Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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IV.

Der kaiserliche Statthalter in Neapel, Graf Daun, berief den Zarewitsch zu sich ins königliche Schloß für den Abend des 26. September.

In den letzten Tagen lag in der Luft die Vorahnung des Sirokko, des afrikanischen Windes, der aus der Tiefe der Sahara Wolken glühenden Staubes bringt. Oben, in den höheren Luftschichten hatte der Orkan wohl schon begonnen, aber unten herrschte noch eine lautlose Stille. Die Blätter der Palmen und die Zweige der Mimosen hingen unbeweglich herab. Nur das Meer war bewegt, und die riesengroßen schaumlosen Wogen zerschellten am Ufer mit erschütterndem Brausen. Der Horizont verschwand hinter einem trüben Nebelschleier, und die Sonne schien am wolkenlosen Himmel so bleich wie durch einen Rauchtopas. Die ganze Luft war mit feinstem Staub durchsetzt. Der Staub drang überall hinein, selbst in die dicht abgeschlossenen Zimmer; er bedeckte mit grauer Schicht jeden weißen Papierbogen und jede aufgeschlagene Buchseite, er knirschte zwischen den Zähnen und entzündete Augen und Hals. Es war furchtbar schwül, und die Schwüle wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher. Die Natur empfand wohl dasselbe, was der Körper empfindet, wenn in ihm ein Geschwür reift. Menschen und Tiere fanden keine Ruhe und irrten traurig umher. Das Volk erwartete irgendein Unglück – Krieg, Pest oder den Ausbruch des Vesuv.

Die Einwohner von Torre del Greco, Resina und Portici verspürten in der Nacht vom 23. zum 24. September die ersten unterirdischen Stöße. Es zeigte sich auch Lava. Der feurige Strom näherte sich bereits den oben am Abhange des Berges gelegenen Weingärten. Zur Besänftigung des göttlichen Zornes wurden Bußprozessionen mit brennenden Kerzen, leisem Gesang und lautem Schreien der Geißler veranstaltet. Der göttliche Zorn ließ sich aber nicht besänftigen. Aus dem Vesuvkrater stieg während des Tages wie aus einem Schmelzofen schwarzer Rauch auf, der sich als lange Wolke von Castellamare bis Posilipo verbreitete; nachts schlug eine rote Flamme wie der Widerschein einer unterirdischen Feuersbrunst empor. Der friedliche Altar der Götter war in eine schreckliche Fackel der Eumeniden verwandelt. Schließlich hörte man auch in Neapel selbst die ersten, einem unterirdischen Donner gleichenden, Stöße des Erdbebens; es war als ob die alten Titanen wieder auferstünden. Die Stadt war von Grauen befallen. Man dachte an die Tage von Sodom und Gomorra. In der Totenstille der Nacht ließ sich aber in den Fensterritzen, unter den Türen und in den Kaminen ein feines, gleichsam ersticktes Winseln vernehmen, das wie das Summen einer gefangenen Mücke klang: es war das Lied des Sirokko. Die Töne schwollen an, wurden stärker, und man glaubte schon, daß sie in ein wildes Geheul übergehen würden, als plötzlich alles wieder still wurde, und eine Totenstille, noch drückender als zuvor eintrat. Es war, als ob die bösen Geister von oben und von unten einander etwas zuriefen und über den Jüngsten Tag beratschlagten, der das Ende der Welt bringen müßte.

Alle diese Tage fühlte sich der Zarewitsch ganz krank. Der Arzt beruhigte ihn aber mit der Erklärung, daß sein Zustand von dem ihm ungewohnten Sirokko herrühre, und verschrieb eine erfrischende säuerliche Mixtur, die ihm tatsächlich einige Erleichterung brachte. Am festgesetzten Tage und zur bestimmten Stunde begab er sich in das königliche Schloß zum Statthalter.

Im Vorzimmer empfing ihn ein wachthabender Offizier und übermittelte ihm die ehrerbietige Entschuldigung des Grafen Daun, der seine Hoheit einige Augenblicke im Audienzsaale zu warten bitte, da der Statthalter in einer wichtigen und unaufschiebbaren Angelegenheit abwesend sei.

