Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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II.

An diesem Tage, dem 26. Juni 1715, sollte im Sommergarten ein Venusfest zu Ehren einer antiken Statue stattfinden, die soeben aus Rom eingetroffen war und in einer Galerie über der Newa aufgestellt werden sollte.

»Ich werde einen schöneren Garten haben, als ihn der König von Frankreich in Versailles hat,« prahlte Peter. Wenn er im Felde, auf dem Meere oder in der Fremde weilte, schickte ihm die Kaiserin Berichte über sein Lieblingswerk: »Unser Garten wächst recht schön und viel besser als im vergangenen Jahre: der Weg, der zum Palais führt, ist schon fast ganz von den Eichen und Ahornen überdeckt. Sooft ich in den Garten trete, tut es mir leid, mein geliebter Freund, daß ich nicht mit Ihnen darin spaziere.« – »Unser Garten ist schon ganz grün und beginnt nach Harz zu duften,« d. h. nach den harzigen jungen Knospen.

Der Sommergarten war in der Tat »regulär nach dem Plan« angelegt wie der »berühmte Garten von Versailles«. Die wie über einen Kamm geschorenen Bäume, die geometrisch regelmäßigen Formen der Blumenbeete, die schnurgeraden Kanäle, die viereckigen Weiher mit Schwänen, kleinen Inseln und Lauben, die komplizierten Wasserkünste, die endlosen Alleen, die man »Perspektiven« nannte, die hohen Hecken und Spaliere, die den Wänden von Empfangssälen glichen, – all das »lud die Menschen zum Lustwandeln ein, – und wenn jemand ermüdete, so konnte er genug Bänke, Theater, Labyrinthe und grüne Rasenteppiche finden, um sich gleichsam in eine süße Einsamkeit zurückzuziehen«.

Der Garten des Zaren reichte aber doch nicht an den Park von Versailles heran.

Die bleiche Petersburger Sonne trieb aus den fetten Rotterdamer Zwiebeln recht kümmerliche Tulpen. Nur die anspruchslosen nordischen Blumen – der von Peter geschätzte wohlriechende Rainfarn, die gefüllten Pfingstrosen und die eintönig grellen Georginen konnten sich etwas besser entwickeln. Die jungen Bäume, die man mit ungeheurer Mühe zu Schiff und zu Wagen aus der Entfernung von vielen Tausenden Werst – aus Polen, Preußen, Pommern, Dänemark und Holland brachte, gingen allmählich zugrunde. Die fremde Erde gab ihren schwachen Wurzeln eine viel zu karge Nahrung. Dafür standen »ganz wie in Versailles« an allen Hauptalleen Marmorbüsten – »Bruststücke« – und Statuen. Die römischen Imperatoren, die griechischen Philosophen, die olympischen Götter und Göttinnen schienen einander verdutzt anzuschauen und sich zu fragen, auf welche Weise sie in dieses wilde Land der hyperboreischen Barbaren geraten waren. Es waren übrigens keine antiken Originale, sondern schlechte Nachbildungen italienischer und deutscher Meister. Die Götter sahen so aus, als ob sie soeben ihre Perücken und gestickten Röcke, die Göttinnen, als ob sie ihre Spitzenmieder und Reifröcke abgelegt hätten und sich ihrer etwas unanständigen Blöße schämten. So sehr erinnerten sie an die gezierten Kavaliere und Damen, die am Hofe Ludwigs XIV. oder des Herzogs von Orleans »französische Politesse« erlernt hatten.

Der Zarewitsch Alexej ging durch eine der Seitenalleen in der Richtung vom großen Teich zur Newa. An seiner Seite humpelte eine komische Gestalt auf krummen Beinchen, in einem schäbigen deutschen Rock, mit riesengroßer Perücke, mit dem verdutzten und erschrockenen Gesichtsausdruck eines Menschen, den man plötzlich aus dem Schlafe geweckt hat. Es war der Zeugdirektor der Armierungskanzlei und der neuen Druckerei, der erste Meister der Buchdruckerkunst in Petersburg, Michailo Petrowitsch Awramow.

