Admiralität überanstrengt. Er gähnte mit Wohlbehagen, reckte sich, schloß die Augen und begann schon einzuschlafen, als ihn plötzlich etwas wie ein unerträglicher Schmerz durchzuckte. Es war der Gedanke an seinen Sohn, den Zarewitsch Alexei. Dieser Schmerz hatte immer dumpf an seinem Herzen genagt. Aber manchmal, in Stille und Einsamkeit machte er sich mit neuer Kraft wie eine aufgerissene Wunde bemerkbar.

Er bemühte sich einzuschlafen, der Schlaf wollte aber nicht mehr kommen. Die Gedanken drängten sich ihm ganz von selbst in den Kopf.

Dieser Tage hatte er einen Brief bekommen, in dem Tolstoi ihm mitteilte, daß Alexej um nichts in der Welt zurückkehren würde. Mußte er nun selbst nach Italien reisen und einen Krieg mit dem Kaiser und England, vielleicht sogar mit ganz Europa beginnen, jetzt wo er an nichts anderes als an die Beendigung des Krieges mit den Schweden und an den Frieden denken durfte? Wofür hatte ihn Gott mit einem solchen Sohne gestraft?

»Absalons Herz, Absalons Herz, das alle Taten seines Vaters haßte und ihm selbst den Tod wünschte!« stöhnte er dumpf, sich die Schläfen mit den Händen zusammenpressend.

Es fiel ihm ein, daß sein Sohn ihn vor dem Kaiser und vor der ganzen Welt einen Bösewicht, einen Tyrannen, einen Gottlosen genannt, daß Alexejs Freunde, »die langen Bärte«, die Mönche und frommen Greise ihn, Peter, für den Antichrist erklärt hatten.

»Die Dummköpfe!« sagte er für sich mit ruhiger Verachtung, »hätte ich denn das, was ich vollbracht habe, ohne Gottes Hilfe vollbringen können? Wie sollte ich nicht an Gott glauben, wenn Er seit meiner Kindheit bis zu dieser Stunde stets mit mir gewesen ist?«

Sein Gewissen prüfend, gleichsam sich selbst beichtend, ließ er sein ganzes Leben vor sich vorüberziehen.

War es nicht Gott, der ihm den Wunsch zu lernen eingegeben hatte? Mit sechzehn Jahren konnte er kaum schreiben und nur sehr mangelhaft addieren und subtrahieren. Damals ahnte er aber schon dunkel, was er später klar begriff: »Die Rettung Rußlands liegt im Wissen; alle übrigen Völker verfolgen die Politik, Rußland in Unwissenheit zu erhalten und keinerlei Aufklärung, besonders aber in der Kriegswissenschaft, über die Grenze dringen zu lassen, damit dieses Land seine eigene Kraft nicht erkenne.« Und er hatte sich entschlossen, selbst ins Ausland zu gehen, um dort zu lernen. Als man von diesem Entschluß in Moskau erfuhr, kamen der Patriarch und die Bojaren, die Zarinnen und die Zarewnas zu ihm, legten ihm seinen Sohn Mjoschenjka vor die Füße und flehten ihn unter Tranen an, er möchte doch nicht zu den Deutschen fahren, denn solches sei, so lange Rußland bestehe, noch nicht vorgekommen. Und das Volk begleitete ihn wehklagend, als ob er in den Tod ginge. Er reiste aber trotzdem fort, und so geschah das Unerhörte: der Zar nahm statt des Szepters die Axt in die Hand und wurde einfacher Zimmermann. »Ich gehöre dem Stande der Lernenden an und suche nach einem Lehrer. Das man mit eigenen Händen gemacht hat, das kann man für kein Geld kaufen.« Und Gott segnete seine Mühe: aus der Rotte junger Burschen, die er zum Zeitvertreib wie Rekruten abrichtete und die seine Schwester Zsofja verächtlich »ausgelassene Stallknechte« nannte, entstand sein mächtiges Heer; aus den kleinen Spielzeugkähnen, in denen er auf den Teichen des Roten Gartens spazieren fuhr, – seine siegreiche Flotte.

Der erste Zusammenstoß mit den Schweden führte zu der Niederlage bei Narwa. »Das Ganze war wie ein Kinderspiel, von Kriegskunst war dabei keine Rede, wenn ich heute daran denke, so muß ich diese Niederlage für eine göttliche Gnade halten, denn das Unglück trieb uns unsere Faulheit aus und zwang uns, Tag und Nacht zu arbeiten und zu lernen.« Die Niederlage schien schrecklich. König Karl prahlte: »Wir könnten die russische Kanaille nicht nur mit dem Degen, sondern auch mit einer Peitsche aus der ganzen Welt, geschweige denn aus ihrem eigenen Lande, hinaustreiben!« Hätte Gott ihm damals nicht geholfen, so wäre er zugrunde gegangen.

