Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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Neuntes Buch.

Der rote Tod.

 

I.

In den Wäldern von Wetluga befand sich das Raskolniki-Kloster Dolgije Mchi, – »Langes Moos«. Undurchdringliche Moräste umgaben das Kloster von allen Zeiten. Im Sommer konnte man nur auf schmalen Holzstegen, die durch ein Dickicht führten, wo es auch am Tage fast eben so dunkel war wie in der Nacht, dahin gelangen, im Winter aber nur auf Schneeschuhen.

Eine Legende meldete, daß drei fromme Greise aus den Olonetzkijschen Wäldern, vom See Tolwuj nach der Zerstörung der dortigen Klöster durch die Nikonianer einem wundertätigen Muttergottesbilde folgend, das vor ihnen in der Luft schwebte, in diese Gegend gekommen seien, auf der Stelle, wo sich das Heiligenbild niedergelassen habe, eine kleine Hütte erbaut und ein Einsiedlerleben zu führen begonnen hätten; sie pflügten den Boden mit Grabscheiten, rodeten den Wald mit Feuer aus und säten auf der Asche. Bald sammelte sich um sie eine kleine Gemeinde. Die Greise, die alle drei an einem Tage und zur gleichen Stunde starben, befahlen den Brüdern vor dem Tode: »Lebt hier, Kinder, an dieser Stätte, wo unser Segen ruht. Ihr könnt lange suchen, werdet aber einen solchen Ort nicht finden, – hier hat die Elster ihren Kindern den Brei gekocht, hier soll ein großes Kloster erstehen.«

Die Prophezeihung war in Erfüllung gegangen: ein heiliges Kloster entstand im Waldesdickicht und erblühte unter dem heiligen Schutze der Muttergottes wie eine Lilie des Paradieses.

»Es ist ein großes Wunder,« hieß es in der Klosterchronik. »Das lichte Rußland wurde dunkel, und die finstere Wetluga erstrahlte, die Wüste füllte sich mit Heiligen, sie kamen herbeigeflogen wie die sechsgeflügelten Seraphim.«

Hier hatte sich nach langem Wandern durch die Wälder von Kersheneß und Tschernoramenskoje der Prediger der Selbstverbrennung, der fromme Greis Kornilij mit seinem Jünger, dem entlaufenen Scholaren, dem Strelitzensohn Tichon Sapolskij niedergelassen.

In einer Juninacht brannte in der Nähe des Klosters auf dem steilen Abhange über der Wetluga ein Feuer. Die Flamme beleuchtete von unten die Äste der alten Fichte und die aus Messing gegossene vom Gestade des Weißen Meeres stammende Ikone, die an den Stamm genagelt war. Am Feuer saßen die junge Klosterschwester Sofja und der Novize Tichon. Sie war in den Wald gegangen, um ein verirrtes Kalb zu suchen. Er kehrte gerade von einem Einsiedler zurück, der in einer fernen Einöde wohnte und zu dem er einen Brief von seinem Lehrer gebracht hatte. Sie waren einander auf dem Kreuzwege spät in der Nacht, als die Klostertore schon geschlossen waren, begegnet und hatten beschlossen, den Morgen gemeinsam am Feuer zu erwarten.

Sofja blickte in die Flamme und sang leise:

Und es sprach der Herr des Himmels, Christus:
Ach, ergebt euch nicht, ihr meine Lieben,
Jenem Drachen mit den sieben Köpfen!!
Flieht, versteckt euch in den Bergesschluchten
Und entzündet große Scheiterhaufen,
Leget Schwefel auf die Scheiterhaufen
Und verbrennet selbst darin zu Asche.
Leidet, meine Lieben, für den Heiland
Und für euren wahren Christenglauben.
Und ich will euch auftun, meine Lieben,
Alle Tore meines Paradieses
Und euch führen in das Reich des Himmels
Und mit euch dort ewiglich verweilen.

