Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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VI.

In der Nacht vom ersten auf den zweiten Oktober kam der Sirocco endlich zur Entladung.

Besonders heftig wütete der Orkan auf der Höhe von San-Elmo. Im Innern des Kastells, selbst in den dicht verschlossenen Räumen, heulte der Wind so laut wie in einer Schiffskajüte während des stärksten Sturmes. Durch die Stimmen des Orkans, die bald an das Heulen von Wölfen, bald an das Weinen eines Kindes, bald an das wilde Stampfen einer fliehenden Herde, bald an das Pfeifen und Schwirren von Riesenvögeln mit eisernen Schwingen gemahnten, klang die Brandung des Meeres wie ferner Kanonendonner. Man hatte den Eindruck, als ob jenseits der Mauern alles zusammenstürze, als ob das Ende der Welt eingetreten sei und das grenzenlose Chaos tobe.

In den Gemächern des Zarewitsch war es feucht und kalt. Es war aber unmöglich, im Kamin Feuer zu machen, weil der Wind den Rauch aus dem Schornstein in das Zimmer zurücktrieb. Der Wind drang durch die Wände, so daß es aus allen Ecken zog, die Flammen der Kerzen bebten und die Wachstropfen an ihnen zu langen hängenden Nadeln erstarrten.

Der Zarewitsch ging mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab. Sein eckiger schwarzer Schatten huschte über die weißen Wände, bald verkürzt, bald in die Länge gezogen, hier an die Decke stoßend, dort sich brechend.

Afrossinja saß mit untergeschlagenen Beinen im Sessel, hüllte sich in ihren Pelz und verfolgte ihn schweigend mit den Augen. Ihr Gesicht schien gleichgültig. Nur in einem Mundwinkel schien es kaum wahrnehmbar zu zittern, und ihre Finger flochten die vom Pelze abgerissene goldene Schnur mit mechanischer Bewegung auseinander und wieder zusammen.

Alles schien genau so wie vor anderthalb Monaten, wie an jenem Tage, an dem der Zarewitsch die erfreulichen Nachrichten erhalten hatte.

Endlich blieb er vor ihr stehen und sagte dumpf:

»Es ist nichts zu machen, Mamachen! Rüste dich zur Abreise. Morgen fahren wir zum Papst nach Rom. Der hiesige Kardinal sagte mir, daß der Papst uns seinen Schutz gewähren wird . . .«

Afrossinja zuckte die Achseln.

»Das ist Unsinn, Zarewitsch! wenn der Kaiser keine liederliche Dirne unter seinem Schutze haben will, wie sollte es der Papst tun? Schon sein geistlicher Stand verbietet es ihm. Auch hat er keine Truppen, um dich zu schützen, wenn der Vater dich mit bewaffneter Hand von ihm fordern würde.«

»Was sollen wir nun tun, Afroßjuschka? . . .« sagte er, die Hände verzweifelt zusammenschlagend, »vom Kaiser ist der Befehl gekommen, daß ich dich unverzüglich entlasse. Mit großer Mühe habe ich erreicht, daß sie noch bis zum Morgen warten. Ich muß darauf gefaßt sein, daß sie dich mit Gewalt von mir nehmen, wir müssen sobald als möglich fliehen! . . .«

»Wohin sollen wir fliehen? Überall werden sie uns erwischen. Es kommt ja auf dasselbe hinaus: Kehre lieber gleich zum Vater zurück.«

»Auch du, auch du, Afroßja! Tolstoi und Rumjanzew haben dir ihr Liedchen gesungen, und du spitztest die Ohren!«

»Peter Andrejewitsch will dir nur Gutes.«

»Gutes! . . . Was verstehst du davon? Schweige lieber, du Weib mit langem Haar und kurzem Verstand! Glaubst du vielleicht, daß sie sich scheuen werden, auch dich zu foltern? Das sollst du dir nicht einbilden. Auch auf deinen schwangern Leib werden sie nicht achten: es ist bei uns schon vorgekommen, daß Mädchen während der Folter geboren haben . . .«

»Der Vater hat dir ja seine Gnade versprochen.«

»Diese väterliche Gnade kenne ich gut! Hier habe ich sie zu erwarten,« sagte er, auf seinen Nacken zeigend. »Wenn mich der Papst nicht aufnimmt, gehe ich nach Frankreich, nach England, zum Schweden, zum Türken, zum Teufel, nur nicht zum Vater! Unterstehe dich nicht, Afrossinja, mir auch nur ein Wort davon zu sagen! Hörst du? Unterstehe dich nicht!«

»Tue was du willst, Zarewitsch. Aber zum Papst fahre ich nicht,« sagte sie leise.

