Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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IV.

Die erste Sitzung des höchsten Gerichtshofes war auf den 17. Juni im Audienzsaale des Senats angesetzt.

Unter den Richtern befanden sich Minister, Senatoren, Generäle, Gouverneure, Kapitäne, Majore, Oberstleutnants, Leutnants und Fähnriche der Garde und der Flotte, Oberkriegskommissare, Beamte der neuen Kollegien, auch alte Bojaren, Truchsesse und sonstige Würdenträger des alten moskowitischen Hofes; im ganzen waren es 127 Zivil- und Militärpersonen: »von jeder Sorte einer«, wie sich die vornehmen Würdeträger äußerten. Manche waren selbst nicht imstande, ihren Namen unter das Urteil zu setzen.

Aus der Troiza-Kathedrale, wo dem heiligen Geist eine Messe zelebriert wurde, um Gottes Hilfe zu diesem schwierigen Werke zu erflehen, begaben sich die Richter in den Senat.

Im Gerichtssaale wurden Fenster und Türen geöffnet, nicht nur der frischen Luft wegen – es war ein heißer, schwüler Tag –, sondern damit die Gerichtssitzung wie eine öffentliche aussehe. Dessenungeachtet wurden die nächsten Straßen durch Gatter und Schlagbäume abgesperrt und ein ganzes Bataillon der Leibgarde unter Gewehr auf dem Platze vor dem Senat aufgestellt, um das »gemeine Volk« fernzuhalten.

Der Zarewitsch wurde aus der Festung wie ein Gefangener unter Eskorte von vier Offizieren mit blanken Degen vorgeführt.

Im Audienzsaale befand sich ein Thron. Der Zar setzte sich aber nicht auf den Thron, sondern auf einen einfachen Sessel am oberen Ende des offenen Vierecks, das von den drei Reihen langer, mit rotem Tuch bedeckter Tische gebildet wurde, an denen die Richter saßen. Er setzte sich dem Sohne wie ein Kläger dem Angeklagten gegenüber.

Als die Sitzung eröffnet wurde, erhob sich Peter und sprach:

»Meine Herren Senatoren und übrigen Richter! wir verlangen von Euch über diese Sache einen gerechten und warhafftigen Spruch zu thun / ohne daß Ihr Uns darinnen schmeichelt / oder befürchtet / daß / wenn es zu scharff oder gelinde / Uns solches zuwider seyn werde / wie wir denn bey Gott und seinem Gerichte schweren / daß Uns nichts / was denen Rechten gemäß / zuwider seyn solle. Ihr dürffet auch in keine Consideration ziehen / daß Ihr über den Sohn Eures Herrn und Souverains ein Urtheil zu fällen habet / lasset der Warheit ohne Ansehen der Person Ihren Lauff / und stürtzet weder Unsere noch Eure Seele ins Verderben / damit Unsere Gewissen am jüngsten Tage rein erfunden werden / und Unser Vaterland hierdurch keine Gefahr leide.«

Der Vizekanzler Schafirow verlas eine lange Liste aller Verbrechen des Zarewitsch, sowohl derjenigen, die er in seinen früheren Geständnissen enthüllt hatte, wie auch der neuen, die er beim ersten Prozeß angeblich verheimlicht hatte.

»Bekennst du dich schuldig?« fragte den Zarewitsch Fürst Menschikow, der zum Präsidenten der Versammlung ernannt worden war.

Alle erwarteten, der Zarewitsch würde wie damals im Thronsaale zu Moskau auf die Kniee fallen, weinen und um Gnade bitten. Als er sich aber erhob und die Versammlung mit ruhigem Blick musterte, wurde es allen klar, daß es jetzt anders zugehen würde.

»Ob ich schuldig bin oder nicht, – euch steht jedenfalls nicht zu, mich zu richten; Gott ist mein einziger Richter,« hub er an, und sofort trat Stille ein; alle lauschten mit verhaltenem Atem. »Und wie könntet ihr auch Gerechtigkeit walten lassen, wenn ihr keine freien Stimmen habt? Wo ist euer Wille? Ihr seid Sklaven des Zaren und hängt an seinem Munde: was er befiehlt, das werdet ihr tun. Ihr nennt es zwar ein Gericht, in der Tat ist es aber Gesetzlosigkeit und grausamste Tyrannei! Kennt ihr die Fabel, wie der Wolf gegen das Lamm Klage führte? Euer Gericht ist das Gericht des Wolfes. Und wenn ich noch so im Rechte bin, ihr werdet mich in jedem Falle verurteilen. Wenn aber nicht ihr, sondern das ganze russische Volk über mich und meinen Vater zu Gericht säße, so würde es ganz anders zugehen. Ich hatte Mitleid mit dem Volk. Groß, sehr groß ist Zar Peter, aber schwer ist sein Joch: man kann unter ihm gar nicht aufatmen. Wieviel Seelen hat er schon zugrunde gerichtet, wieviel Blut vergossen! Das ganze Land stöhnt und ächzt. Seht ihr es nicht, hört ihr es nicht? . . . Was soll ich noch viel reden? Ihr seid kein Senat, sondern leibeigene Knechte des Zaren, Sklavenseelen, alle ohne Ausnahme! . . .«