»So ist es Bruder,« schloß das Mädchen, Tichon mit einem langen Blick musternd, »wer sich verbrennt, der wird errettet. Es wäre gut, wenn alle für die Liebe des Sohnes Gottes verbrennen würden!«

Er schwieg, während er die Nachtfalter betrachtete, die über der Flamme kreisten, in sie hineinfielen und verbrannten, dachte er an die Worte Kornilijs: »Ebenso wie die Fliegen und die Mücken, je mehr man von ihnen zerdrückt, immer lauter summen und zudringlicher werden, so sind auch die lieben Russen immer bereit, zu leiden und haufenweise ins Feuer zu gehen.«

»Was meinst du, Bruder?« begann das Mädchen von neuem. »Oder fürchtest du dich vor jenem Feuerofen? Wage es doch, fürchte dich nicht vor dem Feuer! Die Qual im Feuer währt ja nur einen Augenblick, und schon hat die Seele den Körper verlassen. Bevor man in den Ofen kommt, hat man große Angst, ist man aber einmal darin, so hat man im Nu alles vergessen. Sobald die Flammen auflodern, erblickst du Christus und seine Engelschar. Die Engel nehmen dir die Seele aus dem Körper, und Christus, unsere Hoffnung, segnet sie und verleiht ihr göttliche Kraft. Nun hat sie keine Schwere mehr, sondern ist beflügelt; sie flattert wie ein Vöglein mit den Engeln und freut sich, daß sie aus dem Körper wie aus einem Kerker herausgeflogen ist. Vorher hatte sie gesungen und gejammert: ›Führe meine Seele aus dem Kerker, damit sie Deinen Namen bekenne!‹ Nun hat sie es erreicht: ihr Kerker verbrennt im Ofen, und die Seele erhebt sich so lauter wie Gold und Perlen zum Herrn! . . .«

In ihren Augen leuchtete solche Freude, als ob sie das, worüber sie sprach, schon sähe.

»Tischa, lieber Tischenjka, willst du denn den Roten Tod nicht? Fürchtest du dich vor ihm?« flüsterte sie mit einschmeichelnder Stimme.

»Ich fürchte die Sünde, Sofjuschka! Ob es wirklich Gottes Wille ist, daß man sich verbrennt? Ob es uns von Gott eingegeben ist und nicht vom Bösen?«

»Was soll man denn sonst anfangen? Eine große Not ist über uns gekommen!« sagte sie, indem sie ihre blassen, dünnen, noch ganz kindlichen Arme rang. »Man kann sich vor dem Drachen weder in den Bergen noch in den Höhlen und den Abgründen der Erde verbergen. Er hat mit seinem gottwidrigen Gifte die Erde, das Wasser und die Luft verpestet. Alles ist böse, alles ist verdammt!«

Die Nacht war still. Die Sterne blickten unschuldig wie Kinderaugen. Der abnehmende Mond lag schief über den schwarzen Wipfeln des Tannenwaldes. Unten, im Nebel, der sich vom Sumpfe erhob, schnarrten einschläfernd die Wachteln. Der Fichtenwald atmete trockenen, warmen Harzgeruch. Eine lila Glockenblume, die dicht vor dem Feuer stand und von seinem roten Scheine übergossen war, wiegte sich auf ihrem Stengel, als ob sie mit ihrem zarten, schläfrigen Köpfchen nickte.

Die Nachtfalter flogen in immer neuen Scharen ins Feuer, fielen hinein und verbrannten.

Tichon schloß seine vom Starren in die Flamme ermüdeten Augen. Und plötzlich erinnerte er sich an einen Sommermittag; es duftet nach Harz und zugleich nach frischen Äpfeln und Weihrauch. Sonnenlicht überflutet eine Lichtung im Walde; Bienen summen um Honigklee, Spierstauden und rosafarbige, klebrige Pechnelken; mitten auf der Lichtung steht ein halbverfaultes Holzkreuz, wohl über dem Grabe eines heiligen Einsiedlers. »Oh, herrliche Mutter Wüste!« wiederholt er vor sich seinen Lieblingsvers. Endlich hat ihm Gott seinen alten Wunsch erfüllt und ihn an die gnadenvolle, stille Stätte geführt. Er kniet nieder, schiebt die hohen Gräser auseinander, drückt sein Gesicht an die Erde, küßt sie, weint und betet:

Herrliche Königin, Muttergottes,
Erde, Erde, feuchte Mutter!