»Du fährst nicht? Was fällt dir ein?«

»Nein, ich fahre nicht,« wiederholte sie immer noch ruhig, ihm gerade in die Augen blickend. »Ich habe es auch schon dem Peter Andrejewitsch gesagt: Ich fahre mit dem Zarewitsch nirgends hin als zum Vater; soll er nur allein fahren, wohin er will, ich fahre nicht mit.«

»Was hast du, was hast du, Afroßjuschka?« begann er mit veränderter Stimme und erblaßte. »Christus sei mit dir, Mamachen! Kann ich denn . . . Oh mein Gott! . . . kann ich denn ohne dich sein?«

»Tu was du willst, Zarewitsch. Ich fahre aber nicht mit. Bitte mich auch gar nicht darum.«

Sie riß die Schnur vom Pelze ab und schleuderte sie zur Erde.

»Bist du närrisch geworden, Mädel, oder was ist mit dir los?« schrie er in plötzlicher Wut auf, die Fäuste ballend. »Wenn ich dich nehme, so kommst du mit! Du erlaubst dir zuviel! Hast du denn schon vergessen, was du gewesen bist?«

»Was ich gewesen, das bin ich auch geblieben: Seiner Zarischen Majestät, meines Herrschers Peter Alexejewitsch treue Magd. Wohin der Zar befiehlt, da fahre ich auch hin. Gegen seinen Willen werde ich nicht handeln. Ich will nicht mit dir gegen deinen Vater gehen.«

»So redest du auf einmal! . . . Hast du dich mit Tolstoi und mit Rumjanzew, mit meinen Feinden und Mördern verschworen! Und das für all das Gute, das ich dir erwiesen, für alle meine Liebe! . . . Du Schlange! Niedrige Magd . . .«

»Du brauchst gar nicht so zu schimpfen, Zarewitsch! Was soll das nützen? Was ich gesagt habe, das tue ich auch.«

Es wurde ihm ganz ängstlich zumute. Selbst seine Wut verflüchtigte sich. Er wurde ganz schwach und matt, ließ sich in einen Sessel neben ihr fallen, ergriff ihre Hand und bemühte sich, ihr in die Augen zu blicken.

»Afroßjuschka, Mamachen, meine Herzensfreundin, was hast du denn? Mein Gott! Ist denn jetzt die Zeit uns zu zanken? Warum sprichst du so? Ich weiß ja, daß du es nicht tun wirst, daß du mich in meinem Unglück nicht im Stich läßt . . . Wenn nicht mit mir, so wirst du doch mit dem ›Silbelnen‹ Mitleid haben . . .«

Sie antwortete nicht, sah ihn nicht an und blieb regungslos, wie wenn sie tot wäre.

»Oder liebst du mich nicht?« fuhr er mit wahnsinnigem Flehen, mit der mitleiderregenden Schlauheit eines Verliebten fort. »Was soll ich nun tun? Wenn es so steht, kannst du gehen, Gott schütze dich. Mit Gewalt will ich dich nicht zurückhalten. Sage mir aber, daß du mich nicht liebst . . .«

Sie stand plötzlich auf, sah ihn an und lächelte so, daß ihm sein Herz vor Schrecken stille stand.

»Du glaubtest wohl, daß ich dich liebe? Damals, als du das dumme Mädel beschimpftest, vergewaltigtest, mit dem Messer bedrohtest, hättest du fragen sollen, ob ich dich liebe oder nicht! . . .«

»Afroßja, Afroßja, was hast du? Oder glaubst du meinen Worten nicht? Ich will dich ja heiraten, will jene Sünde mit der Brautkrone zudecken. Du bist für mich auch schon jetzt wie mein Eheweib!«

