Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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II.

Nachdem der Kaiser den Zarewitsch in seinen Schutz genommen hatte, wies er ihm, um ihn sicherer vor dem Vater verborgen zu halten, das einsame, unzugängliche Schloß Ehrenberg, das wie ein echter Adlerhorst auf dem Gipfel eines hohen Felsens in den Bergen Hochtirols, an der Straße von Füssen nach Innsbruck gelegen war, als Wohnsitz an. Hier wohnte er als ein ungarischer Graf, oder, wie er sich selbst ausdrückte, als Gefangener.

»Laß sofort nach Erhalt dieses,« hieß es in der kaiserlichen Instruktion für den Festungskommandanten, »für die gewisse Person zwei Zimmer mit festen Türen und eisernen Fenstergittern vorbereiten. Den Soldaten wie auch ihren Frauen ist es bei strenger Strafe, sogar bei Todesstrafe verboten, die Festung zu verlassen. Wenn der Hauptarrestant dich zu sprechen wünscht, so sollst du seinem Wunsche willfahren, ebenso auch, wenn er Bücher oder etwas anderes zu seiner Zerstreuung verlangt oder dich zu Tisch oder zu einem Spiele einlädt. Du darfst ihm auch das Spazierengehen in den Räumen oder dem Hofe der Festung, damit er etwas an die Luft kommt, erlauben, doch immer mit der größten Vorsicht, daß er nicht entkomme.«

In Ehrenberg blieb Alexej fünf Monate – vom Dezember bis April.

Trotz aller Vorsichtsmaßregeln gelang es den Spionen des Zaren, dem Gardehauptmann Rumjanzew und den drei Offizieren, die den geheimen Befehl hatten, die »gewisse Person«, koste es was es wolle, zu ergreifen und nach Mecklenburg zu bringen, auszukundschaften, daß Alexej sich auf Schloß Ehrenberg aufhielt, sie kamen heimlich nach Tirol und hielten sich einige Zeit im Dorfe Reutte, am Fuße des Ehrenberger Felsens auf.

Der Resident Wesselowskij erklärte, daß es seinem Herrn »sehr weh getan habe, die ihm im Namen des Kaisers von den Ministern erteilte Antwort zu hören, daß die gewisse Person sich in den kaiserlichen Staaten nicht befinde, während ein vom Zaren gesandter Kurier ihre Dienerschaft in Ehrenberg gesehen habe, woselbst diese Person auf Kosten des Kaisers lebe. Es sei nicht nur dem Hauptmann Rumjanzew sondern auch wohl ganz Europa bekannt, daß der Zarewitsch sich auf kaiserlichem Gebiete aufhalte. Wenn der Erzherzog seinen Vater verlassen und in den Ländern des russischen Herrschers Zuflucht gesucht hätte und diese ihm heimlich gewährt worden wäre, wie schmerzlich hätte das den Kaiser berührt!«

»Eure Majestät,« schrieb Peter dem Kaiser, »können wohl selbst urteilen, wie verletzend es für Uns als den Vater ist, daß Unser Sohn, der Uns gegen unsern Willen verlassen hat, sich unter fremdem Schutze oder in fremder Haft aufhält, was wir genau nicht wissen und worüber wir von Eurer Majestät Aufklärungen erbitten.«

Dem Zarewitsch wurde eröffnet, daß der Kaiser es ihm freistelle, nach Rußland zurückzukehren oder unter seinem Schutze zu bleiben; im letzteren Falle halte er es aber für notwendig, ihn an einen entfernteren Ort, und zwar nach Neapel zu bringen. Man gab ihm zugleich den Wunsch des Kaisers zu verstehen, er möge seine Begleiter, über die sein Vater sich in seinem Briefe so abfällig geäußert hatte, entweder in Ehrenberg zurücklassen oder gänzlich verabschieden, um dem Zaren jeden Grund zu Vorwürfen zu nehmen, daß der Kaiser liederliche Personen unter seinen Schutz genommen habe. Das war eine Anspielung auf Afrossinja. Es war in der Tat unpassend, daß der Zarewitsch, der den Kaiser im Namen der verstorbenen Charlotte, der Schwester der Kaiserin um Schutz anflehte, bei sich eine »liederliche Dirne« behielt, mit der er, wie man behauptete, schon bei Lebzeiten seiner Frau ein Verhältnis gehabt hatte.

