Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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IV.

Das Kloster verödete. Die Mönche waren nach allen Richtungen geflohen wie die Ameisen aus einem zerstörten Ameisenhaufen.

Die Selbstverbrenner versammelten sich aber in einer Kapelle, die abseits vom Kloster auf einem hohen Hügel stand, von wo aus sie das anrückende Kommando schon aus der Ferne sehen mußten.

Die Kapelle war aus altem trockenen Holze gezimmert und so gebaut, daß man aus ihr während des Brandes nicht entrinnen konnte. Die Fenster waren wie Ritzen, und auch die Türen so schmal, daß ein Mensch nur mit Mühe hineindringen konnte. Der Flur und die Treppe wurden abgerissen. An die Türe befestigte man Bretterschilder, um sie zu verrammeln. Die Fenster wurden mit dicken Balken vergittert. Dann begann man, alles zum Anzünden vorzubereiten: man warf Hanf, Stroh, Teer und Birkenrinde auf den Boden; man bestrich die Wände mit Pech; auf die besonderen Holzrinnen, die um den ganzen Bau liefen, streute man Schießpulver; einige Pfund davon bewahrte man eigens auf, um es im letzten Augenblick auf den Boden zu schütten. Auf dem Dach stellte man zwei Wachtposten auf, die Tag und Nacht abwechselnd aufzupassen hatten, ob die Verfolger nicht schon kämen.

Man arbeitete mit solchen Freuden, als ob man sich zu einem Feste rüstete. Die Kinder halfen den Erwachsenen. Die Erwachsenen wurden zu Kindern. Und alle waren lustig, wie berauscht. Am lustigsten war Petjka Shisla. Er arbeitete für fünf. Seine verdorrte Hand mit dem Rekrutierungsstempel, dem Siegel des Antichrist war auf einmal wieder gesund und beweglich.

Der alte Kornilij lief geschäftig wie eine Spinne in ihrem Netz hin und her. Seine Augen, die so strahlten, daß man glauben mußte, sie würden im Finstern wie Katzenaugen leuchten, hatten eine seltsame Gewalt: wen er mit ihnen anblickte, der verlor seinen eigenen Willen und folgte in allen Dingen dem Willen des Alten.

»Gebt euch Mühe, Kinderchen!« scherzte er mit den dem Tode Geweihten. »Ich Alter bin das Stangenpferd, und ihr Kinder die Beipferde; so werden wir gerade in den Himmel fahren wie der Prophet Elias in seinem feurigen Wagen!«

Als alles fertig war, begann man sich einzusperren. Alle Fenster mit Ausnahme eines einzigen, des engsten, und die Türen wurden verrammelt und vernagelt. Alle lauschten schweigend den Hammerschlägen; es war, als ob man über ihnen, die noch lebten, den Sargdeckel zunagelte.

Nur Iwanuschka der Narr sang sein ewiges Lied:

Sarg aus Fichtenbrettern
Ist für mich gezimmert.
Werde darin liegen
Bis Posaunen schallen.

Zu denen, die beichten wollten, sagte der Alte:

»Was fällt euch ein, Kinderchen! Was braucht ihr zu beichten? Ihr seid jetzt wie die Engel Gottes und noch mehr als die Engel, nach dem Worte Davids: ›Ich habe wohl gesagt: Ihr seid Götter.‹ Ihr habt die ganze Macht des Feindes überwunden. Die Sünde hat keine Gewalt mehr über euch. Ihr könnt nicht mehr sündigen. Und selbst wenn einer von euch seinen leiblichen Vater erschlagen oder mit seiner Mutter gebuhlt hat, so ist er doch ein Heiliger und ein Gerechter. Die Flamme wird alles reinigen!«

Der Alte befahl Tichon, die Offenbarung Johannis vorzulesen, die sonst bei keinem Gottesdienste vorgelesen wird:

»Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen. Und der auf dem Stuhle saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu. Und er spricht zu mir: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß. Und er sprach zu mir: Es ist geschehen.«

Während des Lesens empfand Tichon das ihm bekannte Gefühl des Endes mit solcher Kraft wie noch nie. Es war ihm, als ob die Wände der Kapelle ihn und die andern von der Welt, vom Leben und von der Zeit trennten wie die Wände eines Schiffes vom Wasser; draußen dauert noch die Zeit, hier ist sie aber schon stehengeblieben, das Ende ist angebrochen, es ist geschehen.