Der Sohn eines Küsters war als siebzehnjähriger Schüler direkt von Gebetbuch und Psalter weg auf eine Handelsbarke gekommen, die mit einer Ladung von Teer, Juchten und Leder und einem Dutzend russischer Knaben von Kronslot nach Amsterdam segelte; die Knaben, die man »unter den scharfsinnigsten« ausgewählt hatte, wurden auf Befehl Peters zwecks Ausbildung ins Ausland geschickt. Awramow hatte in Holland etwas Geometrie und viel Mythologie studiert und wurde »von den dortigen Einwohnern belobt und in den gedruckten Zeitungen publiziert«. Der von Haus aus gar nicht dumme, sogar »scharfsinnige« Bursche war durch den plötzlichen Übergang von Psalter und Gebetbuch zu den Dichtungen Ovids und Virgils so bestürzt gewesen, daß er überhaupt nie mehr zu sich kommen konnte. Er erlebte in seiner Gefühls- und Gedankenwelt etwas, was der Epilepsie entspricht, die manchmal aus dem Schlafe geschreckte kleine Kinder bekommen. In seinem Gesicht blieb seitdem der Ausdruck ewiger Verblüffung und Verwirrung.

»Zarewitsch, Eure Hoheit, ich beichte vor dir wie vor Gott selbst,« sprach Awramow mit eintöniger weinerlicher Stimme, die wie das Summen einer Mücke klang. »Mich quält das Gewissen, daß wir, die wir doch Christen sind, die heidnischen Götzen anbeten . . .«

»Was für Götzen?« fragte der Zarewitsch erstaunt.

Awramow zeigte auf die Marmorstatuen, die zu beiden Seiten der Allee standen.

»Unsere Väter und Großväter stellten in ihren Wohnungen und auf den Kreuzwegen heilige Ikonen auf; wir schämen uns aber dessen und stellen überall schamlose Götzenbilder hin. Die göttlichen Ikonen haben göttliche Kraft in sich; ebenso wohnt in den Götzen, die Ikonen des Satans sind, die Macht des Satans. Wir verehrten bisher nur den Gott des Trunkes, Bacchus, den wir bei den Narrenkonzilen, die wir mit dem Fürst-Papst abhalten, Iwaschka Chmelnizkij zu nennen pflegen; heute sind wir aber im Begriff, die unsaubere Venus, die Göttin der Hurerei anzubeten, sie nennen diese Gottesdienste Maskeraden und sehen keine Sünde darin: sie sagen, daß es diese Götter in Wirklichkeit gar nicht gäbe und daß ihre leblosen Bilder in den Häusern und Gärten nur als Verzierung aufgestellt seien. Sie irren sich aber darin und bringen damit ihr Seelenheil in Gefahr: denn diese alten Götter haben noch immer ein natürliches und wirkliches Sein . . .«

»Glaubst du an die Götter?« fragte der Zarewitsch mit wachsendem Erstaunen.

»Ich glaube, Eure Hoheit, an das Zeugnis der heiligen Väter, daß diese Götter Teufel sind, die, im Namen des Gekreuzigten aus ihren Götzentempeln vertrieben, in öde Stätten und finstere Abgründe geflohen sind, wo sie sich eingenistet haben und sich für eine Zeitlang tot und nichtexistierend stellten. Als aber das alte Christentum geschwächt wurde und eine neue Gottlosigkeit emporblühte, erwachten auch diese Götter zu neuem Leben und kamen aus ihren Löchern gekrochen. Ebenso wie das Otterngezücht und die Insekten und jedes giftige Gewürm, wenn es aus seinen Eiern hervorkriecht, die Menschen sticht, so stechen und vergiften auch die Teufel, wenn sie aus diesen alten Götzenbildern, ihren Larven, herauskommen, die Christenseelen. Erinnerst du dich noch, Zarewitsch, an das Gesicht, das der heilige Kirchenvater Isaak hatte? Schöngestaltete Jungfrauen und Jünglinge, deren Antlitze wie die Sonne strahlten, erfaßten den Heiligen bei den Händen und begannen mit ihm zu den Klängen einer süßen Musik zu springen und zu tanzen; als er müde geworden war, ließen sie den so verhöhnten halbtot liegen und verschwanden. Und der heilige Vater erkannte in ihnen die alten hellenisch-römischen Götter: Jupiter, Merkur, Apollo, Venus und Bacchus. Heute erscheinen auch uns Sündern die Teufel in gleicher Gestalt. Wir empfangen sie aber freundlich auf den gräßlichen Maskeraden, wir vermischen uns mit ihnen, springen und tanzen, und werden schließlich in den tiefsten Tartarus stürzen, wie die Herde Säue in den See; und wir Unwissenden denken gar nicht daran, um wieviel scheußlicher diese neuen, wohlgestalteten, sonnengleichen, weißen Teufel sind als die schrecklichsten schwarzen Mohrenfratzen!«

