Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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III.

Tagebuch der Hofdame Arnheim.

Mit diesen Worten schließt das Tagebuch des Zarewitsch Alexej.

Er warf es vor meinen Augen ins Feuer.

31. Dezember 1715.

Heute starb die letzte russische Zarin, Marfa Matwejewna, die Witwe des Zaren Fjodor Alexejewitsch, Peters Stiefbruders. An den fremden Höfen hielt man sie längst für tot; seit dem Tode ihres Gemahls lebte sie zweiunddreißig Jahre lang in geistiger Umnachtung wie eine Gefangene in ihren Gemächern und zeigte sich keinem Menschen.

Sie wurde in der Abenddämmerung unter großem Prunk beigesetzt. Der Trauerzug ging zwischen zwei Reihen von Fackeln, die auf dem ganzen Wege, vom Hause der Entschlafenen – sie hatte neben uns, bei der Kirche der Muttergottes »aller Leidenden Freude« gewohnt – bis zur Peter-Pauls-Kathedrale, über die zugefrorene Newa aufgestellt waren. Auf dem gleichen Wege wurde vor mehr als zwei Monaten die Leiche Ihrer Hoheit auf einer Trauerfregatte überführt. Damals wurde die erste ausländische Zarewna beerdigt; heute aber die letzte russische Zarin.

An der Spitze des Zuges ging die Geistlichkeit in reichen Ornaten mit Kerzen und Weihrauchfässern, Trauerlitaneien singend. Der Sarg stand auf einem Schlitten. Hinter dem Schlitten trug der Geheime Rat Tolstoi die edelsteinbesetzte Krone.

Bei dieser Beerdigung wurde auf Befehl des Zaren zum erstenmal mit der altrussischen Sitte der Totenklagen gebrochen: es war allen strengstens verboten, während der Beerdigung laut zu weinen.

Alle gingen schweigend. Der Abend war still. Man hörte nur das Knistern der Pechfackeln, das Knirschen des Schnees unter den Füßen und den Gesang der Priester. Diese stumme Prozession flößte ein stilles Grauen ein. Es war uns, als ob wir selbst als Tote, auf dem Eise gleitend, der Entschlafenen in die ewige schwarze Finsternis folgten. Es war uns auch, als ob in der Person der letzten russischen Zarin das neue Rußland das alte, Petersburg – Moskau, zu Grabe trüge.

Der Zarewitsch, der die Verstorbene wie eine Mutter geliebt hatte, war von ihrem Tode schwer erschüttert. Er sah diesen Tod als ein übles Vorzeichen für sich und sein ganzes Schicksal an. Während der Trauerfeier flüsterte er mir einigemal ins Ohr:

»Jetzt ist alles zu Ende!«

 

1. Januar 1716.

Morgen früh reise ich mit den beiden Baronen Löwenwolde aus Petersburg über Riga und Danzig nach Deutschland. Ich verlasse Rußland für immer. Es ist meine letzte Nacht unter dem Dache des Zarewitsch.

Gegen Abend besuchte ich ihn, um von ihm Abschied zu nehmen. Beim Abschied gewann ich die Überzeugung, daß ich ihn liebgewonnen hatte und ihn niemals vergessen würde.

»Wer weiß,« sagte er mir, »vielleicht sehen wir uns doch wieder. Ich wünschte gerne wieder einmal als Gast zu Ihnen nach Europa zu kommen. Ich liebe die dortige Landschaft. So schön ist es bei Ihnen, so frei und lustig.«

»Warum fahren Sie nicht hin, Hoheit?«

Er seufzte schwer auf:

»Ich käme gerne ins Paradies, aber meine Sünden lassen mich nicht hinein.«

Mit seinem gutmütigen Lächeln fügte er noch hinzu:

»Der Herr sei mit Ihnen, Fräulein Juliane! Denken Sie nicht schlecht von mir, grüßen Sie von mir die europäischen Länder und Ihren alten Leibniz. Vielleicht hat er auch recht: so Gott will, werden wir einander nicht auffressen, sondern einander dienen!«

Er umarmte und küßte mich zärtlich wie ein Bruder.

Ich mußte weinen, vor dem Weggehen wandte ich mich noch einmal nach ihm um und sah ihn zum letztenmal an; und wieder krampfte sich mein Herz in einer bangen Vorahnung zusammen, wie an jenem Tage, als ich im dunklen prophetischen Spiegel die vereinigten Antlitze Charlottens und Alexejs sah und das Gefühl hatte, daß sie beide zu einem großen Leid verurteilte Opfer seien. Sie war zugrunde gegangen. Nun war die Reihe an ihm.

Und ich dachte auch daran, wie er am letzten Abend in Roshdestwenno oben auf dem Taubenschlage über dem schwarzen, gleichsam verkohlten Walde, sich gegen den blutroten Himmel abhebend, gestanden hatte, ganz in weiße Taubenflügel wie in ein Kleid gehüllt. So bleibt er für immer in meinem Gedächtnisse.

Ich hörte sagen, daß Gefangene, die man freigelassen hat, sich manchmal nach ihrem Kerker zurücksehnen. Etwas Ähnliches empfinde ich jetzt Rußland gegenüber.

Ich begann dieses Tagebuch mit einem Fluch. Ich will es aber mit einem Segenswunsche beschließen. Ich sage nur das, was vielleicht viele Europäer gesagt hätten, wenn sie Rußland besser kennten: ein geheimnisvolles Land, ein geheimnisvolles Volk.

 


 


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