Der Zarewitsch betrat einen großen, öden Audienzsaal, der mit düsterem, beinahe unheimlichem spanischen Prunk ausgestattet war: blutrote seidene Tapeten, ein Überfluß an schweren Vergoldungen, geschnitzte Schränke aus Ebenholz, die an Särge erinnerten, und trübe Spiegel, die anscheinend nur die Gesichter von Gespenstern zurückzuwerfen vermochten. An den Wänden hingen große dunkle Bilder alter Meister, lauter religiöse Darstellungen: Metzgern gleichende römische Soldaten brannten, peitschten, zerschnitten, zersägten und peinigten auf jede andere Weise christliche Märtyrer; das Ganze erinnerte an ein Schlachthaus oder an die Folterkammer der heiligsten Inquisition. Oben aber an der Decke war zwischen vergoldeten Schnörkeln und Muscheln der Triumph der olympischen Götter dargestellt; in dieser elenden Mißgeburt einer Kunst, die von Tizian und Rubens abstammte, war schon das Ende der Renaissance zu sehen; in der raffinierten Verzärtelung – die barbarische Verwilderung und Verrohung der Kunst. Man sah auf den Bildern Haufen nackter Körper, nackten Fleisches, feiste Rücken, aufgedunsene, Falten bildende Bäuche, gespreizte Beine und ungeheuerliche weibliche Hängebrüste. Man hatte den Eindruck, als ob alle diese wie Schweine gemästeten Götter und Göttinnen und die kleinen, an rosige Ferkel erinnernden Amoretten, dieser ganze viehische Olymp für ein christliches Schlachten, für die Folterwerkzeuge der Heiligsten Inquisition bestimmt wäre.

Der Zarewitsch ging in diesem Saale lange auf und ab, wurde schließlich müde und setzte sich hin. Durchs Fenster kam die Dämmerung hereingeschlichen, und graue Schatten woben in allen Ecken ihr Spinngewebe. Hier und da traten eine vergoldete Löwentatze und ein spitzbrüstiger Greif, die eine runde Tischplatte aus Jaspis oder Malachit stützten, aus der Dämmerung hervor; die in Gaze gehüllten Lüster mit den Kristallprismen funkelten matt wie mit Tautropfen übersäte Riesenkokons. Dem Zarewitsch schien es, als ob die Schwüle des Sirokko durch diese Anhäufung nackter Körper, nackten Fleisches, des gemästeten, heidnischen an der Decke und des gemarterten, christlichen an den Wänden, – immer zunähme. Sein zerstreuter Blick irrte an den Wänden umher und wurde plötzlich von einem Bilde gefesselt, das den andern gar nicht ähnlich sah und unter ihnen wie ein heller Fleck hervorleuchtete: ein bis zum Gürtel entblößtes rothaariges Mädchen, mit fast kindlichem, keuschem Busen und durchsichtig gelben Augen lächelte gedankenlos vor sich hin; in den hochgezogenen Mundwinkeln und den länglich und schief geschlitzten Augen lag etwas Ziegenhaftes, Wildes, Fremdartiges, beinahe Unheimliches, das an die Dirne Afroßjka erinnerte. Er spürte plötzlich halb unbewußt einen Zusammenhang zwischen diesem Lächeln und der heranreifenden Schwüle des Sirokko. Es war ein ganz schlechtes Bild, eine Kopie nach einem alten Werke der lombardischen Schule, eines Schülers der Schüler Leonardos. In diesem sinnlos gewordenen, doch immer noch rätselhaften Lächeln spiegelte sich der letzte Schatten der edlen Bürgerin von Neapel, Mona Lisa Gioconda.

Der Zarewitsch wunderte sich, daß der sonst so ausgesucht höfliche Statthalter ihn so lange warten ließ. Wo steckte auch Weingarten, und warum herrschte hier eine solche Stille, als ob das ganze Schloß ausgestorben wäre?

Er wollte aufstehen, jemand rufen, Licht machen lassen, aber er befand sich in einer seltsamen Erstarrung, als ob auch er selbst in das graue Spinngewebe, das die Schatten in allen Ecken woben, eingesponnen wäre. Er war zu träge, um sich zu rühren. Die Augen fielen ihm zu. Er mußte sie mit großer Anstrengung offenhalten, um nicht einzuschlafen. Und doch schlief er für einige Augenblicke ein. Als er aber erwachte, schien es ihm, als ob er lange Zeit geschlafen hätte.

Er hatte im Traume etwas Schreckliches gesehen, woran er sich nicht mehr erinnern konnte. In seiner Seele blieb nur das Gefühl von etwas unsagbar Schwerem zurück, und er spürte wieder den Zusammenhang zwischen dem sinnlosen Lächeln des rothaarigen Mädchens und der heranreifenden Schwüle des Sirokko. Als er die Augen aufschlug, sah er gerade vor sich ein furchtbar bleiches, beinahe gespenstisches Gesicht. Er konnte lange Zeit nicht begreifen, was es sei. Schließlich begriff er, daß es sein eigenes Gesicht war, das er im trüben Spiegel, vor dem er eingeschlummert war, sah. Im gleichen Spiegel war hinter seinem Rücken eine verschlossene Türe zu sehen. Und es war ihm, als ob der Traum noch weiter dauerte, ob die Türe gleich aufgehen müßte und jenes Schreckliche, das er eben im Traume gesehen hatte und woran er sich nicht erinnern konnte, erscheinen würde.

