Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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Erstes Buch

Die Venus von Petersburg

 

I.

»Der Antichrist will kommen. Er selbst, der letzte Teufel, ist noch nicht erschienen, aber die ganze Welt ist voll von seiner Brut. Die Kinder bahnen ihrem Vater den Weg. Sie bereiten alles zu seinem Empfang vor. Und wenn sie alles vorbereitet und alle Winkel sauber gekehrt haben, so wird er zu seiner Zeit erscheinen. Er steht schon vor der Schwelle, – bald wird er da sein!«

Dies sagte ein alter Mann von etwa fünfzig Jahren in einem zerlumpten Schreiberkaftan zu einem jungen Mann, der in einem Nankingschlafrock und Pantoffeln an den bloßen Füßen an einem Tische saß.

»Woher wißt ihr dies alles?« sagte der junge Mann. »Es steht doch geschrieben: Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch der Sohn nicht. Und ihr wißt es . . .«

Er schwieg eine Weile, gähnte und fragte:

»Bist du ein Raskolnik?«

»Nein, ein Rechtgläubiger.«

»Wozu bist du nach Petersburg gekommen?«

»Ich bin aus Moskau, aus meinem Häuschen mit allen Einnahme- und Ausgabebüchern geholt worden, auf die Anzeige eines Fiskals, der mich der Annahme von Bestechungen beschuldigt.«

»Hast du welche angenommen?«

»Ja. Doch nicht mit Gewalt und auch nicht aus Dieberei: ich habe nur das angenommen, was mir ein jeder aus Liebe und nach Ehr und Gewissen für meine Bemühung auf der Kanzlei gab.«

Er sagte das ganz einfach, und es war klar, daß er die Annahme von Bestechungen für keine Sünde hielt.

»Um mich meiner Schuld zu überführen, konnte der Fiskal nichts vorbringen; aber aus den Zetteln der Bauunternehmer, die mir im Laufe der Jahre kleine Geschenke gemacht hatten, rechnete man mir an solchen Gaben im ganzen 215 Rubel nach, und ich habe nichts, um dieses Geld zurückzuzahlen. Ich bin arm, alt, dürftig, gebrechlich, krank und elend und kann mein Amt nicht länger versehen; ich bitte untertänigst um meinen Abschied. Eure allergnädigste Hoheit, wende mir deine Barmherzigkeit und Gnade zu, schütze den schutzlosen Greis, daß ihm diese ungerechte Zahlung erlassen werde. Erbarme dich meiner, Zarewitsch Alexej Petrowitsch!«

Der Zarewitsch Alexej hatte diesen Greis vor einigen Monaten in Petersburg, in der Kirche des heiligen Simeon und der Prophetin Hanna, die in der Nähe des Fontanka-Flusses und des Scheremetjewschen Palais in der Litejnajastraße gelegen ist, kennengelernt. Der Mann war ihm durch seinen für einen Beamten ungewöhnlichen, seit langer Zeit nicht geschorenen grauen Bart und durch den Eifer, mit dem er die Psalmen las, aufgefallen; er fragte ihn, woher er sei, wie er heiße und welches Amt er bekleide. Der Alte nannte sich Larion Dokukin, Schreiber an der Moskauer Artilleriekanzlei; er sagte, daß er aus Moskau gekommen und im Hause der Hostienbäckerin an der Simeonskirche wohne; er hatte seine Armut und die Anzeige des Fiskals erwähnt und war gleich bei den ersten Worten auch auf den Antichrist zu sprechen gekommen. Der Alte machte auf den Zarewitsch einen recht unglücklichen Eindruck. Er befahl ihm, zu ihm ins Haus zu kommen, da er ihm mit Rat und Geld beistehen wolle.