Er blickt zum Himmel empor und wiederholt:

Steig vom Himmel, vielbesung'ne Mutter,
Herrin, Fürstin, heil'ge Muttergottes!

Erde und Himmel sind gleich. Im sonnengleichen Antlitze des Himmels, dem Antlitze der Frau mit den flammenden Augen und flammenden Flügeln, der heiligen Sophia, der Allweisheit Gottes, sieht er das Antlitz der Erde, das er erkennen will und das zu erkennen er fürchtet. Dann steht er auf und geht in den Wald, wohin und wie lange er gegangen ist, weiß er nicht mehr. Endlich erblickt er vor sich einen kleinen, kreisrunden See, dessen steile Ufer mit Tannen bewachsen sind und sich im Wasser als geschlossene grüne Mauern spiegeln. Das Wasser ist dick wie Harz, grün wie Tannennadeln und so still, daß man es fast gar nicht sieht und der See wie ein Ausblick in einen unterirdischen Himmel erscheint. Auf einem Steine, dicht am Wasser sitzt die Klosterschwester Sofja. Er erkennt sie und erkennt sie nicht. Ein Kranz aus weißen Wasserlilien schmückt ihr offenes Haar, sie hat ihr schwarzes Klostergewand hochgerafft, ihre nackten weißen Beine ins Wasser gestellt und blickt mit trunkenen Augen. Sich im Takte hin und her wiegend und in den unterirdischen Himmel hinabblickend, singt sie ein leises Lied, eines von den Liedern, die man vorzeiten an den Feuern der Johannisnacht im Reigen zu singen pflegte:

Sonne, Sonne, lichte Sonne –
    Oj Did lado, – oj Did lado!
Blumen, Blumen, liebe Blumen –
    Oj Did lado, – oj Did lado!
Erde, Erde, feuchte Erde!

Etwas Uraltes und Wildes lag in diesem Lied, das wie die Klage einer Goldamsel in der Totenstille eines Mittags vor einem Gewitter klang, »wie eine Wasserjungfrau!« dachte er. Er wagte nicht, sich zu rühren, und lauschte mit verhaltenem Atem. Unter seinem Fuße knackte ein Zweig. Das Mädchen wandte sich um, stieß einen Schrei aus, sprang vom Steine auf und lief in den Wald. Um den Kranz herum, der ins Wasser gefallen war, zogen Kreise. Und es war Tichon so unheimlich zumute, als ob er in der Tat ein Waldgespenst, ein höllisches BIendwerk gesehen hätte. Als er sich an das Antlitz der Erde im Antlitze des Himmels erinnerte, erkannte er die Schwester Sofja, und sein Gebet an die feuchte Mutter Erde erschien ihm wie eine Gotteslästerung.

Er hatte noch niemals und mit niemandem darüber, was er am Runden See gesehen, gesprochen; er dachte aber oft daran, und wie sehr er sich auch bemühte, gegen die Versuchung anzukämpfen, konnte er sie doch nicht überwinden. Es kam zuweilen vor, daß er im keuschesten Gebete das Antlitz der Erde im Antlitze des Himmels erkannte.

Sofja blickte nach wie vor mit unverwandten, gierigen Blicken in die Flamme und sang das Lied vom heiligen Märtyrerkinde Kirik, das der heidnische Zar Maximianus in einen glühenden Ofen geworfen hatte:

Der kleine Kirik steht in der Glut
Und singt cherubinische Weisen.
Im Ofen wächst grünes, duftendes Gras,
Blühen hellblaue Blumen.
Das Kind pflückt die Blumen mit zarter Hand,
Wie die lichte Sonne strahlt sein Gewand.