Im Garten war es trotz der Juninacht recht dunkel, schwarze, schwüle Gewitterwolken schwebten niedrig dahin und verdeckten den Himmel. Die Illumination war noch nicht angezündet, das Fest hatte noch nicht begonnen. Die Luft war so unbeweglich wie in einem Zimmer. Wetterleuchten oder sehr ferne Blitze, denen kein Donner folgte, leuchteten ab und zu auf: und bei jedem Aufleuchten wurden zu beiden Seiten der Allee in blendendem bläulichem Scheine die weißen Marmorstatuen auf dem schwarzgrünen Hintergründe der Spaliere sichtbar wie weiße Gespenster, die plötzlich erscheinen und verschwinden.

Der Zarewitsch betrachtete sie nach allem, was er von Awramow gehört hatte, mit einem neuen Gefühl. »Sie sind wirklich wie weiße Teufel!« sagte er sich.

Er hörte Stimmen. An der einen von ihnen, die nicht sehr laut und etwas heiser klang, sowie auch an dem rötlichen Glimmen einer holländischen Tonpfeife – der glimmende Punkt befand sich so hoch über der Erde, daß man auf den Riesenwuchs des Rauchenden schließen mußte, – erkannte der Zarewitsch seinen Vater.

Er bog rasch um die Ecke der Allee in einen Seitenweg des »Labyrinths«, das aus Flieder und Buchsbaum bestand, »wie ein Hase habe ich mich in die Büsche geschlagen!« sagte er sich sofort: er schämte sich dieser mechanischen erniedrigend feigen Bewegung.

»Weiß der Teufel, was du da sagst, Awramka,« fuhr er mit geheucheltem Ärger fort, um seine Scham zu verbergen, »vom vielen Lesen bist du wohl nicht ganz bei Trost.«

»Ich spreche die reine Wahrheit, Eure Hoheit,« entgegnete Awramow, der sich anscheinend gar nicht verletzt fühlte. »Ich habe die unreine Gewalt der Götter am eigenen Leibe erfahren. Der Satan überredete mich, deinen Vater, den Zaren, um Erlaubnis zu bitten, die Bücher des Ovid und Virgil drucken zu dürfen. Eines dieser Bücher mit den Abrissen der unsauberen Götter und ihrer verrückten Handlungen habe ich bereits fertig gedruckt. Und von jener Zeit an bin ich wie besessen. Ich bin in unersättliche Hurerei verfallen, die göttliche Kraft hat mich verlassen, und mir erscheinen in meinen Traumgesichten allerlei Götter, besonders aber Bacchus und Venus . . .«

»In welcher Gestalt?« fragte der Zarewitsch nicht ohne Neugierde.

»Bacchus erinnert an die Gestalt, in der man den Ketzer Martin Luther darstellt: ein Deutscher mit rotem Gesicht und einem Bauche wie ein Bierfaß. Die Venus erschien mir anfangs in Gestalt der Dirne, mit der ich bei meinem Aufenthalt in Amsterdam Unzucht getrieben habe: der Körper ist nackt und weiß wie Schaum, die Lippen rot, die Augen schamlos. Als ich aber später im Vorzimmer der Badestube, wo ich dieses abscheuliche Erlebnis hatte, zu mir kam, verwandelte sich die verdammte Hexe in Akuljka, die leibeigene Magd des Protopopen; sie schimpfte, daß ich sie nicht in Ruhe ließe, während sie badete, schlug mich mit dem nassen Badequast ins Gesicht, lief dann auf den Hof hinaus, sprang in einen Schneehaufen – die Sache spielte im Winter – und war plötzlich als Schnee im Winde verweht.«

»Vielleicht war es aber auch wirklich Akuljka! . . .« sagte lachend der Zarewitsch.

Awramow wollte etwas einwenden, wurde aber plötzlich still.