Nun stand dieser Dokukin in seinem zerlumpten Kaftan, einem Bettler gleich, vor ihm. Er war ein ganz gewöhnlicher Schreiber, einer von denen, die man Tintenseelen und Federfuchser zu nennen pflegt. Sein Gesicht war von harten, gleichsam versteinerten Furchen durchzogen; die kleinen trüben Augen blickten hart und kalt, das graue Gesicht mit den harten grauen Bartstoppeln war ebenso langweilig wie die Papiere, die er abzuschreiben hatte; und dieser Mensch, der wohl an die dreißig Jahre über den Papieren in seiner Kanzlei geschwitzt, von den Bauunternehmern kleine Gaben »aus Liebe und nach Ehre und Gewissen« angenommen und vielleicht auch manche Ränke geschmiedet hatte, war nun bei der Überzeugung angelangt: Der Antichrist will kommen.

»Ist er vielleicht doch ein Gauner?« fragte sich der Zarewitsch zweifelnd, indem er ihn genauer betrachtete. Das Gesicht des Alten drückte aber nichts Gaunerhaftes oder Listiges aus; es war eher einfältig und zugleich mürrisch und eigensinnig wie das Gesicht eines Menschen, der von einem einzigen festeingewurzelten Gedanken besessen ist.

»Ich bin auch noch in einer anderen Angelegenheit aus Moskau hergekommen,« fügte der Alte etwas verlegen hinzu. Der fest eingewurzelte Gedanke kam langsam, mit sichtlicher Mühe in seinen harten Zügen zum Ausdruck. Er schlug die Augen nieder, suchte im Busen seines Kaftans, zog einen Pack Papiere heraus, die durch ein Loch in der Tasche unter das Futter gerutscht waren, und reichte sie dem Zarewitsch.

Es waren zwei dünne fettige Hefte in Quartformat, die mit großer und deutlicher Kanzleischrift vollgeschrieben waren.

Alexej las sie zuerst zerstreut, dann aber mit immer wachsendem Interesse.

Anfangs kamen Texte aus den Kirchenvätern, den Propheten und der Apokalypse über den Antichrist und das Weltende. Dann folgte ein Aufruf »An die Erzbischöfe des großen Rußlands und der ganzen Welt« mit der Bitte, ihm seine Freiheit und Frechheit zu verzeihen, daß er ohne ihre väterliche Erlaubnis diese Dinge aus großem Gram und Trauer, vom Eifer für die Kirche beseelt, geschrieben habe; ferner flehte er sie an, für ihn ein Wort beim Zaren einzulegen, daß er ihn in Gnaden anhöre.

Nun kam etwas, was wohl der Hauptgedanke Dokukins war:

»Gott gebot dem Menschen, daß er frei sei.«

Den Schluß bildete eine Anklage gegen den Kaiser Peter Alexejewitsch.

»Nun werden wir aber alle von jenem göttlichen Geschenk – dem unabhängigen und freien Leben abgeschnitten, sowie auch von unseren Häusern und Geschäften, dem Ackerbau und Handwerk und allen unseren früheren Gewerben und seit alten Zeiten bestehenden Gesetzen, vor allen Dingen aber jeder christlichen Frömmigkeit beraubt. Wir werden von Haus zu Haus, von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt gejagt und immer verspottet und beleidigt. Man hat unsere Sitten und Sprache und auch unsere Kleidung geändert, uns Kopf und Bart geschoren und unsere ganze Erscheinung entehrt. Es ist keine Gottesfurcht mehr in uns, unser Aussehen unterscheidet sich nicht mehr von dem der Andersgläubigen: wir haben uns gänzlich mit ihnen vermengt, haben uns ihre Sitten angewöhnt, unsere eigenen christlichen Gelübde aber umgestoßen und die heilige Kirche verwüstet, wir haben unsere Blicke vom Osten abgewendet und unsere Schritte gen Westen gerichtet; wir wandeln seltsame und unbekannte Wege und gehen im Lande des Vergessens zugrunde, wir haben für die Fremden einen festen Grund errichtet und mästen sie mit allem Guten, unsere leiblichen Kinder aber haben wir verhungern lassen; wir haben sie bei Gericht gefoltert und durch erdrückende Steuern zugrunde gerichtet. Mehr zu sagen ist nicht klug, klüger ist, seine Zunge im Zaum zu halten. Doch das Herz vergeht vor Leid, wenn es die Verwüstung des Neuen Jerusalems und die unerträglichen Martern des armen Volkes sieht!«