Der Zarewitsch erklärte sich bereit, zu reisen, wohin der Kaiser befehle, und ein Leben zu führen, wie es der Kaiser wünsche, wenn man ihn nur seinem Vater nicht auslieferte.

Am 15. April um drei Uhr nachts verließ der Zarewitsch, ohne sich um die Spione zu kümmern, unter dem Namen eines kaiserlichen Offiziers die Festung Ehrenberg. Er hatte bei sich nur einen einzigen Begleiter – die als Page verkleidete Afrossinja.

»Unsere neapolitanischen Pilger sind glücklich angelangt,« meldete Graf Schönborn. »Bei der nächsten Gelegenheit will ich meinen Sekretär mit einem genauen Bericht über diese Reise, die ungemein belustigend war, schicken. Unter anderm wurde unser kleiner Page als ein weibliches Wesen erkannt, doch als eines ohne eheliche Bande und vermutlich auch ohne Jungfernschaft; denn es wurde als eine Konkubine und für die Gesundheit notwendig erklärt.« – »Ich wende alle möglichen Mittel an, um unsere Gesellschaft von ständigem und maßlosem Trinken abzuhalten, doch vergebens,« berichtete Schönborns Sekretär, der den Zarewitsch begleitete.

Er reiste über Innsbruck, Mantua, Florenz und Rom. Am 6. Mai 1717 langte er um Mitternacht in Neapel an und stieg im Gasthofe »Zu den drei Königen« ab. Am Abend des nächsten Tages wurde er in einer Mietskutsche aus der Stadt zum Meere gebracht, von dort aus durch einen geheimen Gang ins königliche Schloß und nach zwei Tagen, nachdem für ihn eigene Gemächer eingerichtet worden waren, nach der Festung San Elmo, die auf einem hohen Berge über Neapel gelegen war.

Obwohl er auch hier als Gefangener lebte, langweilte er sich nicht und fühlte sich nicht wie in einem Gefängnis; je höher die Mauern und je tiefer die Gräben der Festung waren, um so sichereren Schutz gewährten sie ihm vor dem Vater.

Die Fenster der Gemächer mit dem vor ihnen gelegenen gedeckten Gange gingen gerade aufs Meer hinaus. Hier verbrachte er ganze Tage, fütterte wie einst in Roshdestwenno die Tauben, die von allen Seiten zu ihm zusammenflogen und die er in kurzer Zeit zutraulich gemacht hatte, las historische und philosophische Bücher, sang Psalmen und Kirchenlieder und sah auf Neapel, den Vesuv und auf die in saphirblauem Lichte schimmernden Inseln Ischia, Procida und Capri hinaus; am meisten aber doch aufs Meer, an dem er sich gar nicht satt sehen konnte. Es war ihm, als ob er es zum ersten Male in seinem Leben sähe. Das nordische, graue, Handels- und Kriegszwecken dienende Meer des »Schiffsreglements« und der Petersburger Admiralität, das Meer, das sein Vater liebte, war von diesem südlichen, blauen, freien Meere so sehr verschieden.

Er hatte seine Afrossinja bei sich. Wenn er an den Vater nicht dachte, war er fast glücklich.

Es gelang ihm, wenn auch mit großer Mühe, trotz der strengen Absperrung, Einlaß für Alexej Jurow nach San-Elmo zu erwirken. Jesopka verstand, sich unentbehrlich zu machen: er unterhielt Afrossinja, die sich hier langweilte, spielte mit ihr Karten und Dame und amüsierte sie mit Scherzen, Märchen und Fabeln, wie ein echter Äsop.