»Ich sehe . . . ich sehe . . . ich sehe . . . ach meine lieben Väterchen!« schrie plötzlich Kilikeia die Besessene, das Lesen unterbrechend, auf. Ihr blasses Gesicht war verzerrt, und der Blick der weitgeöffneten Augen unbeweglich.

»Was siehst du, Mutter?« fragte sie der Alte.

»Ich sehe die große Stadt, das heilige Jerusalem herniederfahren aus dem Himmel von Gott; sie hat die Herrlichkeit Gottes, und ihr Licht ist gleich dem alleredelsten Stein, einem hellen Jaspis, einem Smaragd, einem Saphir und einem Topas. Und die zwölf Tore sind zwölf Perlen. Und die Gassen der Stadt sind lauter Gold, wie ein durchscheinendes Glas. Und die Stadt bedarf keiner Sonne, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie. Es ist so schrecklich, ach so schrecklich, Väterchen! Ich sehe sein Gesicht glänzender denn Sonnenlicht. Da ist Er, da ist Er, Er kommt zu uns!«

Und denen, die ihr zuhörten, war es, als ob sie auch selbst alles sähen, worüber sie sprach.

Als die Nacht anbrach, zündete man die Kerzen an, kniete nieder und stimmte den Choral an:

»Siehe, der Bräutigam kommt zur Mitternacht, und selig ist der Knecht, den er wachend findet. Nehme dich in acht, meine Seele, daß du nicht vom Schlafe überwältigt wirst, damit du nicht dem Tode verfällst und vom Himmelreiche ausgeschlossen wirst. Erhebe dich aber und rufe: heilig, heilig, heilig ist der Herr! Sei uns, gnädig um deiner Mutter willen! Wache, meine Seele, jenen Tag des Schreckens erwartend, und entzünde deine Lampe; denn du weißt nicht, zu welcher Stunde der Ruf erklingen wird: Der Bräutigam ist gekommen!«

Sofia stand neben Tichon und hielt ihn bei der Hand. Er fühlte den Druck ihrer zitternden Finger und sah auf ihrem Gesicht ein verschämtes freudiges Lächeln: so lächelt die Braut dem Bräutigam unter der Hochzeitskrone zu. Eine Freude, die der ihrigen verwandt war, erfüllte sein Herz. Jetzt schien es ihm, als wäre seine frühere Furcht nur eine Versuchung des Teufels gewesen, als sei der Rote Tod der Wille Gottes: »Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten.«

Man erwartete in dieser Nacht das Eintreffen des Kommandos. Es kam aber nicht. Der Morgen brach an und mit ihm kam eine Müdigkeit wie nach einem Rausche.

Der Alte gab auf alle aufmerksam acht. Denen, die den Mut verloren und verzagten, gab er Pillen aus einer aromatischen dunklen Masse, die wie Beeren aussahen und wohl irgendein betäubendes Kraut enthielten. Wer so eine Pille verzehrte, geriet in Raserei, verlor jede Angst vor dem Feuer und sprach von ihm wie von der Seligkeit des Paradieses.

Um sich Mut zu machen, erzählte man sich von dem angeblich viel schrecklicheren Hungertode in den »Sterbekammern«.

Die Anhänger dieser Todesart wurden als Mönche eingekleidet und in eine leere Hütte gesperrt, die ohne Fenster und ohne Türen war und nur eine Pritsche enthielt. Damit sie sich nicht selbst töteten, nahm man ihnen alle Kleider, die Gürtel und selbst die Kreuze ab. Man ließ sie durch eine Öffnung in der Decke hinab und vernagelte dann diese, so daß niemand entrinnen konnte. Draußen stellte man mit Keulen bewaffnete Wächter auf. Die dem Tode Geweihten quälten sich drei, vier, manchmal auch sechs Tage, sie weinten und flehten: »Gebt uns zu essen!« Sie nagten an ihrem eigenen Körper und verfluchten Gott.

Einmal hatten zwanzig Menschen, die man auf diese Weise in eine Tenne, die im Walde stand, eingesperrt hatte, ein Brett herausgeschlagen und zu entkommen versucht; die Wächter schlugen sie aber mit den Keulen auf die Köpfe und töteten ihrer zwei; die übrigen sperrten sie wieder in die Tenne und fragten den Ältesten der Gemeinde, was mit ihnen anzufangen sei. Dieser befahl, um die Tenne herum Stroh zu legen und sie anzuzünden.