»So handelt man an uns,« hieß es zum Schluß, »im Namen unseres Herrn und Heilands Jesu Christi. Oh ihr geheimen Märtyrer, erschreckt nicht und verzweifelt nicht, seid stark und wappnet euch mit der Waffe des Kreuzes gegen die Gewalt des Antichrist! Duldet um des Herrn willen, duldet noch eine Zeitlang! Christus wird uns nicht verlassen, ihm sei die Ehre jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.«

»Wozu hast du dies geschrieben?« fragte der Zarewitsch, als er beide Hefte durchgelesen hatte.

»Einen Brief mit dem gleichen Inhalte habe ich kürzlich vor dem Portal der Simeonskirche niedergelegt,« erwiderte Dokukin. »Sie fanden den Brief und verbrannten ihn, dem Kaiser meldeten sie aber nichts und stellten auch keine Untersuchung an. Nun will ich dieses Gebet an der Dreifaltigkeitskirche neben dem Kaiserpalast anschlagen, damit alle, die es lesen, alles erfahren und es Seiner Zarischen Majestät melden. Geschrieben habe ich es aber zwecks Bekehrung, damit seine Zarische Majestät sich bekehre und bessere.«

»Ein Gauner!« ging es Alexej wieder durch den Kopf. »Vielleicht auch ein Spion! Was mußte ich mich auch mit ihm einlassen?«

»Weißt du, Larion,« sagte er, ihm gerade in die Augen blickend, »weißt du, daß es meine Bürger- und Sohnespflicht ist, von diesem deinem aufrührerischen und empörenden Schreiben meinem Herrn Vater Meldung zu erstatten? Im zwanzigsten Artikel des Militärstatuts heißt es aber: wer sich an seiner Majestät durch Schimpfreden versündigt, wird mit Enthauptung bestraft.«

»Tu deinen Willen, Zarewitsch. Ich habe auch selbst daran gedacht, mit diesen Dingen zu kommen, um für das Wort Christi den Märtyrertod zu empfangen.«

Er sagte dies ebenso einfach, wie er vorhin von den Bestechungen gesprochen hatte. Der Zarewitsch faßte ihn schärfer ins Auge. Vor ihm stand noch immer der gewöhnliche Schreiber, der Federfuchser mit dem kalten und trüben Blick und dem langweiligen Gesicht. Nur in der Tiefe seiner Augen regte sich wieder etwas, langsam und angestrengt.

»Bist du bei Sinnen, Alter? Bedenke doch, was du tust. Du kommst in die Garnisonsfolterkammer, dort wird man nicht mit dir spaßen: man wird dich an einer Rippe aufhängen und vielleicht auch noch räuchern, wie man es mit eurem Grischka Talitzkij gemacht hat.«

Talitzkij war einer der Verkünder des Weltenendes und der Wiederkunft Christi; für die Behauptung, der Zar Peter Alexejewitsch sei der Antichrist, mußte er einen schrecklichen Tod erdulden: er wurde vor einigen Jahren auf kleinem Feuer langsam zu Tode geröstet.

»Ich bin mit Gottes Hilfe bereit, mein Leben zu opfern,« entgegnete der Alte. »Sterbe ich nicht heute, so werde ich doch einmal sterben müssen. Man muß etwas Gutes tun, damit man etwas hat, womit man vor den Herrn treten kann; sterben muß aber ein jeder.«

Er sagte auch das ebenso einfach wie alles andere; in seinem ruhigen Gesicht und in seiner leisen Stimme lag aber etwas, was die Überzeugung einflößte, daß dieser verabschiedete Artillerieschreiber, den man der Bestechlichkeit beschuldigte, tatsächlich bereit sei, in den Tod zu gehen, wie jene heimlichen Märtyrer, von denen er in seinem Gebete sprach.