Wieder erklangen die Stimmen, wieder leuchtete im Dunkeln der rote, blutige Punkt. Der schmale Pfad des Labyrinths brachte wieder Sohn und Vater zusammen; diesmal an einer Stelle, wo ein Ausweichen unmöglich war. Dem Zarewitsch ging wieder der verzweifelte Gedanke durch den Kopf: sich zu verstecken, am Vater vorbeizuschleichen oder sich wie ein Hase in die Büsche zu schlagen. Es war aber zu spät. Peter sah ihn aus der Ferne und rief ihm zu:

»Zoon!«

Zoon heißt auf Holländisch Sohn. So pflegte er ihn nur in seltenen Augenblicken, wenn er besonders gnädig aufgelegt war, zu nennen. Der Zarewitsch war darüber um so mehr erstaunt, als der Vater mit ihm in der letzten Zeit fast gar nicht, weder holländisch noch russisch gesprochen hatte.

Er ging auf den Vater zu, nahm den Hut ab, machte eine tiefe Verbeugung und küßte zuerst den Saum seines Rockes; Peter hatte eine stark abgetragene dunkelgrüne Oberstenuniform des Preobrashenskij-Leibgarderegiments mit roten Aufschlägen und Messingknöpfen an: dann küßte er seine harte, schwielige Hand.

»Ich danke dir, Aljoscha!« sagte Peter; als Alexej diese schon seit langem nicht gehörte Anrede »Aljoscha« hörte, ging ihm ein Zittern durchs Herz. »Ich danke dir für dein Geschenk. Es ist just zur richtigen Zeit gekommen. Mein Eichenholz, das ich aus Kasan flößen ließ, ist im Ladogasee bei einem Sturm verlorengegangen, wenn ich jetzt dein Geschenk nicht hätte, so wäre die neue Fregatte wohl erst im Herbst fertig geworden. Es ist ein ganz ausgezeichnetes Holz, stark wie Eisen. Schon lange habe ich kein so gutes Eichenholz gesehen!«

Der Zarewitsch wußte, daß man seinem Vater keine größere Freude machen konnte, als wenn man ihm gutes Schiffsbauholz schenkte. Er hatte schon seit langem auf seinem Erbgute im Poretzkijschen Kreise der Nishnij-Nowgoroder Provinz ganz im geheimen ein schönes Eichengehölz gehegt, für den Fall, daß er einst das Wohlwollen seines Vaters brauchen sollte. Als er erfahren hatte, daß die Admiralität bald Eichenholz benötigen würde, ließ er das Gehölz fällen und das Holz in Flößen nach der Newa bringen; nun schenkte er es gerade zur rechten Zeit seinem Vater. Das war eine der kleinen schüchternen, manchmal etwas unbeholfenen Aufmerksamkeiten, die er ihm vor Jahren recht oft, doch jetzt immer seltener und seltener erwies. Er betrog sich übrigens nicht: er wußte, daß auch diese Aufmerksamkeit ebenso schnell wie alle früheren vergessen sein und daß der Vater sich an ihm für die flüchtige Freundlichkeit des Augenblicks mit um so größerer Härte rächen würde.

Und doch errötete sein Gesicht vor schamhafter Freude, und sein Herz schlug in einer wahnsinnigen Hoffnung. Er stammelte irgend etwas Zusammenhangloses, beinahe Unverständliches, wie »bin immer froh, wenn ich dem Vater einen Dienst erweisen kann«, und wollte noch einmal seine Hand küssen, Peter ergriff aber seinen Kopf mit beiden Händen. Einen Augenblick lang sah der Zarewitsch das vertraute, schreckliche und liebe Gesicht mit den vollen, wie geschwollenen Wangen, mit dem hochgezwirbelten kleinen Schnurrbart – »wie beim Kater Kotabrys«, sagten die Spötter – mit dem reizenden Lächeln auf den schöngeschwungenen, beinahe weiblich zarten Lippen; er sah seine großen, dunklen, klaren Augen, die so schrecklich und zugleich so lieb waren, daß er einst von ihnen träumte, wie ein verliebter Jüngling von den Augen eines schönen Mädchens; er spürte den ihm von Kind auf vertrauten Geruch – ein Gemisch von starkem Knaster, Schnaps, Schweiß und noch einem anderen gar nicht widerlichen, doch scharfen Kasernengeruch, der immer im Arbeitszimmer – im »Kontor« seines Vaters herrschte; er fühlte auch die ihm ebenfalls von Kind auf bekannte rauhe Berührung des nicht ganz glatt rasierten Kinns mit dem kleinen Grübchen in der Mitte, das sich so merkwürdig, beinahe komisch auf diesem strengen Gesichte ausnahm; es schien ihm, vielleicht war es aber auch nur ein Traum, daß wenn ihn der Vater in seiner Kindheit auf dem Schoße gehalten hatte, er dieses komische Grübchen geküßt und dabei gesagt habe: »Ganz wie bei der Großmutter!«