Auch Tichon sah ins Feuer, und es war ihm, als ob er im durchsichtig blauen Herzen der Flamme die paradiesischen Blumen sähe, von denen im Liede die Rede war. Ihr an einen heiteren Himmel gemahnendes Blau verhieß überirdische Seligkeit; man mußte aber durch das rote Feuer, durch den Roten Tod hindurchgehen, um diesen Himmel zu erreichen.

Sofja wandte sich plötzlich zu ihm um, legte ihre Hand auf die seinige, näherte ihr Gesicht dem seinigen, so daß er ihren heißen Atem, der so leidenschaftlich war wie ein Kuß, fühlte, und flüsterte einschmeichelnd:

»Zusammen wollen wir verbrennen, Brüderchen, mein Sonnenlicht, mein Liebster! Allein ist es schrecklich, mit dir – ist es süß. Wir wollen zusammen zum Heiland gehen, zum Hochzeitsmahl! . . .«

Und sie wiederholte immer wieder wie eine endlose Liebkosung:

»Wir werden verbrennen! wir werden verbrennen!«

In ihrem bleichen Gesicht und ihren schwarzen Augen, die den Glanz der Flamme widerspiegelten, leuchtete für einen Augenblick wieder dasselbe Alte und Wilde auf, wie damals am Runden See, als sie das Lied der Johannisnacht sang.

»Wir wollen verbrennen, wir wollen verbrennen, Sofjuschka!« flüsterte er, von Grauen ergriffen, das ihn zu ihr hinzog wie das Feuer die Nachtfalter.

Unten, auf dem Pfade, der am Abhange entlangführte, erklangen Schritte.

»Jesu Christ, Sohn Gottes, erbarme dich unser, armer Sünder!« sprach eine Stimme.

»Amen!« erwiderten Tichon und Sofja.

Es waren Pilger. Sie hatten sich im Walde verirrt, wären beinahe im Moraste versunken, hatten aber endlich die Flamme erblickt und mit großer Mühe den Weg zu ihr gefunden.

Alle setzten sich im Kreise um das Feuer.

»Ist es noch weit bis zum Kloster, ihr Lieben?«

»Es ist gleich hier unten,« sagte Tichon. Er blickte die Frau, die nach dem Wege gefragt hatte, genauer an und erkannte jene Vitalia, die »wie ein Vogel ohne bleibende Stätte lebte« und immer wanderte und die er vor zwei Jahren auf den Flößen des Zarewitsch Alexej in Petersburg, auf der Newa, in der Nacht des Venusfestes gesehen hatte. Auch sie erkannte Tichon und freute sich über das Wiedersehen. In ihrer Gesellschaft befanden sich ihre unzertrennliche Begleiterin Kilikeja »die Besessene«, der flüchtige Rekrut Petjka Shisla, dessen mit dem Rekrutierungsstempel, dem Siegel des Antichrist gezeichnete Hand verdorrt war, und der alte Flößer Iwanuschka der Narr, der jede Nacht auf die Ankunft Christi wartete und das Lied der Grableger sang.

»Woher kommt ihr, Rechtgläubige?« fragte Sofja.

»Wir sind Pilger,« antwortete Vitalia. »Wir wandern und pilgern durch die Welt, fliehen den Ketzerglauben, haben keine bleibende Stätte und suchen die zukünftige Stadt. Jetzt kommen wir aus Kersheneß. Dort sind jetzt grausame Verfolgungen, Pitirim, der reißende Wolf und kirchliche Blutsauger hat siebenundsiebzig Klöster zerstört und das heilbringende Leben der Einsiedeleien ausgerottet.«

Nun begannen sie von den Verfolgungen zu sprechen.