Besonders gern erzählte er ihr von seinen Reisen durch Italien. Der Zarewitsch hörte ihm interessiert zu und durchlebte seine eigenen Eindrücke aufs neue. Wie sehr Jesopka sich auch nach Rußland zurücksehnte, wie sehr er um das russische Dampfbad und den russischen Branntwein trauerte, hatte er doch offenbar, gleich dem Zarewitsch, das fremde Land wie seine Heimat lieb gewonnen; auch er liebte nun Rußland samt ganz Europa mit einer neuen weltumfassenden Liebe.

»Der Weg über das Alpengebirge ist sehr mühselig und schwer,« beschrieb er den Übergang über die Alpen. »Die Straße ist außerordentlich schmal. Auf der einen Seite ragen Berge, die so hoch wie die Wolken sind, auf der anderen Seite gähnen aber sehr tiefe Abgründe, in denen reißende Gewässer rauschen und ein ständiger Lärm wie von einer Mühle herrscht. Und wenn ein Mensch in einen solchen Abgrund hineinblickt, befällt ihn großer Schrecken. Auf jenen Bergen liegt immer viel Schnee, denn die Strahlen der Sonne können niemals zwischen den Gipfeln hindurchdringen . . .«

»Wenn man aber von den Bergen, wo noch der Winter herrscht, ins Tal hinuntersteigt, so sieht man unten den schönsten Sommer. Zu beiden Seiten der Straße wächst eine Menge Weinreben, Zitronen, Pomeranzen und anderer Obstbäume; die Reben winden sich um die Bäume in schönen Figuren. Fast ganz Italien ist ein einziger Garten, ein Ebenbild des Paradieses Gottes! Am 7. März sahen wir Zitronen und Pomeranzen, reife, fast reife und ganz grüne; an einem Baume konnte man zugleich den Fruchtansatz und die Blüte sehen . . .«

»An der Sohle des Berges steht an anmutiger Stelle ein Haus, das man hier eine Villa nennt, von herrschaftlicher, schöner Architektur. Das Haus ist von wunderbaren Gärten und Pflanzungen umgeben, in denen man sich zum Vergnügen ergeht. In diesen Gärten sind die Bäume in einer bestimmten Proportion beschnitten, auch das Laub ist in einer bestimmten Proportion geschoren. Die Blumen und Kräuter sind in Töpfe gesetzt und in regelmäßigen Linien aufgestellt. Die Perspektive ist außerordentlich schön. In diesen selben Gärten sind zahlreiche wunderbare Springbrunnen eingerichtet, deren Wasser in allerlei kunstvollen Figuren herabfließen. Statt Säulen stehen an den Gartenwegen marmorne Mannsbilder und Dirnen: Jupiter, Bacchus, Venus und verschiedene andere heidnische Götzen, von kunstvoller Arbeit, wie lebendig. Diese Bildwerke stammen aus alten Zeiten und sind in der Erde gefunden worden . . .«

Von Venedig erzählte er solche Wunderdinge, daß Afrossinja ihm lange Zeit nicht glauben wollte und Venedig mit der Kandiszuckerstadt, die in russischen Märchen vorkommt, verwechselte.

»Du lügst, Jesopka!« sagte sie lachend, hörte aber mit großem Interesse seinen Erzählungen zu.