Die Türe ging geräuschlos auf. In ihr erschienen einige von Wachskerzen erleuchtete Gesichter. Er wandte sich nicht um, blickte immer in den Spiegel und erkannte ein Gesicht, zwei, drei Gesichter. Er sprang auf, wandte sich um und streckte die Arme vor sich aus, in der verzweifelten Hoffnung, daß er im Spiegel nur ein Traumgesicht gesehen hätte; in der Wirklichkeit sah er aber dasselbe, was ihn im Spiegel so sehr erschreckt hatte, seiner Brust entwand sich ein Schrei grenzenlosen Grauens.

»Er! Er! Er!«

Der Zarewitsch wäre umgefallen, wenn ihn der Sekretär Weingarten nicht gestützt hätte.

»Wasser! Wasser! Dem Zarewitsch ist unwohl!«

Weingarten setzte ihn behutsam in einen Sessel, und Alexej sah das über ihn gebeugte gutmütige Gesicht des alten Grafen Daun. Der Graf streichelte ihm die Schulter und gab ihm Spiritus zu riechen.

»Beruhigt Euch, Hoheit! Beruhigt Euch um Gotteswillen! Es ist nichts Schlimmes geschehen. Die Nachrichten lauten sehr günstig . . .«

Der Zarewitsch trank Wasser, und seine Zähne klapperten am Rande des Glases. Er zitterte am ganzen Körper wie im Fieber und starrte unverwandt auf die Türe.

»Wie viele sind ihrer?« fragte er flüsternd den Grafen Daun.

»Zwei, Hoheit, nur zwei.«

»Und der Dritte? Ich habe einen Dritten gesehen . . .«

»Es ist Euch wohl nur so vorgekommen.«

»Nein, ich sah ihn! wo ist er?«

»Wer ist er?«

»Der Vater!«

Der Alte sah ihn erstaunt an.

»Das kommt vom Sirokko,« erklärte Weingarten. »Ein Blutandrang im Kopfe. Das kommt oft vor. Auch mir tanzen seit heute morgen lauter blaue Hasen vor den Augen. Wenn man ihn zur Ader läßt, geht es gleich vorbei.«

»Ich habe ihn gesehen!« wiederholte der Zarewitsch. »Ich schwöre bei Gott, daß es kein Traum war! Ich habe ihn gesehen, wie ich Euch jetzt sehe, Graf . . .«

»Ach, mein Gott, mein Gott!« rief der Alte aufrichtig bekümmert aus. »Wenn ich gewußt hätte, daß Eure Hoheit sich nicht ganz wohl fühlen, hätte ich es nicht zugelassen . . . Vielleicht kann man die Zusammenkunft verschieben? . . .«

»Nein, nein, es ist mir gleich. Ich will alles wissen,« sagte der Zarewitsch. »Soll nur der Alte allein bei mir bleiben. Und ihn, den andern, laßt nicht zu mir heran . . .«

Er erfaßte krampfhaft seine Hand.

»Um Gotteswillen, Graf, laßt den andern nicht zu mir heran! . . . Er ist ein Mörder! . . . seht nur, wie er schaut . . . Ich weiß, der Zar hat ihn hergeschickt, um mich abzuschlachten! . . .«

Sein Gesicht drückte solchen Schrecken aus, daß es dem Statthalter durch den Kopf ging: »Wer kann sich bei diesen Barbaren auskennen? Vielleicht ist es wirklich so . . .« Und ihm fielen die Worte der kaiserlichen Instruktion ein:

»Bei der Zusammenkunft sind Anstalten zu treffen, um zu verhüten, daß die Moskowiter (verzweifelte und zu allem fähige Leute) etwa den Zarewitsch überfallen und Hand an ihn legen, was übrigens nicht zu erwarten ist.«

»Eure Hoheit können ganz ruhig sein: ich bürge mit meinem Leben und meinem Gewissen, daß sie Euch nichts Böses antun werden.«

Der Statthalter flüsterte Weingarten zu, daß er die Wachtposten verstärken lassen solle.

Indessen näherte sich schon dem Zarewitsch mit kaum hörbaren, schleichenden Schritten, den Rücken ehrfurchtsvoll gekrümmt und sich fortwährend verbeugend, Peter Andrejewitsch Tolstoi.

Sein Begleiter, der Gardehauptmann und Kammerherr des Zaren Alexander Iwanowitsch Rumjanzew, ein Riese mit gutmütigem und hübschem Gesicht, das halb an einen römischen Legionär und halb an Iwan den Narren aus dem russischen Volksmärchen erinnerte, mußte auf einen Wink des Statthalters an der Türe bleiben.