Einen heiligen Greis hatte man in drei Folterkammern geschlagen, hatte ihm mit Zangen die Rippen gebrochen und den Nabel ausgerissen; dann hatte man ihn zur Winterszeit bei starkem Frost nackt ausgezogen und ihm kaltes Wasser über den Kopf gegossen, so daß sich vom Barte bis zur Erde Eiszapfen bildeten; schließlich brannte man ihn mit Feuer, bis er starb.

Andere wurden in eisernen Kummeten gepeinigt: »diese Kummete ziehen Kopf, Arme und Beine zusammen, und bei dieser grausamen Folter wird die Wirbelsäule gebrochen, und aus dem Munde, der Nase, den Augen und den Ohren spritzt Blut.«

Anderen wurde gewaltsam das Abendmahl eingegeben, indem man ihnen den Mund mit einem Keil aufriß. Ein Jüngling wurde von Soldaten in die Kirche geschleppt und auf eine Bank gelegt; der Pope und der Diakon kamen mit dem Kelch, die Küster hielten ihn an Armen und Leinen fest, rissen ihm den Mund auf und flößten ihm gewaltsam das Abendmahl ein. Er spuckte es aus. Da schlug ihn der Diakon mit der Faust auf die Kinnbacken, so daß der Unterkiefer absprang und der Unglückliche an dieser Wunde starb.

Eine Frau, die vor den Verfolgern entfliehen wollte, hatte ein Loch ins Eis geschlagen, zuerst ihre sieben kleinen Kinder hineingeworfen und sich dann selbst ertränkt.

Ein frommer Mann bekreuzigte seine schwangere Frau und seine drei Kinder und durchschnitt in derselben Nacht den Schlafenden die Kehlen. Am Morgen kam er aber aufs Amt und erklärte: »Ich habe die Meinigen zu Tode gepeinigt, und ihr werdet mich zu Tode peinigen; und so wie sie von mir den Tod empfingen, so werde ich von euch den Tod empfangen, und wir werden alle als Märtyrer für den alten Glauben ins Himmelreich kommen.«

Viele verbrannten sich selbst, um sich vor dem Antichrist zu retten.

»Sie tun gut daran, und ihr Beginnen ist gottgefällig. Denn denen, die dem Antichrist in die Hand fallen, kann auch Gott nicht helfen; man kann die Qual gar nicht ertragen, und niemand kann ihr widerstehen. Es ist besser, ins irdische Feuer als ins ewige Feuer zu fallen!« schloß Vitalia.

»Es gibt keinen anderen Ausweg als ins Feuer oder ins Wasser!« bestätigte Sofja.

Die Sterne erloschen. Am Horizonte unter den Wolken zogen sich blasse Streifen hin. Die Windungen des Flusses zwischen den endlosen Wäldern schimmerten im Nebel wie matter Stahl. Unten am Abhange, dicht am Ufer der Wetluga wurde in der Dämmerung das von einer Palisade umzäunte und an eine uralte Waldsiedelung erinnernde Kloster sichtbar. An der Flußseite war ein großes, geschnitztes, von einem Heiligenbilde bekröntes Tor angebracht. Innerhalb der Umzäunung stand eine »Herde« hölzerner Häuser mit hohen Unterbauten, mit Treppen, Fluren, gedeckten Gängen, Geheimkammern, Zellen, Türmen und schmalen Guckfenstern, die an die Schießscharten einer Festung erinnerten; die steilen Bretterdächer fielen nach beiden Seiten ab; außer den Zellen gab es hier noch allerlei Wirtschaftsgebäude: eine Schmiede, eine Nähstube, eine Gerber- und eine Schusterwerkstätte, ein Krankenhaus, eine Schule, eine Heiligenbilderwerkstatt und eine Pilgerherberge; auch die Kapelle der Muttergottes von Tolwuj war ein einfacher aus Balken gezimmerter Bau, doch größer als die andern; sie war von einem hölzernen Kreuz und einer kleinen, mit schuppenartig angeordneten Schindeln bedeckten Kuppel überragt; etwas abseits stand der Glockenturm, der sich schwarz vom bleichen Himmel abzeichnete.