»Venedig steht auf dem Meere, in allen Straßen und Gassen fließt Meereswasser, und man fährt auf ihnen in Booten. Es gibt dort weder Pferde noch Vieh; auch gibt es keine Kutschen, Kaleschen und sonstige Fuhrwerke; von Schlitten hat man dort aber überhaupt keine Ahnung. Die Luft ist im Sommer sehr dumpf, und es riecht nach fauligem Wasser wie bei uns in Petersburg an der Fontanka, wenn sich in ihr das Wasser staut. In der Stadt gibt es eine Menge Mietsboote, die man Gondeln nennt und die nach eigener Mode gebaut sind: sie sind lang und schmal wie die Einbäume; der Vorder- und Hinterteil sind zugespitzt, am Bug ist ein eiserner Kamm angebracht, und mitten auf dem Boote steht eine Kammer mit kristallenen Fenstern und Damastvorhängen; diese Gondeln sind ganz schwarz mit schwarzem Tuch ausgeschlagen und gemahnen an Särge; ein Ruderer steht am Bug und ein zweiter am Hinterteil des Bootes; sie rudern und steuern mit dem gleichen Ruder; ein Steuer gibt es nicht, und doch lenken sie das Boot mit großer Geschicklichkeit . . .«

»In Venedig werden wunderbare Opern und Komödien gegeben, deren Vollkommenheit niemand beschreiben kann; nirgends in der Welt kann man so wunderbare Opern und Komödien sehen. Diese Opern werden in großen runden Sälen gespielt, die die Italiener Theater nennen. In diesen Sälen sind viele kunstvoll verzierte und vergoldete Verschläge in fünf Reihen übereinander angebracht. Die Handlung der Opern ist den alten Historien von berühmten Männern und griechischen und römischen Göttern nachgebildet; wenn jemand eine Geschichte besonders liebt, so führt er sie in seinem Theater auf. In diese Opern kommen viele Menschen in Larven, damit keiner den andern erkennt. Auch während des Karnevals, – so nennen sie unsere Butterwoche – gehen die Leute in Larven und seltsamen Kleidern umher; sie vergnügen sich unbehindert ein jeder auf seine Weise, fahren in Gondeln mit Musik spazieren, tanzen, essen Zuckerwerk und trinken allerlei wohlschmeckende Limonaden und Schokoladen. So vergnügen sich die Leute in Venedig zu jeder Zeit und wollen keinen Tag ohne Vergnügungen leben; bei diesen Vergnügungen wird aber auch viel gesündigt. Wenn man in Larven zusammenkommt, fassen viele Frauen und Mädchen Fremde bei der Hand und ergötzen sich mit ihnen ganz ohne Scham. Das Weibervolk ist in Venedig schön von Angesicht, groß gewachsen und schlank; sie haben gute Manieren, kleiden sich reinlich, haben aber wenig Lust zu arbeiten. Sie verbringen die Zeit meistens mit Vergnügungen, lieben Unterhaltungen jeder Art und sind zu fleischlichen Sünden sehr geneigt. Sie tun es nur der Bereicherung wegen und erwerben auf diese Weise große Vermögen, ohne irgendein anderes Gewerbe auszuüben. Viele Dirnen leben in eigenen Häusern und schämen sich ihrer Sünde nicht; sie halten sie für ein Gewerbe wie jedes andere. Andere, die keine eigenen Häuser besitzen, wohnen in besonderen Straßen in kleinen Kammern zur ebenen Erde; eine jede Kammer hat eine Tür nach der Straße zu, und wenn jemand vorübergeht, sucht ihn jede Dirne mit großem Eifer zu sich zu locken; und wenn eine an einem Tage mehr Besucher als die anderen hat, hält sie das für ein großes Glück; sie leiden daher alle an der französischen Krankheit und teilen von diesem Reichtum ausgiebig und schnell ihren Besuchern mit. Die geistlichen Personen wehren es ihnen nur durch Belehrung und niemals durch Zwang. Man versteht sich in Venedig übrigens sehr gut auf die Behandlung der französischen Krankheit . . .«

Mit der gleichen Begeisterung wie die venezianischen Vergnügungen beschrieb er auch allerlei kirchliche Heiligtümer, Reliquien und Wunder.

