Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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V.

Der Kurier Ssafonow, der aus Petersburg zum Zaren gefahren war, meldete ihm, daß der Zarewitsch ihm folge. Es vergingen aber zwei Monate, und der Zarewitsch erschien noch immer nicht. Der Zar konnte lange nicht glauben, daß sein Sohn geflohen sei: »Wie kommt er dazu? Er wird sich doch nicht unterstehen!« Schließlich glaubte er doch daran; er sandte nach allen Städten seine Agenten aus und schickte dem Residenten in Wien, Awram Wesselowskij, ein Handschreiben: »Du sollst in Wien, Rom, Neapel, Mailand, Sardinien und auch in den Schweizer Landen nachforschen, wenn du den Aufenthalt unseres Sohnes aufspürst und dich dessen vergewissert hast, sollst du ihm sofort nachfahren und zugleich mich durch Estafetten und Extrakuriere auf dem Laufenden halten; du sollst dabei die größte Diskretion beobachten.«

Wesselowskij kam nach langem Suchen auf die richtige Spur. »Seine Spuren führen bis hierher,« meldete er dem Zaren aus Wien. »Im Wirtshause zum schwarzen Adler außerhalb der Stadt war ein gewisser Oberstleutnant Kochanskij abgestiegen. Der Kellner sagte, er hätte ihn für einen sehr vornehmen Mann gehalten, weil er das Geld mit großer Generosität um sich geworfen habe; auch hätte er eine Ähnlichkeit mit dem Moskauer Zaren gehabt, den der Kellner einmal hier in Wien gesehen habe.«

Peter war erstaunt. Etwas seltsames, beinahe Unheimliches enthielten für ihn die Worte: »Ähnlichkeit mit dem Zaren.« Noch niemals hatte er daran gedacht, daß Alexej ihm ähnlich sehen könne.

»Nachdem er aber einen Tag und eine Nacht in dieser Stadt verbracht hatte,« fuhr Wesselowskij fort, »ließ er sein Gepäck mit einem gemieteten Fuhrwerk fortbringen; dann verbrachte er noch einen Tag im Wirtshause, bezahlte die Zeche und ging zu Fuß fort, so daß niemand weiß, ob er abgereist ist oder nicht. Und als er noch im Gasthause wohnte, kaufte er einen fertigen Männeranzug von kaffeebrauner Farbe für seine Frau, und sie zog diesen Anzug an.« Weiter verlor sich die Spur. »Ich fragte in allen hiesigen Wirtshäusern, Posthöfen, privaten und öffentlichen Häusern nach, konnte aber nichts erfahren; auch durch Geheimagenten ließ ich ihn suchen; ich bin auf den beiden Poststraßen, die von hier nach Italien gehen – der Tiroler und der Kärntner –, eine Strecke gefahren, aber niemand konnte mir Auskunft geben.«

Der Zar schöpfte Verdacht, daß der Kaiser den Zarewitsch aufgenommen habe und ihn irgendwo in seinen Ländern verborgen halte; er schrieb ihm aus Amsterdam folgenden Brief:

»Durchlauchtigster, Großmächtigster Kayser!

»Ew. Kayserl. Mayt. finde ich mich zu meinem hertzlichen Leydwesen von einem mir unverhofft geschehenen accident in freundbrüderlichem vertrauen zu eröffnen gemüßiget: welcher gestalt Mein Sohn Alexius zu meinem höchsten Mißvergnügen sich jederzeit Meiner vätterlichen Disciplin zu seiner education zuwider gezeuget, auch eine ziemlich unordentliche Ehe mit Ew. Mayt. alß Anverwandtin geführet, welches außer allen Zweifel Ew. Mayt. alß einem Anverwandten nicht unbekannt seyn wirbt. Und nachdem derselbige vor einiger Zeit vor Mich, um Ihn von seiner derangirten Lebensart und bösem Umbgang mit den liderlichen Leuthen abzubringen, beruffen worden, so hat Er an statt die von Mich Ihnen zugeordnete seine Bediente mit sich zu nehmen, einige junge Leuthe auserlesen, mit welchen Er einen ganz andern Weg genommen, und sich an einem unbekannten Orthe verborgen, so Ich auch bißher nicht habe erfahren können; Und weilen Ich der Meinung bin, daß er von einigen indignen Leuthen zu einem so widrigen Vorhaben verleuthet worden, auch deren Rat angenommen, Ich aber aus vätterlicher Vorsorge das Mitleyden mit Ihme habe, Er möchte durch seine liederliche Conduite sich einen unersätzlichen ruin auf den Halß ziehen, fürnemlich aber durch einen Zufall in die feindliche Hände gerathen: Als habe Ich Meinen an Ew. Mayst. Hofe subsistirenden Residenten dem von Wesselowsky die Commission gegeben denselben aufzusuchen, und Ihn anhero zu mir zuführen. Ersuche demnach Ew. Mayt. freundbrüderlich, Sie gelieben, falß gedachter Mein Sohn in Ew. Mayst. Landen und Gebiethen es sey heimlich oder öffentlich sich befindet, denselben mit erwähntem Residenten nebst einigen von dero officiren wegen seiner sicheren Begleitung zu mir anhero zu überschicken, damit Ich aus vätterlicher Vorsorge seinen üblen Zustandt verbeßern und corrigiren möge; wodurch Ew. Mayt. Mich ewig zu dero Diensten und affection verbinden, Ich auch verbleiben werde