Da erklangen schwache, klagende Töne: man läutete zur Frühmesse; statt Glocken gab es hier Eichenbretter, die an gedrehten Ochsensehnen hingen und auf die man mit einem dreikantigen Nagel schlug; nach der Legende hatte Noah auf diese Weise die Tiere in die Arche zusammengerufen. Dieses hölzerne Läuten klang in der Stille der Wälder ungemein lieblich, traurig und zart.

Die Pilger bekreuzigten sich, als sie das heilige Kloster, die letzte Zufluchtsstätte der Verfolgten erblickten.

»Werde geheiliget, Neues Jerusalem, denn die Ehre Gottes strahlt aus dir!« sang Kilikeja mit dem Ausdruck von Rührung und Freude auf ihrem durchsichtig blassen, gleichsam wächsernen Gesicht.

»Alle Klöster haben sie zerstört, dieses aber nicht angerührt!« bemerkte Vitalia. »Die Himmelskönigin selbst schützt wohl dieses Haus mit dem Saume ihres heiligen Gewandes. In der Offenbarung Johannis steht es geschrieben: Und es werden dem Weibe zwei Flügel gegeben, wie die eines großen Adlers, daß sie in die Wüste flöge . . .«

»Der Zar hat einen langen Arm, kann aber bis hierher doch nicht reichen,« versetzte einer der Pilger.

»Hier ist der letzte Rest Rußlands!« sagte ein anderer.

Das Läuten verstummte. Alle schwiegen. Es war die Stunde des großen Schweigens, wo, nach der Überlieferung, die Wasser ruhen, die Engel ihren Dienst tun und die Seraphim im heiligen Grauen vor dem Throne des Höchsten mit den Flügeln schlagen.

Iwanuschka der Narr saß zusammengekauert, die Kniee mit den Armen umfassend, blickte unverwandt auf den immer heller werdenden Osten und sang sein ewiges Lied:

Sarg aus Fichtenbrettern
Ist für mich gezimmert,
Werde darin liegen
Bis Posaunen schallen . . .

Und wieder, wie damals auf dem Floße in Petersburg, in der Nacht des Venusfestes, begannen sie von den letzten Zeiten und vom Antichrist zu sprechen.

»Bald kommt er, er steht schon vor der Türe!« begann Vitalia. »Heute können wir uns noch halbwegs durchschlagen; wenn aber der Antichrist einmal in der Welt ist, werden wir nicht einmal die Lippen rühren können; höchstens mit dem Herzen werden wir noch an Gott hängen . . .«

»So schwer ist es, so schrecklich schwer!« stöhnte Kilikeja, die Besessene.

»Neulich erzählte Awilka, ein flüchtiger Donscher Kosak,« fuhr Vitalia fort, »er hätte in der Steppe ein Gesicht gehabt: drei Greise, ganz gleich von Gestalt, waren vor seine Hütte getreten; sie sprachen russisch, es klang aber wie griechisch. Und er fragte sie: ›Woher kommt ihr und wohin geht ihr?‹ – ›Wir kommen aus Jerusalem,‹ sagten sie zu ihm, ›vom heiligen Grabe und gehen nach Sankt Petersburg, um den Antichrist zu sehen.‹ – ›Wer ist der Antichrist?‹ fragte er sie. – ›Es ist derjenige, den ihr Zar Peter Alexejewitsch nennt. Er wird Konstantinopel erobern, die Juden um sich versammeln, nach Jerusalem ziehen und dort regieren. Und die Juden werden ihn als den wahren Antichrist erkennen. Und das wird das Ende der Welt sein . . .«

Alle schwiegen wieder, als ob sie auf etwas warteten. Plötzlich erklang aus dem noch finsteren Wald ein gedehnter Schrei, der dem Weinen eines Kindes glich – wohl der Ruf eines Nachtvogels. Alle fuhren zusammen.