»Nein,« sagte sich plötzlich der Zarewitsch, »er ist kein Gauner und kein Spion, sondern entweder ein Besessener oder wirklich ein Märtyrer!«

Der Alte senkte den Kopf auf die Brust und fügte noch leiser, wie für sich selbst, hinzu, gleich als ob er den Zarewitsch vergessen hätte:

»Gott gebot dem Menschen, daß er frei sei.«

Alexej stand schweigend auf, riß ein Blatt aus einem der Hefte heraus, zündete es an der in der Ecke vor den Heiligenbildern brennenden ewigen Lampe an, öffnete das Zugloch und die Türe des Ofens, steckte die Papiere hinein, mischte alles mit dem Schürhaken durch und wartete, bis es zu Asche verbrannt war. Dann ging er auf Dokukin, der sich währenddessen nicht gerührt und ihn nur mit den Blicken verfolgt hatte, zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

»Höre, Alter. Ich werde dich nicht anzeigen. Ich sehe, daß du ein aufrechter Mann bist. Ich vertraue dir. Sag: willst du mir Gutes?«

Dokukin antwortete nicht, sah ihn aber mit solchen Augen an, daß jede Antwort überflüssig war.

»Und wenn du mir Gutes willst, so schlage dir diesen Unsinn aus dem Kopf! Unterstehe dich nicht, an deine aufwieglerischen Briefe auch nur zu denken: jetzt ist nicht die Zeit dazu, wenn du damit erwischt wirst und es herauskommt, daß du bei mir warst, so wird es auch mir schlecht ergehen. Geh mit Gott und komme nie wieder, sprich mit niemand von mir. Wenn man dich fragt, so schweige. Reise sofort aus Petersburg ab. Paß auf, Larion, wirst du meinen Willen tun?«

»Wie könnte ich etwas gegen deinen Willen tun?« versetzte Dokukin. »Gott sei mein Zeuge, daß ich bis an den Tod dein getreuer Diener bin.«

»Und wegen der Anzeige des Fiskals brauchst du dir keine Sorgen zu machen,« fuhr Alexej fort. »Ich werde für dich, wenn es nötig ist, ein Wort einlegen. Kannst ganz ruhig sein, dir wird jede Zahlung erlassen werden. Jetzt geh . . . oder nein, warte, gib mir dein Tuch.«

Dokukin reichte ihm sein großes blaukariertes verschossenes und durchlöchertes Taschentuch, das ebenso armselig aussah wie sein Besitzer. Der Zarewitsch zog die Schublade eines kleinen Nußbaumpultes heraus, das neben seinem Tische stand, nahm ohne zu zählen etwa zwanzig Rubel in Silber und Kupfer heraus – ein Vermögen für den bettelarmen Dokukin –, wickelte das Geld in das Tuch und reichte es ihm mit freundlichem Lächeln.

»Nimm das für die Reise, wenn du wieder in Moskau bist, bestelle in der Erzengel-Kathedrale eine Messe für das Wohlergehen des Knechtes Gottes Alexej. Sage aber ja nicht, daß es für den Zarewitsch ist.«

Der Alte nahm das Geld, dankte aber nicht und ging auch nicht fort. Er stand noch immer mit gesenktem Kopfe da. Endlich hob er die Augen und begann feierlich eine Rede, die er sich offenbar vorher zurechtgelegt hatte:

»Wie der Herr einst den Durst Simsons aus der Eselskinnbacke löschte, so wird vielleicht derselbe Herr auch heute aus meiner Unvernunft für dich etwas Nützliches und Heilsames erstehen lassen . . .«

Plötzlich hielt er es nicht mehr aus und blieb in seiner feierlichen Ansprache stecken; seine Stimme versagte, die Lippen zitterten, er bebte am ganzen Leibe und fiel dem Zarewitsch zu Füßen:

»Erbarme dich, Väterchen! Erhöre uns, deine armen, klagenden, letzten Knechte! Nimm dich des christlichen Glaubens an, richte ihn wieder auf und beschütze ihn, schenke der Kirche Frieden und Eintracht. Herr, Zarewitsch, leuchtendes Kind der Kirche, unsere Sonne und die Hoffnung Rußlands! Die ganze Welt will durch dich erleuchtet werden! Deiner freuen sich die zerstreuten Kinder Gottes! wenn nicht du mit Hilfe des Herrn, wer soll uns helfen? Ohne dich sind wir alle verloren, vielgeliebter! Erbarme dich!«

Er umarmte und küßte schluchzend seine Knie. Der Zarewitsch hörte ihm zu, und es war ihm, als hörte er in diesem verzweifelten Flehen das Flehen aller Zugrundegehenden, aller Beleidigten und Gekränkten, den Schrei des ganzen Volkes um Hilfe.

»Genug, genug, Alter,« sagte er, sich über ihn beugend, um ihm auf die Beine zu helfen, »Weiß ich es denn nicht? Sehe ich es nicht? Tut mir das Herz nicht weh um euretwillen? Wir haben das gleiche Leid, wo ihr seid, da bin auch ich. Wenn ich mit Gottes Hilfe auf den Thron komme, so werde ich alles tun, um dem Volke sein Joch zu erleichtern. Dann werde ich auch an dich denken: ich brauche getreue Diener. Jetzt aber duldet und betet, daß Gott es bald vollende. – Sein heiliger Wille geschehe in allen Dingen!«

Er half ihm aufstehen. Der Alte schien jetzt noch schwächer, gebrechlicher und elender. Aber in seinen Augen leuchtete solche Freude, als sähe er schon die Rettung Rußlands.

Alexej umarmte und küßte ihn auf die Stirn.

»Leb wohl, Larion. So Gott will, sehen wir uns wieder. Christus sei mit dir!«

Als Dokukin gegangen war, setzte sich der Zarewitsch wieder in seinen alten zerfetzten Ledersessel, aus dessen Löchern das Roßhaar heraussah, der aber sehr bequem und weich war, und versank halb in Träumerei und halb in Erstarrung.

Er war fünfundzwanzig Jahre alt, groß gewachsen, hager, mit schmalen Schultern und eingefallener Brust; sein Gesicht war gleichfalls auffallend schmal, mit spitzem Kinn, greisenhaft, kränklich und von der gelben Farbe, wie sie die Leberkranken haben; der kleine, kindliche Mund hatte einen klagenden Ausdruck; die unverhältnismäßig große, kahle, steile und runde Stirn war von dünnen Strähnen langer, gerade herabfallender schwarzer Haare umrahmt. Solche Gesichter sieht man oft bei Klosterdienern und Dorfküstern. Wenn er aber lächelte, so strahlten seine Augen klug und gutmütig. Das Gesicht schien sofort jünger und schöner, wie von einem stillen inneren Licht durchleuchtet. In solchen Augenblicken erinnerte er an seinen Großvater, den sanftesten Zaren Alexej Michailowitsch, wie dieser in seiner Jugend war.

Wie er jetzt in seinem schmutzigen Schlafrock, mit den ausgetretenen Pantoffeln an den bloßen Füßen, verschlafen, unrasiert, mit Federn in den Haaren dasaß, sah er gar nicht wie ein Sohn des Kaisers Peter aus. Nach dem gestrigen Rausch hatte er den ganzen Tag geschlafen und war eben, also erst kurz vor Abend aufgestanden. Durch die offene Türe sah man im Nebenzimmer das noch nicht aufgeräumte Bett mit zerwühlten großen Kissen und schmutziger Wäsche.