Ein Murren der Empörung übertönte die letzten Worte des Zarewitsch. Doch niemand wagte es, ihm Halt zu gebieten. Alle blickten auf den Zaren und warteten, was er sagen würde. Aber der Zar schwieg. Auf seinem erstarrten, gleichsam versteinerten Gesicht zuckte keine Muskel. Nur der Blick seiner brennenden, weit geöffneten Augen war auf den Zarewitsch gerichtet.

»Was schweigst du, Väterchen?« wandte sich Alexej plötzlich mit grausamem Lächeln an den Vater. »Oder bist du nicht gewohnt, die Wahrheit zu hören? Hättest du mir doch einfach den Kopf abhauen lassen, dann hätte ich nichts gesagt. Dir ist es aber eingefallen, das Gericht anzurufen, also mußt du, ob du willst oder nicht, hören, was ich sage! Als du mich aus der Protektion des Kaisers zu dir locktest, hast du mir da nicht bei Gott und seinem Gericht geschworen, daß du mir alles verzeihen werdest? Wie ist es jetzt mit diesem Eid? Du hast dich vor ganz Europa mit Schande beladen! Der Selbstherrscher aller Reussen steht als Meineidiger und Lügner da! . . .«

»Das darf man nicht hören! Majestätsbeleidigung! Er ist von Sinnen! Man führe ihn hinaus! Man führe ihn hinaus!« riefen viele Stimmen durcheinander.

Menschikow lief zum Zaren und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Zar schwieg aber noch immer, als ob er in seiner Regungslosigkeit, die wie ein Starrkrampf war, nichts sähe und hörte, und sein lebloses Gesicht war wie das einer Marmorstatue.

»Das Blut des Sohnes, das Blut der russischen Zaren wirst du als erster auf dem Schafott vergießen!« begann der Zarewitsch wieder, und es klang, als ob er nicht aus dem Eigenen redete: seine Worte klangen wie eine Prophezeiung. »So komme dieses Blut von Haupt zu Haupt bis zum Haupte des letzten der Zaren, so ertrinke unser ganzes Geschlecht im Blute! . . . Gott wird für deine Verbrechen Rußland strafen! . . .«

Peter bewegte sich langsam, schwerfällig, mit ungeheurer Anstrengung, als ob er sich unter einer entsetzlichen Last erheben wollte; endlich erhob er sich, sein Gesicht verzerrte sich in einem rasenden Krampfe – als ob das Gesicht der Marmorstatue plötzlich lebendig geworden wäre –, die zusammengepreßten Lippen öffneten sich, und aus seiner Kehle klang es gepreßt und heiser:

»Schweig, schweig . . . ich werde dich verfluchen! . . .«

»Du wirst mich verfluchen?« rief der Zarewitsch wie rasend, indem er sich auf den Zaren stürzte und über ihn seine Hände erhob.

Alle waren vor Entsetzen wie gelähmt. Man erwartete, daß er den Vater schlagen oder ihm ins Gesicht spucken würde.

»Du wirst mich verfluchen? . . . Nein, ich werde dich verfluchen! . . . Verbrecher, Mörder, Tier, Antichrist! . . . Sei verflucht! verflucht! verflucht! . . .«

Peter fiel in den Sessel zurück und streckte seine Arme aus, als ob er sich gegen den Sohn wehren wollte.

Alle sprangen auf. Es entstand eine Panik wie bei einer Feuersbrunst oder bei einem Morde. Die einen schlossen Fenster und Türen; andere liefen aus dem Saale; einige der Anwesenden umringten den Zarewitsch und zogen ihn vom Vater fort; andere eilten dem Zaren zu Hilfe. Diesem war es schlecht geworden. Er hatte wieder einen so heftigen Anfall bekommen, wie vor einem Monat in Peterhof. Die Sitzung wurde geschlossen.

Doch in der folgenden Nacht versammelte sich der Höchste Gerichtshof wieder und beschloß, den Zarewitsch foltern zu lassen.


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