Ihm fehlte Kupfer für die Geschütze; er befahl, die Kirchenglocken in Geschütze umzugießen. Die Mönche drohten, daß Gott ihn dafür strafen würde. Er wußte aber, daß Gott mit ihm war. Ihm fehlten auch Pferde; er ließ Menschen vor die Geschütze der neuen, »mit Tränen benetzten« Artillerie spannen.

Alles gärte wie junger Wein. Draußen gab es Krieg und innen Aufstände. Die Empörung von Astrachan, die von Bulawin. Karl hatte die Weichsel und den Njemen überschritten und Grodno besetzt, zwei Stunden nachdem Peter die Stadt verlassen hatte. Er erwartete von Tag zu Tag, daß die Schweden auf Petersburg oder Moskau marschieren würden; er befestigte beide Städte und bereitete sie für eine Belagerung vor. In derselben Zeit war er so schwer krank, daß er an seinem Leben verzweifelte. Und wieder geschah ein Wunder Gottes: Karl brach allen Erwartungen und jeder Wahrscheinlichkeit zum Trotz seinen Vormarsch ab und wandte sich nach dem Südosten, nach der Ukraine. Der Aufstand legte sich von selbst. »Der Herr hat auf wunderbare Weise das Feuer mit Feuer gelöscht, damit wir alle sehen können, daß alles nicht vom menschlichen, sondern von Seinem Willen abhängt.«

Nun kamen die ersten Siege über die Schweden. Während der Schlacht bei Ljessnoje hatte er hinter der Front die mit Picken bewaffneten Kosaken und Kalmücken aufgestellt, die den Befehl hatten, jeden, der zu fliehen versuchte, und wenn es auch der Zar selbst wäre, niederzustechen. Den ganzen Tag war man im Feuer gestanden, doch nicht aus Reih und Glied gekommen und um keine Handbreit gewichen; viermal waren die Gewehre vom Schießen glühend geworden, viermal mußten die Beutel und Taschen mit Patronen frisch gefüllt werden. »Solange ich diene, habe ich noch kein solches Spiel gesehen; wir haben aber diesen Tanz vor den Augen des heißblütigen Karls gar nicht übel getanzt!« Von nun an »wurde der schwedische Nacken biegsamer.«

Poltawa. Noch nie in seinem Leben hatte er die helfende Hand Gottes so sehr gespürt wie an diesem Tage. Es war wieder ein Glück, das an ein Wunder grenzte. Karl war in der vorhergehenden Nacht von einer zufälligen Kosakenkugel verletzt worden. Gleich zu Beginn wurde die Tragbahre, auf der Karl der Schlacht beiwohnte, von einer Kanonenkugel getroffen; die Schweden glaubten, daß er erschlagen worden sei, und ihre Reihen gerieten in Unordnung. Peter sah die Schweden fliehen, und es war ihm, als ob ihn unsichtbare Flügel trügen; er wußte, daß der Tag von Poltawa »der Tag der Auferstehung Rußlands« und die strahlende Sonne dieses Tages die Sonne des ganzen neuen Rußlands sei.

»Nun ist der Grundstein zur Erbauung Sankt-Petersburgs endgültig gelegt. Von nun an werden wir in Petersburg ruhig schlafen können.« War nicht auch diese, allen Elementen zum Trotz, mitten unter Sümpfen und Wäldern gegründete Stadt, »das wie ein Kind in Schönheit emporwachsende, göttliche Paradies und heilige Land« ein großes Wunder Gottes, ein Zeichen der Gnade, die Gott ihm nun ununterbrochen und offensichtlich vor dem Antlitze der kommenden Jahrhunderte erwies?

Und jetzt, wo es beinahe vollendet war, drohte alles wieder einzustürzen. Gott war von ihm gewichen und hatte ihn verlassen. Nachdem er ihm den Sieg über die äußeren Feinde verliehen hatte, traf er ihn in seinem innersten Herzen, in seinem eigenen Fleisch und Blut, in seinem Sohn.

Die gefährlichsten Verbündeten seines Sohnes waren nicht die fremden Armeen, sondern die im Innern seines Staates wimmelnden Heere der Schelme, Nichtstuer, bestechlichen Beamten und anderer schlechter Menschen. Aus der Art, wie während seiner letzten Abwesenheit aus Rußland die Geschäfte geführt worden waren, konnte Peter schließen, wie sie dereinst nach seinem Tode gehen würden: während dieser wenigen Monate hatte alles gekracht und gewankt wie eine alte morsche Barke, die bei Sturm auf eine Sandbank geraten ist.