Auf dem Arbeitstische, vor dem er saß, lagen in Unordnung verrostete und verstaubte mathematische Instrumente, ein zerbrochenes altertümliches Räucherfaß mit Weihrauch, ein Tabaksmörser, Meerschaumpfeifen, eine leere Haarpuderschachtel, die ihm als Aschenschale diente; Stöße von Papieren und Büchern lagen ebenso bunt durcheinander: Blätter mit handschriftlichen Notizen zu den Annalen des Baronius waren von einem Haufen Pfeifentabak bedeckt; auf der aufgeschlagenen Seite eines zerfetzten und aus dem Leim gegangenen »Buches, genannt Geometrie, das ist die Wissenschaft der Erdmessung mittels Radix und Zirkel für eifrige Weisheitsucher« lag eine angebissene Salzgurke; auf einem Zinnteller – ein abgenagter Knochen und ein vom Pomeranzengeist klebriges Glas, in dem eine Fliege summte. An den mit grüngemustertem, zerfetztem und schmierigem Wachstuch bekleideten Wänden, an der verräucherten Decke und an den trüben Scheiben der Winterfenster, die trotz der heißen Witterung – es war Ende Juni – noch nicht herausgenommen waren, überall wimmelten, summten und krochen dichte schwarze Schwärme von Fliegen umher.

Über ihm summten Fliegen. Und auch in seinem Kopfe schwärmten schläfrige Gedanken wie die Fliegen. Er dachte an die Schlägerei, mit der das gestrige Trinkgelage geendet hatte. Shibanda hatte den Sassypka geschlagen, Sassypka den Sachljustka, und Vater Ad, Gratsch und Moloch waren unter den Tisch gefallen; diese Spitznamen hatte der Zarewitsch seinen Trinkgenossen »zum häuslichen Spaß« gegeben. Und auch er selbst, Alexej der Sünder – das war sein Spitzname – hatte jemand geschlagen und an den Haaren gezerrt; wer es war, kann er sich nicht mehr erinnern. Gestern abend kam es ihm so komisch vor, aber jetzt erschien es ihm so häßlich und beschämend.

Seine Kopfschmerzen wurden immer stärker. Wenn er doch ein Glas Pomeranzenschnaps trinken könnte, um den Katzenjammer zu vertreiben! Aber er war zu faul, um aufzustehen, den Diener zu rufen und sich zu rühren. Und doch mußte er sich gleich ankleiden, den engen Uniformrock anziehen, den Degen umschnallen, die schwere Perücke, unter deren Last ihm der Kopf noch ärger schmerzen wird, aufsetzen und nach dem Sommergarten zu einer Maskerade fahren, zu der alle »unter Androhung harter Strafen« befohlen waren.

Vom Hofe klangen Stimmen spielender Kinder herauf. Ein kranker zerzauster Zeisig piepste jammervoll in seinem Bauer über dem Fenster. Der Pendel der hohen englischen Standuhr mit Glockenspiel – ein altes Geschenk des Vaters – tickte gleichförmig. Aus den Zimmern des Obergeschosses klangen langweilige endlose Tonleitern, die Alexejs Gemahlin, die Kronprinzessin Sophie Charlotte, Tochter des Herzogs von Wolfenbüttel, auf einem alten klirrenden deutschen Klavier spielte. Ihm fiel plötzlich ein, wie er gestern in seinem Rausche zu Shibanda und Sachljustka über sie gesprochen hatte: »So eine Teufelin hat man mir als Frau aufgehängt: so oft ich zu ihr komme, ist sie böse und will gar nicht mit mir reden. So eine hochnasige Deutsche!« – »Es war nicht gut,« sagte er sich. »Wenn ich betrunken bin, rede ich zu viel und mache mir nachher Vorwürfe . . .« Was kann sie auch dafür, daß man sie, als sie noch fast ein Kind war, gegen ihren Willen mit ihm verheiratet hat? Ist sie denn überhaupt hochnasig? Krank, einsam, von allen in der Fremde verlassen, ist sie ebenso unglücklich wie er. Und sie liebt ihn doch, – sie ist vielleicht das einzige Wesen, das ihn liebt. Er muß an den Streit denken, den er neulich mit ihr gehabt hat. Sie hatte ihm zugerufen: »Der gemeinste Schuster in Deutschland behandelt seine Frau besser als Sie!« Er zuckte verächtlich die Achseln und sagte: »Kehren Sie also mit Gott nach Deutschland zurück! . . .« – »Ja, wäre ich nicht . . .« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, begann zu weinen und zeigte auf ihren Leib: sie war in gesegneten Umständen. Er sieht noch jetzt ihre angeschwollenen blaßblauen Augen vor sich und die Tränen, die, den Puder wegwischend – die Arme hatte sich eben eigens für ihn gepudert –, über ihr unschönes, pockennarbiges, etwas hölzernes Gesicht herablaufen, das durch die Schwangerschaft noch häßlicher und magerer geworden ist und einen so unglücklichen, kindlich-hilflosen Ausdruck hat. Er liebt sie ja auch selbst; jedenfalls überkommt ihn zuweilen ein plötzliches hoffnungsloses Mitleid, das ihm schmerzhaft, beinahe unerträglich ins Herz sticht. Warum quält er sie denn so? Schämt er sich denn gar nicht, sieht er nicht, daß es eine Sünde ist? Er wird sich doch ihretwegen vor Gott zu verantworten haben.