»Allergnädigster Herr Zarewitsch, Eure Hoheit! Ein Schreiben vom Vater,« sagte Tolstoi, sich noch tiefer verbeugend, so daß die linke Hand beinahe den Boden berührte, während er mit der Rechten das Schreiben übergab.

Der Zarewitsch erkannte in den Worten: »Meinem Sohn«, die auf dem Umschlage standen, die Handschrift des Vaters, öffnete mit zitternden Händen den Brief und las:

»Mein Sohn!

Es wird nunmehro wohl jedermann bekant seyn, was Ihr für Ungehorsam und Verachtung meines Willens erzeiget / Ihr habt Euch weder an Worte noch an Schläge gekehret / meinen Ermahnungen nicht gefolget / und zuletzt habt Ihr mich mit List hintergangen; ja was habt Ihr nun gethan / wider den großen Eyd / den Ihr bey meinem Abschiede vor Gott abgeleget? Ihr seyd entwichen / und habt Euch in fremde Protection als ein Verräther begeben / solches ist nicht allein unter Kindern Unsers Standes, sondern auch nicht einmal unter andern vornehmen Unterthanen Kindern / nie erhöret worden, womit Ihr Eurem Vater großes Leid und Verdruß / und dem Vaterlande Schande zugefüget. Ich sende dahero an Euch diesen meinen letzten Brieff / damit Ihr dem / was Euch der Herr Tolstoi und Rumianzow vorstellen werden / nachlebet, ist es etwann / daß Euch vor mir bange ist; so versichere ich Euch / und verspreche vor Gott / Euch auf keine Weise zu straffen / sondern viel größere Liebe zu Euch zu tragen / wofern Ihr Euch meinem Willen unterwerffet und zu mir kommt / thut Ihr aber solches nicht; so verfluche ich Euch als ein Vater / dem von Gott die Gewalt gegeben ist / und als Euer Souverain erkenne ich Euch vor einen Verräther / dabey werde alle Mittel ergreiffen / Euch als einen Verräther und Vater-Schänder, zur Straffe zu ziehen / Gott wird meiner gerechten Sache schon beystehen / gedenket / daß ich Euch keine Gewalt angethan habe, wenn ich aber gewolt hätte / warum solte ich Euch den Willen gelassen haben? Was ich gewolt wäre geschehen.

Peter.«

Als der Zarewitsch den Brief zu Ende gelesen hatte, blickte er wieder Rumjanzew an. Dieser verbeugte sich und wollte näher herantreten. Aber der Zarewitsch erblaßte, begann zu zittern, erhob sich vom Sessel und sagte:

»Peter Andrejewitsch . . . Peter Andrejewitsch . . . erlaube ihm nicht, sich mir zu nähern! . . . Sonst gehe ich weg . . . ich gehe gleich weg! . . . Auch der Graf sagt, er solle sich nicht unterstehen . . .«

Auf einen Wink Tolstois blieb Rumjanzew wieder stehen. Sein hübsches doch dummes Gesicht drückte höchstes Erstaunen aus.

Weingarten brachte einen Stuhl. Tolstoi rückte ihn zum Sessel des Zarewitsch heran, setzte sich ehrerbietig auf die Kante, beugte sich vor, blickte den Zarewitsch einfältig und zutraulich gerade in die Augen und begann so zu sprechen, als ob nichts besonderes vorgefallen wäre und als ob sie zu einer angenehmen Unterhaltung zusammengekommen wären.

Er war immer noch derselbe elegante Herr Geheime Rat, Exzellenz und hoher Orden Ritter Peter Andrejewitsch Tolstoi: samtschwarze Brauen, ein samtweicher Blick, ein samtenes freundliches Lächeln und eine samtene einschmeichelnde Stimme; er war ganz aus Samt, und doch steckte in diesem Samt ein Giftstachel.

Obwohl sich der Zarewitsch an den Ausdruck seines Vaters erinnerte: »Tolstoi ist ein kluger Mensch, aber wenn man mit ihm spricht, muß man einen Stein im Busen bereit halten«, – hörte er ihm doch mit Vergnügen zu. Seine kluge sachliche Rede wirkte auf ihn beruhigend, verscheuchte die schrecklichen Gesichte und führte ihn in die Wirklichkeit zurück. In dieser Rede wurde alles weich und glatt. Man hatte den Eindruck, als ob sich alles so einrichten ließe, daß die Wölfe satt würden und die Schafe heil blieben. Er sprach wie ein erfahrener alter Chirurg, der den Kranken von der beinahe angenehmen Leichtigkeit einer sehr schwierigen Operation zu überzeugen sucht.