»Es wurde mir die Gnade zuteil, ein Kreuz zu sehen, in dem sich unter Glas ein Stück von der Nabelschnur und von der Vorhaut Christi befindet. In einem andern Kreuze sah ich ein Teilchen der Nase Johannis des Täufers. In der Stadt Bari sah ich die Gebeine des heiligen Wundertäters Nikola, aus denen beständig heiliges Chrisam fließt: man kann einen Teil des Fußknochens sehen, und über dem Knochen steht immer heiliges Chrisam, das wie durchsichtiges Öl anzuschauen ist und niemals versiegt; die Pilger nehmen täglich eine Menge davon mit, und doch wird es niemals erschöpft und fließt wie Wasser aus einer Quelle; die ganze Welt wird von diesem Chrisam erfüllt und geheiligt. Auch sah ich das Sieden des Blutes des heiligen Januarius und einen Knochen des heiligen Märtyrers Laurentius; der Knochen liegt unter Glas, und wenn man das Glas küßt, so spürt man Wärme, was sehr verwunderlich ist . . .«

Mit nicht geringerem Erstaunen schilderte er auch die Wunder der Wissenschaft:

»Zu Padua in der ärztlichen Akademie sah ich einbalsamierte Kinderleichen, zum Teil Fehlgeburten, zum Teil solche, die man verstorbenen Frauen aus dem Leibe geschnitten hat, in mit Spiritus gefüllten Gläsern schwimmen; so können sie ohne zu verwesen auch tausend Jahre aufbewahrt werden. Ebendort sah ich in der Bibliothek sehr große irdische und himmlische, mit außerordentlicher mathematischer Kunst eingerichtete Globen . . .«

Jesopka war Klassiker. Das Mittelalter hielt er für barbarisch. Dafür entzückte ihn jede Nachahmung der klassischen Architektur, jede Regelmäßigkeit, Geradlinigkeit, jede schöne Proportion, lauter Dinge, an die sich sein Auge schon im jungen Petersburg gewöhnt hatte.

Florenz gefiel ihm nicht.

»Es gibt dort nur wenige hübsche, in guten Proportionen erbaute Häuser; alle Häuser von Florenz sind alt; es gibt auch große Paläste mit drei und vier Stockwerken, sie sind aber alle einfach und ohne jede Architektur erbaut . . .«

Den größten Eindruck hatte auf ihn Rom gemacht. Er sprach davon mit jenem ehrfurchtsvollen, beinahe abergläubischem Gefühl, das die Ewige Stadt zu allen Zeiten den Barbaren einflößte.

»Rom ist eine große Stadt. Man kann noch heute die Stadtgrenzen des alten Rom erkennen und man sieht, daß es eine Stadt von unsagbarer Majestät war; an Stellen, die sich einst in der Mitte der Stadt befanden, breiten sich jetzt weite Felder und Äcker aus, wo man Weizen und Wein baut und Herden von Büffeln, Ochsen und anderem Vieh weiden; auf diesen Feldern sieht man noch viele steinerne, ungemein große Bauten, die vor Alter eingefallen sind; sie sind alle mit großer Kunst und in außerordentlich schönen Proportionen erbaut, wie heute niemand mehr zu bauen versteht. Von den Bergen bis nach Rom sieht man alte Steinsäulen, auf denen oben Steintröge liegen, und in diesen Trögen floß aus den Bergen reinstes Quellwasser. Diese Säulen heißen Aquädukte, und die Felder heißen Campagna di Roma . . .«

Der Zarewitsch hatte Rom nur ganz flüchtig gesehen; als er aber jetzt der Erzählung lauschte und sich an das Gesehene wieder erinnerte, war es ihm, als ob ein drohender Schatten der »unsagbaren Majestät« über ihm schwebte.