Peter küßte den Sohn auf die Stirn und sagte in seinem gebrochenen Holländisch:

»Good beware ù!« – »Gott behüte Euch!«

Auch dieses etwas gezierte holländische »Euch« statt »du« erschien dem Zarewitsch ungemein freundlich und bezaubernd.

Er sah und fühlte das alles wie im plötzlichen Lichtscheine eines Wetterleuchtens. Das Wetterleuchten erlosch, und alles war vorüber. Peter entfernte sich von ihm – wie immer krampfhaft mit einer Schulter zuckend, den Kopf in den Nacken geworfen, wie ein Soldat mit dem rechten Arm schlenkernd, in seinem gewohnten Schritt, der so schnell war, daß die Begleiter fast laufen mußten, um nicht zurückzubleiben.

Alexej schlug eine andere Richtung ein, immer auf dem schmalen Pfade des finsteren Labyrinths bleibend. Awramow war noch immer an seiner Seite. Er sprach jetzt vom Archimandriten des Alexander-Newskij-Klosters, dem Beichtvater des Zaren, Feodossij Janowskij, den Peter zum »Administrator der geistlichen Angelegenheiten« ernannt und somit über den ersten Würdenträger der Kirche, den bejahrten Verweser des Patriarchenstuhles Stefan Jaworskij, gesetzt hatte; viele verdächtigten den Archimandriten des »Luthertums« und der geheimen Absicht, die Verehrung der Ikonen und Reliquien, die Fasten, das Mönchtum, das Patriarchat und auch die übrigen Institutionen der griechisch-orthodoxen Kirche abzuschaffen. Andere meinten, daß Feodossij, oder Fedoska, wie man ihn verächtlich nannte, die Absicht habe, selbst Patriarch zu werden.

»Dieser Fedoska ist der reinste Atheist und obendrein ein frecher und unflätiger Mensch,« sagte Awramow. »Er hat sich in die von vieler Arbeit müde, heilige Seele des Monarchen eingeschlichen und ihn verführt; er zerstört nun alle christlichen Überlieferungen und Satzungen und führt ein wollüstiges epikuräisches Leben ein, das eigentlich ein Schweineleben ist. Dieser selbe besessene Erzketzer hat einmal von der wundertätigen Ikone der Kasanschen Muttergottes die Krone weggenommen, hat ›Meßner, gib mir ein Messer her!‹ gerufen und den Draht zerschnitten, den Heiligenschein aus getriebenem Goldblech heruntergerissen und ihn sich ganz frech vor aller Augen in die Tasche gesteckt. Alle, die das sahen, weinten über seine Unflätigkeit. Er, das Gefäß des Satans, sagte sich von Gott los, verschrieb sich den Teufeln und wollte das Bild des Erlösers und das lebenspendende Kreuz wie ein toller Bock zertreten und bespeien . . .«

Der Zarewitsch hörte Awramow gar nicht zu. Er dachte nur an seine Freude und bemühte sich, diese unvernünftige und, wie es ihm jetzt schien, allzu kindische Freude durch Vernunftgründe zu dämpfen. Worauf wartete er? Worauf hoffte er? Auf eine Versöhnung mit dem Vater? War eine solche Versöhnung überhaupt möglich, und strebte er auch nach einer solchen? War nicht zwischen ihm und dem Vater etwas vorgefallen, was nie vergessen und vergeben werden konnte? Er erinnerte sich, wie er eben so feige wie ein Hase vor dem Vater geflüchtet war; er dachte auch an Dokukin, an sein Gebet und seine Anklage gegen Peter und an eine Menge anderer, viel schrecklicherer, unumstößlicher Anklagen. Nicht um ihretwillen allein hatte er sich gegen den Vater empört. Und doch hatten eben ein paar freundliche Worte, ein Lächeln genügt, um sein Herz zu erweichen und es überfließen zu lassen; er war schon bereit, dem Vater zu Füßen zu fallen, alles zu vergessen und zu vergeben, selbst um Vergebung zu flehen, als ob er der Schuldige wäre: und er war bereit, für eine einzige Liebkosung, für ein einziges Lächeln ihm wieder seine Seele hinzugeben. »Ist's denn möglich,« dachte Alexej beinahe entsetzt, »ist's denn möglich, daß ich ihn so liebe?«