»Es sind freundliche Worte und auch Drohungen anzuwenden, wobei auch gut ersonnene Beweise und Argumente anzuführen sind,« hieß es in der Instruktion des Zaren; wenn der Zar ihm jetzt zugehört hätte, so wäre er wohl zufrieden gewesen.

Tolstoi bestätigte mündlich das, was im Briefe stand: völlige Begnadigung und Vergebung, wenn der Zarewitsch zurückkehrte.

Dann führte er die eigenen Worte des Zaren aus der ihm, Tolstoi, für die Verhandlungen mit dem Kaiser erteilten Instruktion an, wobei in seiner Stimme neben der früheren einschmeichelnden Freundlichkeit auch eine gewisse Festigkeit klang.

»Sollte der Kaiser sagen, daß Unser Sohn sich in seine Protektion gegeben habe und daß er ihn gegen seinen Willen nicht ausliefern könne, oder wenn er andere Ausreden und erdachte Befürchtungen vorbringen sollte, sollst du ihm vorstellen, daß es für Uns mehr als verletzend ist, wenn er zwischen Mir und Meinem Sohne richten will; umsomehr als nach den natürlichen Gesetzen, insbesondere aber denen Unseres Staates, auch unter privaten Untertanen sich niemand zum Richter zwischen Vater und Sohn aufwerfen darf: der Sohn muß sich dem Willen des Vaters fügen. Und wir, der wir ein Souverain und ein Selbstherrscher sind, sind dem Kaiser in keiner Weise untertänig; er soll sich daher nicht einmischen, sondern den Sohn zurückschicken. Und wir werden ihn als Vater und Herr laut Unserer Elternpflicht gnädigst aufnehmen und ihm sein Vergehen verzeihen; Wir werden ihn belehren, daß er seine bisherigen schamlosen Handlungen einstelle, den Pfad der Tugend betrete und Unsern Absichten entsprechend handle; auf diese Weise kann er die Gewogenheit Unseres Vaterherzens wiedergewinnen; wodurch Seine Kaiserliche Majestät sowohl ihm Gnade erweisen, wie auch Lohn vom Himmel und Unsern Dank erwerben würde; auch Unser Sohn wird ihm dafür ewigen Dank wissen und dankbarer sein als dafür, daß man ihn jetzt wie einen Gefangenen oder Verbrecher unter dem Namen eines aufrührerischen ungarischen Grafen hinter Schloß und Riegel hält, wodurch Unsere Ehre und Unser Namen geschändet wird. Sollte aber der Kaiser wider Erwarten Unsere Bitte nicht erfüllen wollen, sollst du ihm erklären, daß Wir dies als einen offenkundigen Bruch auffassen, den Kaiser vor der ganzen Welt anklagen und Gelegenheit suchen werden, den Uns und Unserer Ehre angetanen unerhörten Schimpf zu rächen.«

»Unsinn!« unterbrach ihn der Zarewitsch. »Der Vater wird niemals meinetwegen einen Krieg mit dem Kaiser beginnen.«

»Auch ich glaube nicht, daß es zu einem Kriege kommen wird,« sagte Tolstoi zustimmend. »Aber der Kaiser wird dich auch ohne Krieg ausliefern. Er hat gar keinen Nutzen, sondern nur Schwierigkeiten davon, daß du dich in seinen Staaten aufhältst. Das dir gegebene Versprechen, dir Schutz zu gewähren, bis dir dein Vater verzeihen würde, hat er aber schon erfüllt. Und jetzt, wo dein Vater dir bereits vergeben hat, hat der Kaiser gar keine Pflicht, dich gegen jedes Recht zurückzuhalten und einen Krieg mit dem Zaren zu beginnen, umsomehr als er in zwei Kriege – mit den Türken und Spaniern – verwickelt ist; du weißt wohl auch selbst, daß die spanische Flotte augenblicklich zwischen Neapel und Sardinien steht und die Absicht hat, Neapel zu überfallen, da der dortige Adel ein Komplott gemacht hat und lieber unter spanischer als unter kaiserlicher Herrschaft sein will. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du den Vizekönig fragen: er hat soeben ein Handschreiben vom Kaiser erhalten mit dem Auftrag, dich mit allen Mitteln zu bewegen, zum Vater zurückzukehren oder zumindest seine Staaten zu verlassen, wenn man dich aber nicht im Guten ausliefert, so beabsichtigt der Zar, sich deiner mit bewaffneter Hand zu bemächtigen. Natürlich hat er nur zu diesem Zweck seine Truppen in Polen stehen, um sie bald nach Schlesien in die Winterquartiere zu bringen; von da ist es aber gar nicht weit zu den Besitzungen des Kaisers . . .«

Tolstoi blickte ihm noch freundlicher in die Augen und berührte ganz leise seine Hand.