»Auf diesen Feldern befindet sich unter den römischen Ruinen der Eingang zu den Höhlen. In den Höhlen versteckten sich die Christen in der Zeit der Verfolgungen, und viele erlitten dort den Märtyrertod; auch heute noch befinden sich in den Höhlen die Gebeine jener heiligen Märtyrer. Diese Höhlen, die man Katakomben nennt, sind so groß, daß sie sich unter der Erde angeblich bis ans Meer hinziehen. Es gibt auch noch viele andere undurchforschbare unterirdische Gänge. In der Nähe dieser Katakomben steht in einer kleinen Kirche der Sarg des Bacchus; er ist aus Porphyr gemeißelt und sehr groß; in diesem Sarge liegt niemand, er ist leer. In alten Zeiten lag aber darin, wie man sagt, ein unverweslicher Körper von unbeschreiblicher Schönheit, der durch die Kraft des Teufels eine Ähnlichkeit mit dem unsaubern Gotte Bacchus hatte. Heilige Männer hatten den Unflat herausgeworfen, den Ort geweiht und eine Kirche errichtet . . .«

»Dann kam ich an einen andern Ort, den man Kolosseum nennt, wo unter den altrömischen Cäsaren, die den christlichen Glauben verfolgten und die Bekenner des Namens Christi peinigten, die heiligen Märtyrer wilden Tieren zum Fraße vorgeworfen wurden. Diese Stätte ist groß und rundlich; der Bau ist an die fünfzehn Klafter hoch, und oben auf der steinernen Mauer gingen die alten Peiniger herum und sahen zu, wie die Tiere die heiligen Märtyrer zerfleischten. An den Mauern befinden sich in der Erde Verließe, in denen die Raubtiere wohnten. In diesem Kolosseum wurde von den Tieren der heilige Ignatius der Gotttragende gefressen; die ganze Erde ist an jenem Orte mit dem Blute der Märtyrer gefärbt . . .«

Der Zarewitsch erinnerte sich noch, wie man ihm in seiner Kindheit immer erzählte, daß nur Rußland allein ein heiliger Boden sei und daß alle anderen Völker unrein wären. Er erinnerte sich auch an die Worte, die er einst zu der Hofdame Arnheim auf dem Taubenschlage zu Roshdestwenno gesprochen hatte: »Christus ist nur mit uns.« – Ist es auch wirklich so? – fragte er sich jetzt. – Vielleicht haben auch sie den Heiland, vielleicht ist nicht nur Rußland allein sondern ganz Europa ein heiliger Boden? Die Erde ist an jener Stätte mit dem Blute der Märtyrer gefärbt. Kann denn solcher Boden unrein sein? –

Daß das Dritte Rom, wie Moskau von den Alten genannt wurde, ebenso wenig Ähnlichkeit mit dem ersten, echten Rom hatte, wie das Petersburger Europa mit dem echten Europa, konnte er jetzt mit eigenen Augen sehen.

»Als von Moskau noch keine Spur war,« behauptete Jesopka, »gab es im Westen schon viele andere Reiche, die älter und ehrwürdiger als Moskau waren . . .«

Die Beschreibung des Karnevals von Venedig schloß er mit Worten, die sich tief in das Gedächtnis des Zarewitsch einprägten:

»So vergnügen sie sich alle Zeit, machen einander keine Vorwürfe, und kein Mensch hat den andern zu fürchten: ein jeder tut alles nach seinem Geschmack, was er gerade will. Diese Freiheit herrscht in Venedig alle Zeit, und die Bürger leben in voller Ruhe, ohne Angst oder Unterdrückung und ohne Steuerlast . . .«

Der unausgesprochene Gedanke war klar: da ist es doch ganz anders als bei uns in Rußland, wo man die Freiheit nicht einmal beim Namen nennen darf!