»Der Rote Tod ist unvergleichlich leichter: man verbrennt und fühlt es gar nicht!« schlossen die Erzähler.

Die siebenjährige Akuljka, die die ganze Zeit über ruhig auf einer Bank gesessen und gespannt zugehört hatte, begann plötzlich zu zittern, sprang auf, lief zu ihrer Mutter, ergriff den Saum ihres Kleides und weinte und schrie mit durchdringender Stimme:

»Mutter! Mutter! Gehen wir von hier fort! Ich will nicht verbrennen!«

Die Mutter suchte sie zu beruhigen, aber das Kind schrie immer lauter, immer rasender:

»Ich will nicht verbrennen! Ich will nicht verbrennen!«

In diesem Schreien lag eine solche tierische Angst, daß alle erbebten, als hätten sie plötzlich den Schrecken dessen eingesehen, was hier geschehen sollte. Man versuchte das Mädchen durch Liebkosungen zu besänftigen, ihm zu drohen, es zu schlagen, sie fuhr aber fort zu schreien; schließlich fiel sie ganz blau und halb erstickt vom Schreien zu Boden und wand sich in Krämpfen.

Kornilij beugte sich über sie, bekreuzigte sie, schlug sie mit dem Rosenkranz und sprach die für die Austreibung des Teufels vorgeschriebenen Gebete:

»Fahre hinaus, fahre hinaus, verruchter Geist!«

Aber nichts wollte helfen. Da nahm er sie auf die Arme, machte ihr gewaltsam den Mund auf und zwang sie, eine der dunklen Beeren einzunehmen. Dann begann er, ihr sanft die Haare zu streicheln und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Mädchen wurde allmählich still und schien einzuschlafen, aber ihre Augen waren offen, die Pupillen erweitert und der Blick unbeweglich wie im Delirium. Tichon lauschte dem Geflüster des Alten. Er sprach zu dem Kinde vom Himmelreiche und von den Gärten des Paradieses.

»Wird es dort auch Himbeeren geben, Onkelchen?« fragte Akuljka.

»Gewiß, mein Kind, so große Himbeeren wird es dort geben, jede Beere wie ein Apfel groß, und so duftend, so süß wie Honig.«

Das Mädchen lächelte. Man sah ihr an, daß ihr im Vorgeschmack der paradiesischen Himbeeren das Wasser im Mund zusammenlief. Der Alte fuhr fort, sie zu liebkosen und mit mütterlicher Zärtlichkeit einzulullen. Tichon glaubte aber in seinen hellen Augen etwas Wahnsinniges, Elendes, Schreckliches, etwas von einer Spinne zu sehen. »Er ist wie eine Spinne, die sich an einer Fliege festgesogen hat!« dachte er.

Die zweite Nacht brach an, das Kommando war aber noch immer nicht gekommen.

Während der Nacht gelang es einer alten Nonne zu entkommen. Als alle und selbst die Wächter eingeschlafen waren, kletterte sie auf das Dach zu ihnen hinauf, versuchte, sich an zusammengebundenen Tüchern herabzulassen, stürzte aber hinunter, schlug sich wund und stöhnte lange unter den Fenstern. Endlich verstummte das Stöhnen; wahrscheinlich war sie davongekrochen oder von Vorübergehenden aufgehoben und fortgetragen worden.

In der Kapelle war es sehr eng. Man schlief auf dem Fußboden in Haufen, die Brüder zur rechten, die Schwestern zur linken Seite. war es ein Traumgesicht oder ein teuflisches Blendwerk, – aber mitten in der Nacht huschten scheue Schatten von der rechten Seite nach der linken und von der linken nach der rechten.

Tichon erwachte und begann zu lauschen, vor dem Fenster sang eine Nachtigall, und ihr Gesang sprach zu ihm von der Mondnacht, von der Frische der taubedeckten Wiese, vom Duft des Tannenwaldes, von Freiheit, Wollust und der Seligkeit der Erde. Gleichsam als Widerhall des Nachtigallengesanges schwirrten durch die Kapelle seltsame Flüstertöne, Geräusche und Laute, die ganz wie Liebesseufzer und Küsse klangen, stark ist wohl der Feind des Menschengeschlechts: die Angst vor dem Tode löschte die Glut des sündigen Fleisches nicht, sondern fachte sie an.