»Ungeheure Mißbräuche haben sich überall bemerkbar gemacht.« Nun erließ er gegen die bestechlichen Beamten einen Ukas nach dem andern, einer grausamer als der andere. Fast jeder begann mit den Worten: »Wenn jemand diesen unsern letzten Ukas nicht beachtet . . .« doch diesem letzten folgten immer neue mit denselben Drohungen und der Erklärung, daß er der letzte sei.

Manchmal ließ er vor Verzweiflung die Hände sinken. Er fühlte eine entsetzliche Ohnmacht. Er stand allein gegen alle, wie ein großes Tier, das von Mücken und Stechfliegen überfallen und zu Tode gestochen wird.

Als er merkte, daß er mit Gewalt nichts erreichen konnte, wandte er List an. Er begünstigte die Denunziationen und richtete ein besonderes Amt der Fiskale ein. Nun kamen im Lande Angebereien und Intrigen auf. »Die Fiskale passen gar nicht auf, sie leben wie Faulenzer und decken einander, weil sie alle eine Bande bilden.« Schelme denunzieren Schelme, Angeber – Angeber, Fiskale – Fiskale, und der Erzfiskal ist auch zugleich der Erzschelm.

Es ist ein Abgrund von Scheußlichkeit, eine bodenlose Mistgrube, ein Augiasstall, den kein Herkules zu säubern vermag. Alles fließt in Schmutz auseinander und löst sich auf wie bei Tauwetter. An allen Ecken und Enden tritt die »uralte Fäulnis« zutage. In ganz Rußland herrscht ein solcher Gestank wie einst bei Poltawa, als die Armee das Schlachtfeld räumen mußte, weil die Mannschaften am Gestank der zahllosen Leichen beinahe erstickt wären.

Auch in ihren Herzen herrscht Finsternis wie in den Geistern. Sie wollen das Gute nicht, weil sie das Gute nicht begreifen. Der Adel und das einfache Volk sind wie Jerjoma und Foma im Sprichwort: Jerjoma lehrt nicht, Foma kann nichts. Hier können keinerlei Ukase helfen.

»Unsere Köpfe sind stumpf, und unsere Hände sind ungelenk; unser Volk ist schwer von Begriff,« sagten ihm die Alten.

Einmal hörte er von einem holländischen Steuermann eine alte Sage: Schiffer erblickten mitten im Ozean eine unbekannte Insel; sie legten an, gingen ans Land und machten Feuer, um sich Essen zu kochen; plötzlich begann aber das Land zu beben und versank ins Wasser, so daß sie beinahe ertranken. Was ihnen als Insel erschienen war, stellte sich als der Rücken eines schlafenden Walfisches heraus. Glich nicht die ganze neue Aufklärung Rußlands diesem Feuer, das auf dem Rücken eines Leviathans, auf der starren Masse des schlafenden Volkes angezündet war?

Verfluchte Sisyphusarbeit! Sie ist wie die Arbeit der Sträflinge, die in Roggerwiek eine Mole bauen; ein Sturm vernichtet in einer Stunde alles, was die Mühe vieler Jahre gekostet hat; sie bauen wieder, und wieder stürzt alles ein, und so geht es in die Unendlichkeit.

»Wir sehen alle,« hatte ihm einst ein kluger Bauer gesagt, »wie du, großer Zar, dich abmühst; du kannst aber nichts erreichen, weil du keine Gehilfen hast: wenn du die Karre selbst mit zehnfacher Kraft auf den Berg hinaufziehst, so ziehen Millionen sie wieder bergab; wie kann da die Arbeit vorwärts gehen?«

»Eine Last, eine unerträgliche Last!« stöhnte Peter, schlaflos auf seinem Bette liegend, mit solchem Schmerz, als ob die ganze Last Rußlands wirklich auf ihm allein ruhte.

»Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich nicht Gnade vor deinen Augen, daß du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legest?« wiederholte er die Worte Mosis zu Gott. »Habe ich nun alles Volk empfangen oder geboren, daß du zu mir sagen magst: Trage es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das du ihren Vätern geschworen hast? Ich vermag das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer. Und willst du also mir tun, so erwürge mich lieber, habe ich anders Gnade vor deinen Augen gefunden, daß ich mein Unglück nicht so sehen müsse.«

Und plötzlich dachte er wieder an seinen Sohn und fühlte, daß diese ganze entsetzliche Last, die ganze Leichenstarre Rußlands in ihm, in seinem Sohne ruhte.

Endlich gewann er mit ungeheurer Willensanstrengung Oberhand über sich selbst, rief den Kammerdiener, kleidete sich an, setzte sich ins Boot und kehrte ins Palais zurück, wo ihn die wegen Gaunereien und Bestechlichkeit vorgeladenen Senatoren erwarteten.


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