»Ich danke dir, mein Herr, für diese Gnade! Die Gnade ist wirklich groß! Der Zarewitsch geruht, eine Leibeigene zu heiraten! Und sie ist doch so dumm, daß sie sich über diese Ehre gar nicht freut! Lange genug habe ich gelitten, nun kann ich's nicht mehr! Für mich ist es dasselbe, ob ich mich erhänge, oder ertränke, oder dich, den ich hasse, heirate! ›Du wirst Zarin!‹ hat er gesagt. Mit solchen Worten glaubt er mich zu ködern, vielleicht ist mir aber meine Mädchenehre und meine Freiheit mehr wert als die Zarenkrone? Ich habe genug von Eurer Zarenfamilie gesehen: unverschämte, schmutzige Kerle seid ihr alle! An eurem Hof geht es ebenso zu wie in einer Wolfsgrube: ein jeder denkt nur daran, wie er dem andern die Kehle durchbeißen kann. Dein Vater ist das große Tier, und du bist das kleine Tier: das Tier wird das Tierchen auffressen. Wie kannst du auch gegen ihn streiten? Das war vernünftig vom Zaren, daß er dich von der Thronfolge ausgeschlossen hat. Wie kann ein solcher Mensch wie du regieren? Küster sollst du werden, du Scheinheiliger, und deine Sünden büßen! Deine Frau hast du zu Tode gepeinigt, hast deine Kinder verlassen, bist einer liederlichen Dirne nachgelaufen und kannst dich von ihr nicht mehr losreißen! Bist ganz schwach geworden, heruntergekommen, verbummelt! Auch jetzt, wo dich ein Frauenzimmer mit solchen Worten beschimpft, schweigst du und wagst nicht zu mucksen. Hast keine Scham im Leibe! wenn ich dich wie einen Hund windelweich prügeln und dir dann winken oder pfeifen würde, so würdest du mir wieder mit ausgestreckter Zunge nachlaufen wie ein Hund einer Hündin! Und so ein Kerl verlangt Liebe! Kann man denn einen solchen Menschen wie dich lieb haben? . . .«

Er sah sie an und erkannte sie nicht wieder. Ihr bleiches, wie von einem blendenden Lichtscheine übergossenes Gesicht in der Glorie der feuerroten Haare war so schrecklich und zugleich so schön, wie noch nie. »Hexe!« dachte er, und plötzlich schien es ihm, als ob der hinter Mauern tobende Orkan von ihr herrührte, und als ob das wilde Heulen des Sturmes ihre wilden Worte wiederholte:

»Warte nur, du wirst schon erfahren, wie ich dich liebe! Alles, alles werde ich dir heimzahlen! Ich will selbst aufs Schaffot steigen, werde dich aber nicht in Schutz nehmen! Alles werde ich deinem Vater erzählen: daß du den Kaiser um Waffen gebeten, um gegen den Zaren in den Krieg zu ziehen, daß du dich über die Empörung im Heere freutest, daß du dich den Aufständischen anschließen wolltest, daß du deinem Vater den Tod wünschtest, du Bösewicht! Alles werde ich hinterbringen, du wirst dich gar nicht rechtfertigen können! Der Zar wird dich foltern lassen, mit der Knute wird er dich totpeitschen, ich werde aber zuschauen und sprechen: ›Lieber Aljoschenjka, mein Herzensfreund, weißt du noch, wie dich deine Afroßja geliebt hat? . . .‹ Und deine Brut, den ›Silbernen‹, werde ich, sobald er geboren ist, mit eigenen Händen . . .«

Er schloß die Augen und verstopfte sich die Ohren, um nichts zu sehen und nichts zu hören. Es war ihm, als ob die Welt unterginge und auch er selbst in den Abgrund stürzte. Er begriff so klar wie noch nie, daß es für ihn keine Rettung mehr gab; wie er auch kämpfte, was er auch unternähme, er war unrettbar verloren.

Als der Zarewitsch die Augen wieder aufschlug, war Afrossinja nicht mehr im Zimmer. Doch durch die Ritze in der nicht ganz dicht verschlossenen Schlafzimmertüre drang ein Lichtschein. Er begriff, daß sie im Schlafzimmer war, ging zur Tür und blickte hinein.

Sie packte mit großer Hast ihre Sachen und band sie in ein Bündel zusammen, als wollte sie ihn sofort verlassen. Das Bündel war nicht groß: es enthielt nur etwas Wäsche, zwei oder drei einfache Kleider, die sie sich selbst genäht hatte, und die ihm gar zu gut bekannte alte Schatulle aus ihrer Mädchenzeit mit dem zerbrochenen Schloß und dem halb abgeriebenen, an einer Weintraube pickenden Vogel auf dem Deckel; es war dieselbe Schatulle, in der sie, als sie noch leibeigene Magd im Hause der Wjasemskij's war, ihre Aussteuer zusammensparte. Die wertvollen Kleider und andere Sachen, die er ihr geschenkt hatte, legte sie sorgfältig beiseite: offenbar wollte sie seine Geschenke nicht mitnehmen. Das beleidigte ihn noch mehr als alle ihre bösen Worte.