»Ach, Brüder, Brüder!« begann Petjka Shisla stotternd und schluchzend zu stammeln. »Es ist so schrecklich . . . Wir sprechen vom Antichrist, und er ist vielleicht schon in unserer Nähe, im Walde . . . Ihr seht doch selbst, welche Unruhe über uns gekommen ist . . .«

»Narren seid ihr, Narren, Schafsköpfe!« sagte plötzlich eine Stimme, die wie das böse Brummen eines Bären klang.

Sie wandten sich um und erblickten einen Pilger, den sie vorher nicht bemerkt hatten. Er war wohl während ihres Gesprächs aus dem Walde gekommen, hatte sich abseits in den Schatten gesetzt und die ganze Zeit über geschwiegen. Es war ein hochgewachsener, etwas buckliger alter Mann, ganz mit roten, hie und da ergrauten Haaren bewachsen. Sein Gesicht war in der Morgendämmerung fast nicht zu erkennen.

»Wie kommt er, Zar Peter, dieser Trunkenbold, Buhler und Schürzenjäger dazu, der Antichrist zu sein!« fuhr der Alte fort. »Höchstens die Spucke von einem Antichrist. Der letzte der Teufel wird auf einem ganz andern Schlitten gefahren kommen und ganz andere Einfälle haben als Peter!«

»Abba, Vater,« wandte sich an ihn Vitalia mit flehender Stimme, am ganzen Leibe vor Angst und Neugier zitternd, »belehre uns Dumme, erleuchte uns mit dem Lichte der Wahrheit, sage uns, wie wird die Ankunft des Sohnes des Verderbens sein?«

Der Alte krächzte, rückte hin und her und stand mit großer Mühe vom Boden auf. In seiner riesenhaften Gestalt lag etwas Schwerfälliges, Bärenhaftes und Plumpes. Ein Knabe reichte ihm die Hand und führte ihn ans Feuer. Unter dem schmutzigen Schafspelze, den er offenbar niemals auszog, hingen an eisernen Ketten schwere Steinplatten, die eine vorne und die andere hinten; auf dem Kopfe trug er eine eiserne Mütze; um die Hüften – einen eisernen Gürtel mit einer Öse. Tichon mußte an das Leben des heiligen Kapiton des Großen von Murom denken: auch er hatte am Gürtel eine Öse, und ein Haken an der Decke war sein Bett; er pflegte die Öse einzuhaken und hängend zu schlafen.

Der Alte setzte sich auf einen Fichtenstumpf und wandte sein Gesicht dem Osten zu. Der bleiche Morgenschein beleuchtete sein Gesicht. Statt Augen hatte er schwarze Löcher, Wunden mit blutigen Resten der Augäpfel. Spitze Nägel, mit denen seine eiserne Mütze vorne bespickt war, bohrten sich in die Schädelknochen; daher waren seine Augen ausgelaufen. Sein Gesicht war erschreckend, aber sein Lächeln zart und kindlich.

Und er sprach so, als ob er mit seinen blinden Augen die Dinge, von denen er sprach, sähe.