Der Alte schlief nicht. Er betete und sah und hörte nichts; wenn er etwas sah, so verzieh er es wohl seinen »armen Kinderchen«.

»Nur Gott allein ist ohne Sünde; der Mensch aber ist schwach, er fällt wie ein Stück Lehm und erhebt sich als Engel. Nicht das ist Hurerei, wenn man mit einer Witwe oder einem Mädchen buhlt, sondern wenn man in Glaubenssachen hurt; wir huren nicht, wenn wir mit unserem Körper sündigen, sondern die Kirche hurt, wenn sie sich mit der Ketzerei abgibt.«

Tichon fiel die Erzählung von den beiden Mönchen ein, die ein Mädchen zwanzig Werst weit in einen Wald verschleppt hatten und ihr dann mitten im Walde Zwang antun wollten, »schaffe mit uns die Liebe Christi, Schwester.« – »Was für eine Liebe Christi habe ich mit euch zu schaffen?« – »Vereinige dich mit uns im Fleische, denn das ist die Liebe Christi.« Das Mädchen weinte. »Fürchtet Gott!« Und die Mönche trösteten sie: »Das Feuer wird uns reinigen.« Die Arme sträubte sich, sie drohten ihr aber: »Wenn du nicht auf uns hörst, wird dir die himmlische Krone versagt sein!«

Tichon fühlte plötzlich, wie ihn jemand umarmte und sich an ihn schmiegte. Es war Sofja. Es wurde ihm unheimlich zumute. Aber er sagte sich: das Feuer wird alles reinigen. Er fühlte durch das schwarze Nonnenhabit hindurch die Wärme und die Frische ihres keuschen Leibes und drückte seine Lippen voller Gier an die ihrigen.

Und die Liebkosungen dieser beiden Kinder in der dunklen Kapelle, in dem gemeinsamen Grabe waren ebenso sündlos wie die Liebkosungen des Schäfers Daphnis und der Schäferin Chloe auf dem sonnenlichtübergossenen Lesbos.

Iwanuschka der Narr kauerte in einem Winkel mit einer Kerze in der Hand, wiegte sich im Takte hin und her und sang, auf den ersten Hahnenschrei wartend, sein ewiges Lied:

Särge, ihr Särge aus Eichenklötzen,
Ewige Wohnungen seid ihr für alle!

Und die Nachtigall sang von Freiheit, Wollust und der Seligkeit der Erde. Und sie schien zärtlich und schelmisch über den Grabgesang Iwanuschka des Narren zu lachen.

Tichon mußte an die weiße Nacht denken, an das Menschenhäuflein auf dem Floße, das auf der Newa zwischen den beiden Himmeln, den beiden Abgründen schwebte, an die leise, schmachtende Musik, die aus dem Sommergarten gleich Küssen und Liebesseufzern aus dem Reiche der Venus herüberklang:

Cupido, laß den Pfeil,
wir sind ja nicht mehr heil,
wir sind so süß versehret
Durch deinen Pfeil von Golde –
Die Liebe, ach, die Holde,
An unsren Herzen zehret!

Vor Sonnenaufgang machte auch der achtzigjährige Minej den Versuch, zu entkommen. Kirjucha fing ihn ein. Es kam zu einem Kampfe zwischen ihnen, wobei Minej Kirjucha mit der Axt beinahe erschlagen hätte. Der Alte wurde gebunden und in eine Kammer gesperrt. Er schrie aus der Kammer und beschimpfte Kornilij auf die unflätigste Weise.

Als Tichon bei Sonnenaufgang zum Fenster hinausblickte, um zu sehen, ob die Soldaten schon gekommen wären, erblickte er nur die vom Sonnenlicht übergossene leere Wiese, die traurigen und freundlichen Tannen und die in allen Farben des Regenbogens schimmernden Tautropfen. Er fühlte die duftende Frische des Tannenwalds, die zarte Wärme der aufgehenden Sonne und die milde Stille des blauen Himmels so stark, daß ihm alles, was in der Kapelle vorging, als Wahnsinn und Verbrechen erschien.