»Herr Zarewitsch, Väterchen, höre doch auf die väterliche Ermahnung und kehre zum Vater zurück; wir aber – das sind die eigenen Worte des Zaren, – werden ihm verzeihen und ihn wieder in Gnaden aufnehmen; und wir versprechen, ihn väterlich in aller Freiheit und seinem Range gemäß zu unterhalten, ohne Zorn und ohne Zwang.«

Der Zarewitsch schwieg.

»Sollte er sich aber, – sagt der Zar, – dazu nicht überreden lassen,« fuhr Tolstoi mit einem schweren Seufzer fort, »so ist ihm in Unserm Namen zu verkünden, daß ihn für solchen Ungehorsam der väterliche und der kirchliche Fluch treffen wird und daß wir ihn vor unserm ganzen Reiche als Verräter erklären werden; er soll sich selbst überlegen, was er dann für ein Leben haben wird. Ich glaube nicht, daß er sich irgendwo sicher fühlen können wird, es sei denn, in ewiger Gefangenschaft und unter strengster Bewachung. So wird er auf seine Seele die zukünftige und auf seinen Leib die irdische Strafe laden, wir aber werden nicht unterlassen, nach Mitteln zu suchen, um seinen Ungehorsam zu bestrafen; Wir wollen sogar mit bewaffneter Hand den Kaiser zwingen, ihn Uns auszuliefern. Er soll selbst urteilen, was dann kommen kann!«

Tolstoi schwieg und wartete auf Antwort, aber der Zarewitsch schwieg gleichfalls. Endlich hob er die Augen und sah Tolstoi durchdringend an.

»Wie alt bist du eigentlich, Peter Andrejewitsch?«

»Nicht vor Damen sei es gesagt, – über siebzig,« erwiderte der Alte mit verbindlichem Lächeln.

»Ich glaube, in der Schrift steht, daß siebzig Jahre die Grenze des menschlichen Lebens sind. Wie hast du dich nur entschließen können, wo du mit einem Fuße im Grabe stehst, dich in eine solche Sache einzulassen? Und ich glaubte gar, du liebtest mich . . .«

»Ich liebe dich auch wirklich, mein Teurer, Gott sei mein Zeuge! Bei Gott, ich bin bereit, dir bis zu meinem letzten Atemzuge zu dienen. Nur das eine habe ich im Sinn: dich mit deinem Vater zu versöhnen. Es ist eine heilige Sache. Es steht geschrieben: Selig sind die Friedfertigen . . .«

»Genug gelogen, Alter! Glaubst du vielleicht, daß ich nicht weiß, wozu man dich und Rumjanzew hergeschickt hat? Über ihn, den Räuber wundere ich mich auch gar nicht. Aber du, du, Andrejitsch! Gegen deinen zukünftigen Herrn und Selbstherrscher hast du die Hand erhoben! Ihr seid beide Mörder! Der Vater hat euch hergeschickt, um mich zu ermorden!«

Tolstoi schlug entsetzt die Hände über dem Kopfe zusammen.

»Gott sei dein Richter, Zarewitsch!«

Sein Gesichtsausdruck und seine Stimme schienen so aufrichtig, daß der Zarewitsch, so gut er ihn auch kannte, doch zu zweifeln anfing: ob er sich nicht geirrt, ob er den Alten nicht ohne Grund gekränkt hätte? Er mußte aber über diese Zweifel selbst lachen; selbst sein Zorn verflüchtigte sich: in dieser Lüge lag etwas Einfältiges, Unschuldiges, sogar Bezauberndes, wie in der List einer Frau oder im Spiele eines großen Komödianten.

»Du bist aber wirklich schlau, Peter Andrejewitsch! Und doch wird es dir nicht gelingen, mein Bester, das Schaf in den Wolfsrachen zu locken.«

»Meinst du mit dem Wolfe deinen Vater?«

»Ob er ein Wolf ist oder nicht, aber von mir bleiben nicht einmal die Knochen zurück, wenn ich ihm in die Hände falle! Warum sollen wir vor einander Theater spielen? Du weißt doch wohl auch selbst . . .«

»Ach, Alexej Petrowitsch, Väterchen! wenn du meinen Worten nicht traust, so steht doch hier im Brief mit der eigenen Hand Seiner Majestät geschrieben: ›Ich gelobe bei Gott und seinem Gericht.‹ Hörst du es? Er schwört es bei Gott! Kann denn der Zar vor ganz Europa seinen Eid brechen?«

»Was bedeutet ihm der Eid!« unterbrach ihn der Zarewitsch. »Wenn er sich nicht selbst von ihm entbindet, so wird es Fedoßka tun. Und auch die Bischöfe werden keine Schwierigkeiten machen. Sie werden ihn einstimmig vom Eide entbinden. Dazu ist er ja auch der Selbstherrscher aller Reußen! Zwei Menschen auf der Welt sind wie Götter: der moskowitische Zar und der römische Papst; sie können alles tun, was sie wollen. Nein, Andrejewitsch, verschwende keine Worte. Lebend lasse ich mich nicht fangen!«