Awramow sprach noch immer und summte ihm wie eine unruhige Mücke ins Ohr. Der Zarewitsch hörte seine letzten Worte:

»Als der ehrwürdige Mitrofanij von Woronesh auf dem Dache des Zarenpalastes den Bacchus, die Venus und die anderen Götzenbilder sah, sagte er: ›Solange der Zar nicht den Befehl gibt, diese Götzenbilder, die das Volk ärgern, herabzuwerfen, kann ich sein Haus nicht betreten.‹ Und der Zar ehrte den Bischof und ließ die Götzenbilder entfernen. So war es früher, wer wird aber heute dem Zaren die Wahrheit sagen? Vielleicht der ruchlose Fedoska, der die Ikonen Götzen nennt und die Götzen zu Ikonen erhebt? Wehe, wehe uns! Es ist so weit gekommen, daß er an diesem Tage und zu dieser Stunde, nachdem er das Bild der Muttergottes gestürzt hat, an seiner Stelle die dem Satan wohlgefällige, unzüchtige Ikone der Venus errichtet. Und der Zar, dein Vater . . .«

»Laß mich in Ruhe, Narr!« rief der Zarewitsch plötzlich erzürnt aus. »Laßt mich alle in Ruhe! Was jammert ihr, was kommt ihr alle zu mir? Daß euch alle . . .«

Er gebrauchte ein unflätiges Schimpfwort.

»Was kümmere ich mich um euch? Ich weiß von nichts und will von nichts wissen! Geht doch' mit euren Anklagen zum Vater: er wird entscheiden! . . .«

Sie näherten sich der Steuermannsterrasse an der Fontäne in der Mittelallee. Hier waren viele Leute versammelt. Alle blickten auf den Zarewitsch und seinen Begleiter und spitzten die Ohren.

Awramow erbleichte und schien plötzlich zusammengeschrumpft; er sah auf den Zarewitsch mit irren Blicken, mit den Augen eines im Schlafe erschreckten Kindes, das gleich einen epileptischen Anfall bekommen wird.

Alexej fühlte mit ihm Mitleid.

»Nun, fürchte dich nicht, Petrowitsch,« sagte er mit jenem freundlichen Lächeln, das nicht an das Lächeln des Vaters, sondern an das seines Großvaters, des sanftesten Zaren Alexej Michailowitsch erinnerte. »Fürchte nichts, ich verrate dich nicht! Ich weiß, daß du mich . . . und den Vater liebst. Aber halte in Zukunft deine Zunge im Zaume . . .«

Plötzlich huschte ein dunkler Schatten über sein Gesicht, und er fügte leise hinzu:

»Und wenn du auch recht hast, was kann das nützen? Wer braucht heute die Wahrheit? Man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand rennen. Auf dich . . . und auch auf mich wird doch niemand hören.«

Zwischen den Bäumen leuchteten die ersten Flammen der Illumination auf: bunte Lampions, Talglämpchen und Pyramiden aus Talgkerzen in den Fenstern und zwischen den gedrechselten Säulen der durchbrochenen gedeckten Galerie über der Newa.

Alles war bereits, wie es später im offiziellen Bericht über das Fest hieß, »höchst zeremoniell, mit großem Reichtum geschmückt.«

Die Galerie bestand aus drei schmalen langen Lauben. In der Hauptlaube, die sich in der Mitte befand, war schon unter einer eigens zu diesem Zweck vom französischen Architekten Leblond erbauten Glaskuppel ein Ehrenplatz bereitet – der Marmorsockel für die Venus von Petersburg.


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