Und wieder begann ein langer, nicht endenwollender Sommertag, und alle waren von der quälenden Unruhe der Erwartung befallen.

Ihnen drohte der Hunger. Die Vorräte an Wasser und Brot waren gering; man hatte im ganzen nur noch einen Pack Roggen-Zwieback und zwei Körbe Hostien. Dafür hatte man viel Wein, roten Abendmahlswein. Man trank ihn mit Gier. Jemand, der zuviel getrunken hatte, stimmte plötzlich ein ausgelassenes Trinklied an. Es klang schrecklicher als das wildeste Stöhnen.

Man begann zu murren. Man sammelte sich in den Ecken, tuschelte miteinander und warf dem Alten Blicke zu, die nichts Gutes verhießen. Wenn nun die Soldaten nicht kommen? Soll man Hungers sterben? Die einen verlangten, daß man die Türe aufbreche und Brot holen lasse; in ihren Augen konnte man aber heimliche Fluchtgedanken lesen. Die andern wollten den Bau sofort anzünden, ohne erst die Ankunft der Verfolger abzuwarten. Andere beteten, aber mit einem solchen Gesichtsausdruck, als ob sie Gott lästerten. Andere wiederum, die von den betäubenden Beeren gegessen hatten, die der Alte jetzt immer öfter verteilte, phantasierten und lachten und weinten abwechselnd. Ein Bursche geriet in solche Raserei, daß er eine Kerze, die vor einem Heiligenbilde brannte, ergriff und die Lunten anzuzünden versuchte. Man löschte das Feuer mit großer Mühe. Andere saßen stundenlang schweigend, wie erstarrt da und wagten nicht, einander in die Augen zu sehen.

Sofja saß neben Tichon, der, von den schlaflosen Nächten und vom Hunger ermattet, am Boden lag, und sang ein trauriges Liedchen, daß die Anhänger der Thlysty-Sekte bei ihren gottesdienstlichen Versammlungen zu singen pflegten; das Lied von der großen Verwaistheit der Menschenseele, die von ihren Eltern, dem Gott-Vater und der Muttergottes im Leben wie in einem finsteren Walde verlassen worden ist:

Bitter ist es mir zumute,
Traurig ist es mir zumute,
Und mein Herz vergeht vor Kummer:
will zu Väterchen zu Gaste,
Und wie ich zum Vater gehe,
komm ich zu dem schnellen Strome.
Doch die Brücke ist zerbrochen,
Und der Fährmann fortgegangen.
Muß ich durch das Wasser waten.
Meine nassen Kleider kann ich
Dann beim lieben Vater trocknen.
Und mein Herz vergeht vor Kummer,
Bitter ist es mir zumute,
will zu Mütterchen zu Gaste,
will die liebe Mutter sehen,
Mit der lieben Mutter sprechen.

Und das Lied endete mit dem Flehen:

Allerreinste Muttergottes,
Bitt' für uns, du liebe, gute!
Viel Sünder sind hiernieden,
Auf der feuchten Mutter Erde,
Der Ernährerin, der Herrin.

Niemand achtete auf die beiden. Sofja hatte ihren Kopf auf Tichons Schulter gelegt, sich mit der Wange an seine Wange geschmiegt, und er fühlte, daß sie weinte.

»Du tust mir so leid, Tischenjka, mein Liebster!« flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich verfluchte habe deine Seele verführt und ins Verderben gestürzt! . . . Willst du fliehen? Ich werde dir einen Strick verschaffen. Oder ich sage es dem Alten: es gibt einen unterirdischen Gang von hier in den Wald, er führt dich hinaus . . .«

Tichon schwieg in unendlicher Ermattung und lächelte ihr nur wie ein verschlafenes Kind zu.