Als sie mit dem Packen fertig war, setzte sie sich ans Nachttischchen, spitzte eine Feder und begann zu schreiben; sie schrieb langsam und malte mit großer Mühe Buchstaben auf Buchstaben. Er ging auf den Zehen leise an sie heran, beugte sich über ihre Schulter und las die ersten unorthographischen Zeilen:

»Alexander Iwanowitsch.«

»Da der Zarewitsch zum Papst fahren will, und ich ihm davon abrate, und er auf mich nicht hören will und sehr böse ist, bitte ich Euer Gnaden, sofort nach mir zu schicken, am besten aber selbst herzukommen, damit er mich nicht mit Gewalt mitnimmt. Ohne mich wird er aber, denke ich, nirgends hinfahren.«

Ein Dielenbrett knarrte unter seinen Füßen. Afrossinja wandte sich rasch um, stieß einen Schrei aus und sprang auf. Sie standen sich beide schweigend und unbeweglich gegenüber und blickten einander in die Augen mit unverwandten Blicken, genau wie damals, als er sich mit dem Messer in der Hand auf sie gestürzt hatte.

»Willst du also wirklich zu ihm?« flüsterte er mit heiserer Stimme.

Sie verzog ihre etwas bleich gewordenen Lippen zu einem leisen Lächeln.

»Ich will zu ihm, ich will zu dem andern. Dich werde ich gar nicht um Erlaubnis fragen.«

Sein Gesicht verzerrte sich wie in einem Krampfe. Mit der einen Hand packte er sie an der Kehle, mit der andern an den Haaren, warf sie zu Boden und begann sie zu schlagen, herumzuzerren und mit den Füßen zu treten.

»Kreatur! Kreatur! Kreatur!«

Die feine Klinge des Dolches, den sie als Page getragen und mit dem sie soeben vom großen Bogen ein Blatt Papier für ihren Brief abgeschnitten hatte, funkelte auf dem Tische. Der Zarewitsch ergriff den Dolch und holte zu einem Schlage aus. Er empfand eine wahnsinnige Wollust, wie damals, als er sich mit Gewalt ihrer bemächtigt hatte; er sah plötzlich ein, daß sie ihn immer betrogen hatte, daß er sie selbst in den leidenschaftlichsten Umarmungen niemals besessen hatte, und daß er nur dann sie ganz besitzen und seine ungeheure Wollust stillen würde, wenn er sie jetzt tötete.

Sie schrie nicht und rief nicht um Hilfe; sie rang mit ihm schweigend, geschickt und geschmeidig wie eine Katze, während des Ringens stieß er den Tisch um, auf dem das Licht stand. Das, Licht erlosch. Es wurde stockfinster, vor seinen Augen drehten sich flammende Räder. Die Stimmen des Orkans heulten irgendwo dicht in seiner Nähe, beinahe an seinem Ohre und gingen plötzlich in ein schallendes Gelächter über.

Er fuhr zusammen, wie wenn er aus einem tiefen Schlafe erwachte, und fühlte im gleichen Augenblick, daß sie unbeweglich wie eine Tote in seinen Händen hing. Er öffnete die Hand, mit der er sie noch immer an den Haaren hielt. Ihr Körper schlug wie leblos am Boden auf.

Ihn erfaßte solches Grauen, daß seine Haare sich sträubten. Er warf den Dolch weit von sich fort, lief ins Nebenzimmer, ergriff den Leuchter mit den heruntergebrannten Kerzen, kam ins Schlafzimmer zurück und sah sie hingestreckt, bleich, mit Blut an der Stirn und geschlossenen Augen auf dem Boden liegen. Er wollte schon wieder hinauslaufen, schreien, um Hilfe rufen. Es kam ihm aber vor, daß sie noch atmete. Er fiel in die Knie, beugte sich über sie, umarmte sie, hob sie behutsam auf und trug sie ins Bett.

Dann begann er wie wild hin und her zu rennen, ohne selbst zu wissen, was er tat: bald gab er ihr Spiritus zu riechen, bald suchte er nach einer Feder; – es war ihm eingefallen, daß man mit dem Geruch einer brennenden Feder einen Ohnmächtigen zur Besinnung bringen kann, – bald benetzte er ihren Kopf mit Wasser. Bald beugte er sich über sie, küßte schluchzend ihre Hände, ihre Füße, ihr Kleid, rief ihren Namen, schlug sich mit dem Kopf an den Bettpfosten und raufte sich die Haare.