Tolstoi zog aus der Tasche seine goldene Schnupftabaksdose mit dem Schäfer, der einer schlafenden Schäferin den Gürtel löst, zerrieb langsam, mit gewohnter Bewegung die Prise zwischen den Fingern, senkte den Kopf und sagte wie vor sich hin:

»Anscheinend muß es doch so kommen, wie du es willst. Tue, was dir beliebt. Auf mich Alten willst du nicht hören, vielleicht hörst du auf den Vater. Ich meine, daß er bald selbst hier sein wird . . .«

»Wo hier? Was lügst du, Alter?« sagte der Zarewitsch erbleichend und auf die ihm so schreckliche Türe zurückblickend.

Tolstoi schnupfte ohne Übereilung erst mit dem einen, dann mit dem andern Nasenloch, zog die Prise ein, wischte mit dem Taschentuch den Tabaksstaub von seinem Spitzenjabot ab und sagte:

»Obwohl ich nicht beauftragt bin, es dir mitzuteilen, habe ich mich schon verraten. Nun will ich es dir doch sagen. Dieser Tage erhielt ich von seiner Zarischen Majestät ein Handschreiben, in dem er mir mitteilt, daß er in Bälde nach Italien zu kommen gedenke. Und wenn er einmal hier ist, wer kann es dem Vater verwehren, dich zu sehen? Glaube nicht, daß dies unmöglich sei; nicht die geringste Schwierigkeit liegt dem im Wege, und es hängt nur vom Belieben Seiner Zarischen Majestät ab. Du wirst wohl auch selbst wissen, daß der Zar schon längst die Absicht hatte, nach Italien zu kommen; bei diesem Anlasse wird er aber sein Vorhaben ganz bestimmt ausführen.«

Er senkte den Kopf noch tiefer, und plötzlich wurde sein Gesicht runzlig und nahm einen greisenhaften Ausdruck an, es schien, als ob er gleich zu weinen anfangen würde; er tat sogar so, als ob er sich eine Träne aus dem Auge wischte. Und der Zarewitsch bekam noch einmal die Worte zu hören, die er schon so oft gehört hatte:

»Wohin könntest du vor dem Vater fliehen? Höchstens ins Grab. Der Zar hat einen langen Arm. Du tust mir leid, Alexej Petrowitsch, du tust mir leid, mein Teurer . . .«

Der Zarewitsch erhob sich von seinem Platz, wie in den ersten Augenblicken der Zusammenkunft zitterte er am ganzen Körper.

»Warte einen Augenblick, Peter Andrejewitsch, ich will erst einige Worte mit dem Grafen reden.«

Er ging auf den Statthalter zu und nahm ihn bei der Hand.

Sie begaben sich ins Nebenzimmer. Der Zarewitsch vergewisserte sich erst, ob die Türe versperrt sei, und erzählte dann dem Grafen, was ihm Tolstoi gesagt hatte. Schließlich ergriff er mit seinen kaltgewordenen Händen die Hände des Alten und fragte:

»Wenn der Vater mich mit bewaffneter Hand zurückfordern würde, kann ich mich auch dann auf die Protektion des Kaisers verlassen?«

»Eure Hoheit kann ganz unbesorgt sein! Der Kaiser ist mächtig genug, um denjenigen, den er unter seinen Schutz genommen hat, unter allen Umständen zu verteidigen . . .«

»Ich weiß es, Graf. Ich spreche jetzt aber mit Euch nicht als mit dem kaiserlichen Statthalter, sondern als mit einem edlen Kavalier und einem guten Menschen. Ihr wart immer so gütig zu mir. Sagt mir die ganze Wahrheit, Graf, und verheimlicht mir um Gotteswillen nichts! Ich will nichts von Politik hören! Sagt mir nur die Wahrheit! Ihr seht doch selbst, wie schwer ich es habe!«

Er begann zu weinen und sah den Statthalter mit dem Blicke eines halb zu Tode gehetzten Tieres an. Der Alte schlug unwillkürlich die Augen nieder.

Der große, hagere Graf Daun, mit dem blassen feinen Gesicht, das an das Gesicht Don-Quichotes erinnerte, der gute, doch unentschlossene und schwache Mensch mit zwiefachen Gedanken, der Ritter und Politiker, schwankte ewig zwischen dem alten unpolitischen Rittertum und der neuen unritterlichen Politik. Er empfand Mitleid mit dem Zarewitsch, zugleich aber auch ein Widerstreben, sich in eine so verantwortungsvolle Sache einzulassen; es war die Furcht des Schwimmers, an den sich ein Ertrinkender anzuklammern sucht.