Die Fliegen setzten ihm furchtbar zu. Ein schräger, heißer, roter Strahl der sinkenden Sonne, der gerade durchs Fenster drang, stach ihm in die Augen. Endlich rückte er den Sessel weg, drehte ihn mit dem Rücken zum Fenster und richtete seinen Blick auf den Ofen. Es war ein riesengroßer holländischer Ofen mit gedrehten Säulen und gemusterten Vertiefungen und Vorsprüngen: ein Ofen aus russischen Kacheln, die an den Ecken durch Kupfernägel verbunden waren, Auf weißem Hintergrunde waren mit satten roten, grünen und dunkelvioletten Farben allerlei phantastische Tiere, Vögel, Menschen und Pflanzen gemalt, – unter jeder Darstellung stand eine Inschrift in altslawischen Buchstaben. In den roten Sonnenstrahlen leuchteten die Farben zauberhaft-grell. Der Zarewitsch sah sich zum tausendsten Male mit stumpfem Interesse diese Bildchen an und studierte die Inschriften; ein Bauer mit einer Balalaika: »Ich vermehre die Musik«; ein Mann in einem Sessel, mit einem Buch in der Hand: »Ich nähre meinen Geist«; eine erblühende Tulpe: »Ihr Duft ist süß«; ein Greis auf den Knien vor einer jungen Schönen: »Ich will keinen Alten lieben«; ein Liebespaar unter Büschen: »Wir verstehen uns gut«; eine Bauerndirne, französische Komödianten, ein chinesischer und ein japanischer Pope, die Göttin Diana und der sagenhafte Vogel Malkofeja.

Die Fliegen hören aber nicht auf zu summen; der Pendel tickt; der Zeisig piepst jammervoll; von oben erklingen die Tonleitern, und vom Hofe die Kinderstimmen. Der scharfe, rote Sonnenstrahl wird immer stumpfer und dunkler. Die bunten Figuren beginnen sich zu bewegen. Die französischen Komödianten spielen Huckepack mit der Bauerndirne; der japanische Pope blinzelt dem Vogel Malkofeja zu. Alles kommt durcheinander, die Augen fallen ihm zu. Und gäbe es diese große klebrige, schwarze Fliege nicht, die nicht mehr im Schnapsglase sondern in seinem Kopfe summt und kitzelt, so wäre alles so schön und ruhig, und er könnte ganz in diesen stillen, dunklen, roten Nebel versinken.

Plötzlich fuhr er zusammen und kam zur Besinnung. »Erbarme dich, Väterchen, du Hoffnung Rußlands!« Diese Worte des Alten klangen ihm mit erschütternder Kraft in den Ohren. Er warf einen Blick auf das nicht aufgeräumte Zimmer und auf sich selbst, und die Scham übergoß ihm das Gesicht und versengte ihn wie ein blendender roter Sonnenstrahl. Eine nette »Hoffnung Rußlands«! Schnaps, Schlaf, Nichtstun, Lüge, Schmutz und diese ewige gemeine Furcht vor dem Vater.