»Ich habe sie ermordet, ermordet, ich verdammter! . . .«

Bald betete er:

»Herr Jesu, allerreinste Muttergottes, nimm meine Seele statt der ihrigen! . . .«

Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, und er glaubte, daß er sofort sterben würde.

Plötzlich merkte er, daß sie die Augen aufschlug und ihn mit einem seltsamen Lächeln ansah.

»Afroßja, Afroßja . . . was ist mit dir, Mamachen? . . . Soll ich den Doktor kommen lassen? . . .«

Sie blickte ihn noch immer schweigend, mit dem gleichen unverständlichen Lächeln an.

Dann machte sie Anstalten, aufzustehen. Er half ihr und fühlte plötzlich, daß sie seinen Hals mit den Armen umschlang und ihre Wange mit einer so stillen, kindlich zutraulichen Zärtlichkeit wie noch nie an die seinige schmiegte.

»Du bist wohl erschrocken? Glaubtest, daß du mich erschlagen hast? Es ist nicht der Rede wert! Es ist nicht so leicht, ein Weib umzubringen, wir sind so zählebig wie die Katzen, wenn uns der Geliebte schlägt, so ist es uns nur von Nutzen!«

»Verzeihe mir, Mamachen, verzeihe mir, Teure! . . .«

Sie blickte ihm in die Augen, lächelte und streichelte ihm das Haar so zärtlich wie eine Mutter.

»Ach, du kleiner, dummer Junge! Wenn ich dich so anschaue, kommst du mir wirklich wie ein kleines Kindchen vor. Du verstehst nichts, du kennst unsere Weibersitten nicht, warst du wirklich so dumm und glaubtest, daß ich dich nicht liebe? Komm her, komm, ich will dir ein Wörtchen ins Ohr sagen.«

Sie näherte ihre Lippen seinem Ohr und flüsterte ihm leidenschaftlich zu:

»Ich liebe dich, ich liebe dich wie meine Seele! Du bist mein Leben, meine Freude! Wie könnte ich ohne dich leben? Es wäre besser für mich, wenn meine Seele den Körper verließe. Oder glaubst du es nicht?«

»Ich glaube dir, ich glaube! . . .« rief er, vor Glück lachend und weinend.

Sie schmiegte sich immer fester an ihn.

»Mein Väterchen, Aljoschenjka, mein Sonnenlicht, warum habe ich dich so lieb? . . . Wo dein Verstand ist, da ist auch der meinige, wo dein Wort ist, da ist auch mein Wort und mein Kopf! Ich bin dir immer ganz zu Willen . . . Mein Unglück ist, daß wir Weiber so dumm und schlecht sind, und ich noch ärger bin als alle andern, was soll ich tun, wenn Gott mich so unglücklich geschaffen hat? Er gab mir ein unersättliches, gieriges Herz. Ich sehe ja, daß du mich liebst, aber es ist mir immer zu wenig, und ich weiß selbst nicht, was ich will. Ich frage mich immer: warum ist mein Junge so still und sanft, warum widerspricht er mir niemals, warum wird er nicht böse und prügelt mich niemals ordentlich durch? Ich fühle niemals deine Hand über mir, höre niemals eine Drohung. Vielleicht stimmt das Sprichwort: ›Wen ich liebe, den schlage ich‹ nicht? Vielleicht liebt er mich nicht? Nun will ich einmal versuchen, ihn zu erzürnen, um zu sehen, was daraus wird . . . Und nun bist du gar so einer! Um ein Haar hättest du mich erschlagen! Ganz wie der Vater, aus Angst war ich ohnmächtig geworden. Für die Zukunft wird es mir eine Lehre sein, ich werde es mir merken und dich noch mehr lieben als bisher! . . .«

Es war ihm, als ob er zum erstenmal in seinem Leben diese in unheimlichem, trübem Glanze brennenden Augen, diese halbgeöffneten heißen Lippen sähe, diesen wie eine Schlange glatten, zitternden Leib umfinge. »So eine ist sie!« dachte er sich in seligem Erstaunen.