In seinem Geiste tauchten ferne Erinnerungen auf, verworren und nebelhaft wie Träume; die abstraktesten mathematischen Sätze kamen ihm in den Sinn, und er fühlte jetzt ihre ganze harmonische und strenge Schönheit, ihre eisige Durchsichtigkeit und Regelmäßigkeit, deretwegen der alte Glück einst die Mathematik mit der Musik, der kristallenen Sphärenmusik zu vergleichen pflegte. Er erinnerte sich auch an den Streit Glücks mit Jakob Bruce über die Newtonschen Kommentare zur Apokalypse, an das trockene, scharfe Lachen Bruces und seine Worte, die damals in Tichons Seele ein seltsames ahnungsvolles Grauen geweckt hatten: »Zu derselben Zeit, als Newton seine Kommentare schrieb, haben an einem anderen Ende der Welt, nämlich hier in diesem Moskowien, wilde Fanatiker, die man Raskolniki nennt, ebenfalls Kommentare zur Apokalypse verfaßt und sind zu den gleichen Ergebnissen gekommen wie Newton. Indem sie von Tag zu Tag auf das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi warten, legen sich die einen in Särge und singen sich selbst die Sterbelitaneien, während sich die andern selbst verbrennen. Folgendes finde ich ganz besonders interessant: in diesen apokalyptischen Phantasien begegnet sich der äußerste Westen mit dem äußersten Osten und die größte Aufklärung mit der größten Unwissenheit, was wohl tatsächlich den Gedanken eingeben kann, daß das Ende der Welt naht und daß wir alle bald zum Teufel gehen!« Einen neuen, unheimlichen Sinn bekam die Weissagung Newtons: »Hypotheses non fingo! Ich erfinde keine Hypothesen! – wie ein Falter ins Feuer fliegt, so stürzt der Komet in die Sonne, und von diesem Sturz wird die Sonnenhitze so gesteigert werden, daß alles, was auf Erden ist, vom Feuer vernichtet wird. Und in der Schrift steht geschrieben: ›Die Himmel werden mit großem Krachen zergehen, die Elemente aber werden vor Hitze zerschmelzen, und die Erde und die Werke, die darinnen sind, werden verbrennen.‹ So werden beide Weissagungen in Erfüllung gehen, die des Glaubenden und die des Wissenden.« Er erinnerte sich auch an den alten, von Mäusen zernagten Oktavbande aus der Bruce'schen Bibliothek, unter Nummer 461 mit der unorthographischen russischen Inschrift: »Des Leonardo da Vinci Traktat von der Malerei in deutscher Sprache« und an das dem Buche beigefügte Bildnis Leonardos mit dem Gesicht des Prometheus oder des Magiers Simon. Zugleich mit diesem Gesicht tauchte aber vor ihm ein anderes, ebenso schreckliches auf; das Gesicht des Riesen in der holländischen Lederjacke, den er einst zu Petersburg auf dem Troiza-Platz vor dem Kaffeehause »Zu den vier Fregatten« gesehen hatte, das Gesicht Peters, das ihm einst so verhaßt gewesen war und ihn jetzt so anzog. Beide Gesichter hatten etwas Gemeinsames, etwas Ähnliches und zugleich Entgegengesetztes: in dem einen war das große Schauen, im andern die große Tatkraft der Vernunft. Beiden Gesichtern entströmte ein kühler Hauch, und diese Kühle war Tichon ebenso wohltätig, wie der kalte Wind von den schneebedeckten Bergesgipfeln für den durch die Hitze der Täler ermüdeten Wanderer. »Oh, Physik, rette mich vor der Metaphysik!« Er erinnerte sich an diesen Ausspruch Newtons, den Glück, wenn er berauscht war, zu wiederholen pflegte. In diesen beiden Gesichtern lag die einzige Rettung vor dem flammenden Himmel des Roten Todes – »Erde, Erde, feuchte Mutter!«

Die Bilder wurden allmählich verschwommen, und er schlief ein. Es träumte ihm, daß er über irgend einer Märchenstadt dahinflöge, die ihn zugleich an die unsichtbare Stadt Kitesh, an das Neue Jerusalem und an die gläserne Stadt Stockholm »durchscheinend wie Glas und hell wie Jaspis« erinnerte; und in dieser strahlenden Stadt herrschte die Mathematik, die zugleich Musik war.

Plötzlich erwachte er. Alle liefen geschäftig hin und her und riefen mit freudig erregten Gesichtern:

»Das Kommando, das Kommando ist gekommen!«

Tichon blickte zum Fenster hinaus und sah in der Abenddämmerung ferne am Waldbrande Männer in Dreispitzen, grünen Röcken mit roten Aufschlägen und Messingknöpfen um ein Lagerfeuer sitzen. Es waren die Soldaten.

»Das Kommando, das Kommando ist gekommen! Schnell angezündet, Kinder! Gott ist mit uns!«


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