Ew. Kayserlichen Majestät

treuer Bruder                
Peter«

Gleichzeitig ließ er dem Kaiser unter der Hand mitteilen, daß falls er den Zarewitsch nicht gutwillig ausliefere, der Zar genötigt sein werde, ihn als einen Verräter »mit bewaffneter Hand« zu suchen.

Eine jede neue Nachricht über den Zarewitsch war eine tiefe Beleidigung für den Zaren. In der heuchlerischen Teilnahme witterte er die Schadenfreude von ganz Europa.

»Ein Generalmajor, der hierher aus Hannover zurückgekehrt ist,« meldete Wesselowskij, »drückte mir bei Hofe ganz offen in Gegenwart des Mecklenburger Gesandten sein Bedauern über die Krankheit Eurer Majestät aus, die von manchen Widerwärtigkeiten herrühre, von denen die wichtigste die sei, daß unser Kronprinz ›sich unsichtbar gemacht‹ habe; er gebrauchte den französischen Ausdruck: ›Il est éclipsé‹. Ich fragte ihn, woher er diese falsche Nachricht habe. Er antwortete, daß die Nachricht echt und wahr sei; er hätte sie von den hannoverschen Ministern gehört. Ich entgegnete, daß es eine Verleumdung sei, die der Hof von Hannover aus Bosheit verbreite.«

»Der Kaiser hat genügend Raison, dem Kronprinzen zu sekundieren,« teilte Wesselowskij dem Zaren die Ansicht mit, die an den fremden Höfen offen ausgesprochen wurde, »da der Kronprinz angeblich im Rechte sei und Raison gehabt hätte, aus den Ländern seines Vaters zu fliehen. Eure Majestät hätten ihn gleich nach der Geburt des Zarewitsch Peter Petrowitsch gezwungen, einen Revers zu unterschreiben, kraft dessen er auf die Krone verzichtete und sich verpflichtete, für sein ganzes Leben in ein Kloster zu gehen. Und als Eure Majestät nach Pommern gereist waren und gesehen hatten, daß er trotz des Reverses sich nicht ins Kloster zurückgezogen habe, so hätten Eure Majestät ein anderes Mittel erfunden, nämlich: ihn unter dem Vorwande der Ausbildung nach Dänemark zu berufen, auf eines der Kriegsschiffe zu setzen und dem Kapitän Befehl zu geben, mit einem in der Nähe befindlichen schwedischen Schiffe einen Kampf zu beginnen, damit der Zarewitsch dabei umkomme. Aus welchem Grunde er genötigt gewesen sei, vor dieser Gefahr zu entfliehen.«

Man meldete dem Zaren auch von den geheimen Verhandlungen des Kaisers mit dem Könige Georg I. von England: »Der Kaiser, der dem Zarewitsch, gegen den er verwandtschaftliche Pflichten hat, aus Teilnahme mit seinen Leiden und aus Großmut gegen alle unschuldig verfolgten, die dem ganzen kaiserlichen Hause eigen ist, Schutz und Protektion gewährt hatte,« fragte den König von England, ob er nicht auch die Absicht habe, »als Kurfürst und Verwandter des Braunschweiger Hofes den Zarewitsch in Schutz zu nehmen,« wobei er auf »die traurige Lage – miseranda conditio – des guten Zarewitsch« und auf »die offenkundige und ununterbrochene Tyrannei des Vaters – clara et continua paterna tyrannidis« hinwies.

Der Sohn wurde zum Richter über den Vater.

Was konnte noch alles kommen? Der Zarewitsch konnte leicht zu einem Werkzeug in Feindeshänden werden, in Rußland einen Aufruhr entfachen und ganz Europa zu einem Kriege aufreizen. Gott weiß, womit das alles noch enden konnte!

»Ihn töten, ihn töten, wäre noch zu wenig!« dachte sich der Zar in seiner Wut.

Die Wut wurde aber von einem andern Gefühl, das der Zar bisher nicht gekannt hatte, übertönt: der Sohn war dem Vater schrecklich geworden.

 


 


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