»Glaubst du, ich verstünde nicht zu liebkosen?« sagte sie, seinen Gedanken gleichsam erratend, mit leisem Lachen, das sein ganzes Blut zum Sieden brachte. »Warte nur, ich will dir zeigen, wie ich zu liebkosen verstehe . . . Stille nur, stille die Sehnsucht meines dummen Herzens, erfülle meine Bitte, damit ich weiß, daß du mich ebenso liebst, wie ich dich, bis an den Tod! . . . Mein Leben, mein Lieb, mein Schatz! . . . Wirst du es tun? Wirst du es tun?«

»Alles werde ich tun! Gott sei mein Zeuge, daß es nichts in der Welt gibt, was ich für dich nicht tun würde. Ich will in den Tod gehen, sage nur, was du verlangst . . .«

Sie flüsterte nicht, sondern hauchte nur ganz leise:

»Kehre zum Vater zurück! . . .«

Und sein Herz erstarrte wie vorher vor Entsetzen. Es war ihm, als ob sich unter der zarten Hand Afrossinjas die eiserne Hand seines Vaters hervorstreckte und nach seinem Herzen griffe. »Sie lügt!« zuckte es durch sein Hirn wie ein Blitz. »Mag sie nur lügen, wenn sie nur liebt!« fügte er sorglos hinzu.

»Es ist mir so schwer ums Herz,« fuhr sie fort, »es ist mein Tod. Es bedrückt mich so schwer, daß ich mit dir in Sünde, ungetraut lebe! Ich will keine liederliche Dirne sein, ich will vor Gott und den Menschen als deine ehrliche Ehefrau dastehen! Du sagst, ich sei für dich schon jetzt wie ein Eheweib. Bin ich es, denn wirklich? Unter der Tanne wurden wir getraut, und die Teufel haben die Gebete miaut. Unser Junge, der Silberne wird als Bastard geboren werden. Wenn du aber zum Vater zurückkehrst, wirst du mich heiraten können. Tolstoi hat es auch gesagt: soll der Zarewitsch dem Zaren vorschlagen, daß er zurückkehrt, wenn er die Erlaubnis zu heiraten bekommt; und der Vater, hat Tolstoi gesagt, wird sich darüber freuen, nur wenn der Zarewitsch auf die Krone verzichtet und friedlich auf seinen Gütern lebt. Es sei ja ganz gleich, ob er eine Leibeigene heiratet oder ob er die Mönchskappe aufsetzt: so oder so, er könne nicht mehr Zar werden . . . Und ich Aljoschenjka, mein Sonnenlicht, will ja gar nichts anderes. Ich fürchte ja die Zarenkrone über alles, mein Teurer, wenn du Zar bist, wirst du dich um mich gar nicht mehr kümmern wollen, wirst ganz andere Sorgen im Kopfe haben. Die Zaren haben keine Zeit für die Liebe. Ich will nicht als vernachlässigte Zarin leben, ich will ewig dein Herzliebchen sein! Meine Liebe ist meine Zarenkrone! Wir werden uns auf ein Gut zurückziehen, nach Poretzkoje oder nach Roshdestwenno, werden in Stille und in Frieden leben, ich, du und der Silberne. Um nichts in der Welt werden wir uns zu kümmern brauchen . . . Ach, mein Herz, mein Leben, meine Freude! . . . willst du es nicht? Wirst es nicht tun? . . . Tut dir die Zarenkrone leid? . . .«

»Was fragst du noch, Mamachen? Du weißt ja selbst, daß ich es tun werde . . .«

»Wirst du zum Vater zurückkehren?«

»Ja, das werde ich.«

Es war ihm, als ob sich jetzt das Gegenteil von dem, was einst zwischen ihnen geschehen war, abspielte: jetzt vergewaltigte sie ihn, wie er sie einmal vergewaltigt hatte; ihre Küsse waren wie Dolchstiche, ihre Liebkosungen wie ein Mord.

Plötzlich wurde sie ganz still, stieß ihn vorsichtig zurück und hauchte wieder kaum hörbar:

»Schwöre es!«

Er schwankte noch wie ein Selbstmörder im letzten Augenblick, wenn er schon das Messer gezückt hat. Und doch sagte er:

»Ich schwöre bei Gott!«

Sie blies die Kerze aus und umarmte ihn mit endloser Leidenschaft, die so tief und schrecklich war wie der Tod.

Und es war ihr, als flöge er mit ihr, der Hexe, der weißen Teufelin auf den Flügeln des Orkans in den finstersten Abgrund.

Er wußte, daß es sein Verderben war, das Ende von allem, und er freute sich über das Ende.


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