»Besonders lobenswert ist bei allen europäischen Völkern die Sitte,« bemerkte einmal Jesopka, »daß die Kinder keinerlei Vorurteile oder Grausamkeiten von ihren Eltern und Lehrern zu erdulden haben und nur mit guten und strengen Worten, nicht aber mit Schlägen in Selbständigkeit und Kühnheit erzogen werden. Die alten Moskowiter wußten es und schickten ihre Kinder niemals zur Ausbildung ins Ausland: sie fürchteten, daß die Kinder den Glauben, die Sitten und die gesegnete Freiheit der fremden Länder kennenlernen, von ihrem Glauben abfallen, einen anderen annehmen würden und an die Rückkehr ins Vaterhaus gar nicht mehr würden denken wollen. Heute schickt man zwar die Kinder ins Ausland, hat aber davon keinen großen Nutzen: ebenso wie der Vogel ohne Luft nicht leben kann, so können auch die Wissenschaften ohne Freiheit unmöglich bestehen; selbst die neuen Wissenschaften werden bei uns auf alte Art gelehrt, mit Stöcken und mit Fäusten . . .«

So fühlten sie beide, der entlaufene Seefahrer und der entlaufene Zarewitsch, daß das Europa, das Peter nach Rußland verpflanzte, – die Mathematik, Navigations- und Fortifikationslehre, – noch nicht das ganze Europa und selbst nicht das Wichtigste von ihm sei; daß das echte Europa eine höhere Wahrheit enthalte, die der Zar nicht kenne. Ohne diese Wahrheit würden alle diese Wissenschaften an Stelle der alten moskowitischen Barbarei nur das neue Petersburger Lakaientum setzen. Wandte sich nicht auch der Zarewitsch selbst an diese gesegnete Freiheit, als er Europa zum Schiedsrichter zwischen sich und dem Vater anrief?

Einmal erzählte ihnen Jesopka die »Historie von dem russischen Matrosen Wassilij Koriotskij und der schönen Prinzessin Heraklea von Florenz.«

Der Sinn dieser Geschichte war den Zuhörern wohl ebenso dunkel wie dem Erzähler selbst, zugleich aber geheimnisvoll-verständlich: die Trauung des russischen Matrosen mit der Prinzessin von Florenz, dem Frühlingsboten der Renaissance, der herrlichsten Blüte der europäischen Freiheit als das Symbol der noch unbekannten, doch kommenden Verbindung Rußlands mit Europa.

Als der Zarewitsch die Historie zu Ende gehört hatte, fiel ihm ein Bild ein, das sein Vater einst aus Holland mitgebracht hatte und das den Zaren selbst in Matrosenanzug darstellte, wie er ein üppiges holländisches Mädel umarmte. Alexej mußte lächeln, als er sich an dieses rotbackige Mädel erinnerte, das der »wie die unverhüllte Sonne strahlenden« Prinzessin von Florenz ebenso unähnlich war, wie das russische Europa dem echten.

»Dein Matrose ist doch niemals nach Rußland zurückgekehrt?« fragte er Jesopka.

»Was hatte er dort noch zu suchen?« brummte Jesopka mit einer plötzlichen Gleichgiltigkeit gegen Rußland, wohin er sich eben so sehr gesehnt hatte. »In Petersburg hätte man ihn wohl laut dem Ukas von den Deserteuren mit Tauenden durchgepeitscht und nach Rogerwick verschickt; die Prinzessin von Florenz wäre aber als eine liederliche Dirne in ein Spinnhaus gekommen! . . .«

Ganz unerwartet fiel ihm aber Afrossinja ins Wort:

»Nun siehst du es selbst, Jesopka, welch hohe Stellung der Matrose dank der Wissenschaft erlangt hat; wäre er aber aus der Lehre entlaufen wie du, so hätte er die Prinzessin von Florenz ebensowenig zu sehen bekommen wie seine Ohren. Und was die hiesige Freiheit betrifft, die du rühmst, so will ich darauf sagen, daß die Ebereschenbeeren nicht für Rabenschnäbel geschaffen sind: wenn man euch die Freiheit gibt, verliert ihr jeden Halt und kommt ganz herunter. Euch Dummköpfe kann man ja mit dem Stocke lehren, wenn ihr im guten nichts lernen wollt! Man muß dem Väterchen Zaren dankbar sein! Ganz richtig behandelt er euch!«


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