Der Zarewitsch sank vor ihm in die Knie.

»Ich beschwöre den Kaiser im Namen Gottes und aller Heiligen, mich nicht im Stiche zu lassen! Es ist mir schrecklich, auch nur daran zu denken, was mich erwartet, wenn ich dem Vater in die Hände falle. Niemand weiß, was er für ein Mensch ist. Aber ich weiß es . . . Es ist so schrecklich, so schrecklich!«

Der Alte beugte sich über ihn und sagte mit Tränen in den Augen:

»Steht doch auf, steht auf, Hoheit! Ich schwöre bei Gott, daß ich Euch die reine Wahrheit sage, ganz ohne politische Nebengedanken: soweit ich den Kaiser kenne, wird er Euch um nichts in der Welt dem Vater ausliefern; das würde die Ehre Seiner Majestät beflecken und den in der ganzen Welt geltenden Gesetzen widersprechen, denn es wäre ein Zeichen der Barbarei!«

Er umarmte den Zarewitsch und küßte ihn mit väterlicher Zärtlichkeit auf die Stirn.

Als sie in den Audienzsaal zurückkehrten, sah der Zarewitsch zwar noch immer blaß, aber ruhig und entschlossen aus. Er ging auf Tolstoi zu und sagte zu ihm, ohne sich zu setzen und ohne Tolstoi zum Sitzen aufzufordern, womit er ihm zu verstehen gab, daß die Unterredung zu Ende sei:

»Es ist gefährlich, zum Vater zurückzukehren, und schrecklich, vor sein erzürntes Antlitz zu treten; den Grund, warum ich nicht zurückzukehren wage, werde ich meinem Protektor, Seiner Kaiserlichen Majestät schriftlich mitteilen, vielleicht werde ich auch meinem Vater auf seinen Brief antworten und ihm meinen endgültigen Entschluß mitteilen. Im Augenblick habe ich nichts mehr zu sagen. Ich brauche noch einige Zeit, um mir die Sache zu überlegen.«

»Wenn Eure Hoheit irgendwelche Bedingungen stellen will,« begann Tolstoi von neuem mit einschmeichelnder Stimme, »so könnt Ihr sie auch mir mitteilen. Ich meine, daß der Vater auf jede Bedingung eingehen wird. Er wird Euch wohl auch erlauben, Afrossinja zu heiraten. Überlege es dir, mein Teurer. Der Morgen ist klüger als der Abend. Wir werden ja noch darüber sprechen. Es ist nicht das letztemal, das wir uns sehen . . .«

»Wir haben nichts mehr zu besprechen, Peter Andrejewitsch, und brauchen uns auch nicht mehr zu sehen. Bleibst du denn noch lange hier?«

»Ich habe den Befehl,« entgegnete Tolstoi leise und blickte den Zarewitsch so an, daß es diesem schien, als ob aus seinen Augen die Augen des Vaters hervorlugten; »ich habe den Befehl, diesen Ort nicht eher zu verlassen, bis ich dich in Händen habe. Und wenn man dich an einen andern Ort bringen sollte, so muß ich dir auch dorthin folgen.«

Dann fügte er noch leiser hinzu:

»Der Vater wird nicht eher von dir lassen, bis er dich lebend oder tot in die Hände bekommt.«

Aus der samtenen Pfote kamen die Krallen zum Vorschein, die sich aber sofort wieder zurückzogen. Tolstoi verbeugte sich ebenso tief und ehrerbietig wie bei der Begrüßung und wollte dem Zarewitsch sogar die Hand küssen; aber dieser zog sie schnell zurück.

»Der allergnädigsten Person Eurer Hoheit ergebenster Diener!«

Und er ging mit Rumjanzew durch dieselbe Türe hinaus, durch die sie gekommen waren.

Der Zarewitsch begleitete sie mit den Augen und blickte lange starr und unverwandt auf diese Türe, als ob vor ihm wieder das schreckliche Gesicht vorbeigehuscht wäre.

Endlich ließ er sich in einen Sessel sinken, bedeckte das Gesicht mit den Händen und krümmte sich wie unter einer unerträglichen Last zusammen.

Graf Daun legte ihm die Hand auf die Schulter und wollte ihm etwas Beruhigendes sagen; er fühlte aber, daß er ihm doch nichts sagen könne und ging schweigend auf Weingarten zu.

»Der Kaiser besteht darauf,« flüsterte er ihm zu, »daß der Zarewitsch das Frauenzimmer, mit dem er lebt, von sich entferne. Ich hatte nicht den Mut, es ihm heute zu sagen. Sagt Ihr es ihm bei Gelegenheit.«


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