Ist es denn wirklich zu spät? Ist denn alles vorbei? Wenn er doch alles von sich abschütteln und entfliehen könnte! »Für das Wort Christi den Märtyrertod empfangen . . .« klangen in ihm wieder die Worte Dokukins: »Gott gebot dem Menschen, daß er frei sei.« Oh ja, schnell zu ihnen eilen, solange es nicht zu spät ist. Die »heimlichen Märtyrer« rufen ihn und warten auf ihn.

Er sprang auf, als ob er tatsächlich entfliehen, oder einen Entschluß fassen und etwas, was sich nicht wieder rückgängig machen ließe, vollbringen wollte; – da horchte er auf und erstarrte in Erwartung.

In die Stille dröhnten langsam und melodisch die Messingglocken der Uhr. Es schlug neun, und als der erste Schlag verhallt war, knarrte leise die Türe, und der alte Kammerdiener Iwan Afanassiewitsch Bolschoj steckte seinen Kopf hinein.

»Es ist Zeit zu fahren, soll ich Euch beim Ankleiden helfen?« brummte er in seinem gewöhnlichen mürrischen und boshaften Ton; es klang so, als ob er schimpfte.

»Nein. Ich fahre nicht hin,« sagte Alexej.

»Ganz wie es Euch beliebt. Es ist aber befohlen, daß alle erscheinen. Der Herr Vater werden wieder böse sein.«

»Geh, laß mich!« der Zarewitsch wollte ihn hinausjagen; als er aber seinen zerzausten Kopf mit den Federn im Haar und das Gesicht, das ebenso unrasiert und übernächtig wie das seinige war, sah, fiel ihm ein, daß er doch diesen Afanassiewitsch gestern Abend an den Haaren gezerrt hatte.

Der Zarewitsch betrachtete lange stumpf und verständnislos den Alten, als ob er erst eben endgültig erwacht wäre.

Der letzte rote Schein erlosch im Fenster, und alles wurde auf einmal so grau, als ob aus allen verräucherten Ecken Spinngewebe herabgesunken wären und das Zimmer in ein graues Netz gehüllt hätten.

Doch der Kopf steckte noch immer in der Türe wie festgeklebt, ohne sich vorwärts oder rückwärts zu bewegen.

»Soll ich Euch also die Kleider geben?« wiederholte Afanassiewitsch noch mürrischer.

Alexej fuhr hoffnungslos mit der Hand durch die Luft.

»Es ist ganz gleich, gib her!«

Und als er sah, daß der Kopf sich noch immer nicht zurückzog und auf etwas wartete, fügte er hinzu:

»Wenn ich doch etwas Pomeranzenschnaps haben könnte, um mich zu erholen! Der Kopf tut mir noch von gestern abend so fürchterlich weh . . .«

Der Alte sagte nichts, blickte aber den Zarewitsch so an, als ob er sagen wollte: »Wie sollte dir der Kopf auch nicht weh tun!«

Als der Zarewitsch allein geblieben war, faltete er langsam die Hände im Nacken, so daß alle Gelenke knackten, reckte sich und gähnte. Scham, Furcht, Trauer, Reue, Sehnsucht nach einer großen Tat, nach einer plötzlichen Handlung, – alles kam in diesem langsamen, schmerzlichen, krampfhaften Gähnen zum Ausdruck, das viel hoffnungsloser und schrecklicher war, als jenes Stöhnen und Schluchzen.

Nach einer Stunde saß er gewaschen, rasiert, vollkommen nüchtern, in den engen Uniformrock eines Sergeanten des Preobrashenskij-Leibgarderegiments aus deutschem grünen Tuch mit roten Aufschlägen und goldenen Tressen eingeschnürt in seinem sechsruderigen Boote und fuhr hinunter nach dem Sommergarten.


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