»Ach, ihr armen Brüder! Worüber seid ihr so erschrocken? Er selbst ist noch nicht erschienen, wir sehen und hören von ihm nichts. Es sind schon viele Vorläufer dagewesen, auch jetzt gibt es viele, und nach ihnen werden noch viele andere kommen. Sie bahnen ihm den Weg. Und wenn sie alles geputzt und rein gekehrt haben, da wird er selbst erscheinen. Er wird von einer unsauberen Dirne geboren werden, und der Satan wird in ihn fahren. Und der Versucher wird es in allen Dingen dem Sohne Gottes gleichtun: er wird keusch sein, wird die Fasten beobachten und mild und gnadenreich sein; er wird die Kranken heilen, die Hungernden speisen, den Obdachlosen ein Obdach geben und die Leidenden trösten. Und es werden zu ihm die Gerufenen und die Ungerufenen kommen und ihn zum König über alle Völker setzen. Und er wird seine Heere vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang versammeln, das Meer wird weiß von Segeln und das Feld schwarz von Schilden werden. Und er wird sprechen: ›Und meine Hand hat gefunden die Völker wie ein Vogelnest, daß ich habe alle Lande zusammengerafft, wie man Eier aufrafft, die verlassen sind!‹ Und er wird Wunder und Zeichen tun: er wird Berge versetzen, wird trockenen Fußes über Wasser gehen, Feuer vom Himmel bringen und die Teufel als die Engel des Lichts und die himmlischen Heerscharen zeigen. Mit Posaunen und Jubelrufen, mit lautem Geschrei und vielen Gesängen wird der Fürst der Finsternis, wie die Sonne strahlend, in den Himmel fliegen und mit großem Glanz auf die Erde herabsteigen. Und er wird sich in den Tempel des Höchsten setzen und sprechen: ›Ich bin der Herr!‹ Und alle werden ihn anbeten und sprechen: ›Du bist der Gott, und es gibt keinen Gott außer dir!‹ Und der Greuel der Verwüstung wird über die heilige Stätte kommen. Und dann wird die Erde weinen, und das Meer Tränen vergießen; der Himmel wird keinen Tau mehr geben, und die Wolken keinen Regen; das Meer wird von Gestank erfüllt werden; die Flüsse werden austrocknen und die Quellen versiegen. Die Menschen werden vor Hunger und Durst sterben. Und sie werden zum Sohne des Verderbens kommen und sagen: ›Gib uns zu essen und zu trinken!‹ Er aber wird ihrer spotten und sie beschimpfen. Und sie werden erkennen, daß er ein Tier ist. Sie werden vor seinem Angesicht fliehen, aber nirgends Schutz finden. Und Finsternis wird über sie fallen, Weinen über Weinen, Weh über Weh. Und die Menschen werden wie die Toten aussehen, die Reize der Frauen werden verwelken, und die Männer keine Wollust haben. Gold und Silber werden auf den Märkten liegen und niemand wird sie auflesen. Und sie werden vor Kummer verschmachten, und sich in die Zungen beißen und den lebendigen Gott lästern. Und dann werden die himmlischen Mächte erbeben, und das Zeichen des Menschensohnes wird am Himmel erscheinen. Schon kommt er. Komm, ach komm, Herr Jesu! Amen. Amen. Amen.«

Er verstummte und richtete seine blinden Augen auf den Osten, als ob er dort, am Rande des Himmels in den in Blut und Gold getauchten Wolkenmassen schon das sähe, was noch niemand gesehen hatte. Flammende Streifen breiteten sich über den Himmel wie die Flammenflügel der Seraphim, die auf ihren Antlitzen liegend den in Herrlichkeit kommenden Heiland anbeten. Über der schwarzen Mauer des Waldes erschien eine blendende, glühende Kohle. Ihre Strahlen brachen sich an den Wipfeln der schwarzen Tannen und spielten in allen Farben des Regenbogens. Und Himmel und Erde, Wasser und Laub, Vögel und alle Kreaturen und die Menschenherzen riefen mit großer Freude: Komm, ach komm, Herr Jesu!

Tichon empfand das ihm von Kind auf vertraute Gefühl des Grauens und der Freude über das Ende.

Sofja blickte auf die Sonne, bekreuzigte sich und rief die Feuertaufe, die ewige Sonne, den Roten Tod herbei.

Iwanuschka der Narr saß aber noch immer zusammengekauert, die Kniee mit den Armen umfassend, wiegte sich leise hin und her, blickte nach dem Osten, dem Anfang des Tages und sang dem Westen, dem Ende der Tage zu:

Särge, ihr Särge aus Eichenklötzen,
Ewige Wohnungen seid ihr für alle.
Neigt sich der Tag dem Abend entgegen,
Liegt schon die Axt an der Wurzel des Baumes –
Nah, ach so nah sind die letzten Zeiten!


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