Dmitri Mereschkowski
Peter und Alexej
Dmitri Mereschkowski

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VII.

Von den Monstra und den Mißgeburten.

»Da bekanntlich wie unter Menschen so auch unter Tieren und Vögeln manchmal Monstra, d. h. Mißgeburten zur Welt kommen, die man in allen Staaten als Naturwunder sammelt, wurde schon vor mehreren Jahren ein Ukas erlassen, daß man solche Monstra einliefere; die Unwissenden verheimlichen sie aber vor den Behörden, weil sie glauben, daß solche Monstra durch Mithilfe des Satans oder durch Hexerei geboren werden, was aber unmöglich ist, da Gott allein der Schöpfer jeder Kreatur ist, und keineswegs der Teufel, der keinerlei schöpferische Gewalt hat. Solche Mißgeburten entstehen aber durch innere Schädigungen, auch infolge eines Schreckens oder einer Einbildung der Mutter während der Schwangerschaft, wofür es viele Beispiele gibt: ein Ding, vor dem die Mutter erschrickt, erscheint oft als ein Mal auf dem Körper des Kindes. Aus diesem Grunde wird jener Ukas neu bekräftigt, daß alle Mißgeburten von Menschen, wie auch von Vieh, wilden Tieren und Vögeln in jeder Stadt dem Kommandanten abgeliefert werden sollen, wofür folgende Preise zu zahlen sind: für eine menschliche Mißgeburt zehn Rubel, für eine von Vieh oder wilden Tieren fünf Rubel, für eine von Vögeln drei Rubel; diese Preise gelten für die toten Mißgeburten. Für die lebenden sind aber folgende ausgesetzt: für eine vom Menschen hundert Rubel, von Vieh oder wilden Tieren fünfzehn Rubel, von Vögeln sieben Rubel. Für besonders wunderliche Mißgeburten werden noch höhere Preise bezahlt, wer aber diesem Ukas entgegen eine Mißgeburt verheimlicht, soll zur Anzeige gebracht werden. Und der Schuldige wird mit dem zehnfachen Betrag bestraft, den er bei der Einlieferung bekommen hätte, welches Geld dem Angeber ausbezahlt werden soll. Die oben erwähnten Mißgeburten, wie die menschlichen so auch die tierischen, sollen, wenn sie tot sind, in Spiritus gesetzt werden, und falls solcher nicht aufzutreiben ist, in doppelten und im Notfalle auch in einfachen Branntwein, damit sie nicht verderben; und die Gefäße sind fest zu verkorken. Die Kosten für diesen Branntwein werden aus der Apotheke besonders bezahlt werden.«

Peter liebte seinen Zwerg, der ein »hervorragendes Monstrum« war, und bereitete ihm eine prunkvolle Beerdigung.

An der Spitze des Zuges gingen paarweise dreißig Kirchensänger, lauter kleine Knaben. Ihnen folgte im vollen Ornat mit dem Räucherfaß in der Hand der winzigste Pope, den man zu diesem Zweck unter allen Petersburger Geistlichen ausgesucht hatte. Sechs kleine Rappen in schwarzen bis zur Erde reichenden Schabracken zogen den kleinen Kindersarg auf dem winzigen Leichenwagen, der an ein Spielzeug gemahnte. Dann schritten feierlich, von einem winzigen Marschall mit großem Marschallstabe angeführt, zwölf Paar Zwerge in langen, mit weißem Krepp besetzten Trauermänteln und ebenso viele Zwerginnen; sie hielten sich paarweise bei den Händen und waren nach der Größe wie die Orgelpfeifen angeordnet, so daß die kleinsten voran und die größeren hinterhergingen. Es waren darunter bucklige, dickbäuchige, schiefbeinige, verwachsene, säbelbeinige und viele andere mehr schreckliche als komische Mißgeburten. Zu beiden Seiten des Leichenzuges schritten neben den Zwergen riesenhafte Grenadiere und Heiducken des Zaren mit brennenden Fackeln und Beerdigungskerzen in den Händen. Der eine dieser Riesen war mit einem kurzen, vorne offenen Kinderhemdchen bekleidet und wurde von zwei winzigen Zwergen mit weißen Bärten am Gängelbande geführt; ein anderer, der wie ein Säugling in Windeln gewickelt war, lag in einem Wagen, der von sechs zahmen Bären gezogen wurde.

Zuletzt folgte, den Zug beschließend, der Zar mit allen seinen Generälen und Senatoren. In der Uniform eines holländischen Schiffstrommlers ging er den ganzen Weg zu Fuß und schlug mit einer Miene, als ob er ein sehr wichtiges Werk verrichtete, die Trommel.

Der Zug bewegte sich, von einer großen Volksmenge begleitet, durch den Newskij-Prospekt von der Holzbrücke über die Fontanka zur Jamskaja-Vorstadt, wo sich der Friedhof befand. Die Leute schauten aus den Fenstern heraus, kamen aus den Häusern gelaufen, und die Rechtgläubigen wußten in ihrer abergläubischen Angst nicht, ob sie sich bekreuzigen oder ausspucken sollten. Die Ausländer sagten aber: »Einen solchen Aufzug kann man wohl kaum anderswo als in Rußland zu Gesicht bekommen!«

Es war um die fünfte Abendstunde. Die Dämmerung brach schnell an. Es schneite große, nasse Schneeflocken. Zu beiden Seiten des Prospekts schimmerten die schneebedeckten kahlen Linden und Dächer der niedern Häuser. Der Nebel wurde immer dichter. Im trübgelben Nebel, vom trübrotem Scheine der Fackeln beleuchtet, erschien der ganze Zug wie eine Fiebervision, wie ein teuflisches Blendwerk.

Das Volk lief, obwohl es erschrocken war, ohne zurückzubleiben, im Schmutze watend, hinter der Prozession her und erzählte sich flüsternd schreckliche, gleichfalls an Fieberdelirien gemahnende Gerüchte von den Spukerscheinungen, die sich angeblich in Petersburg zeigten.

Neulich hatte der Wächter an der Troiza-Kirche in der Sakristei ein Klopfen gehört, wie wenn dort jemand herumliefe; auch im Glockenturme lief jemand herum, so daß die Stufen der Holztreppe knarrten; als der Küster am Morgen zur Messe läuten wollte, sah er, daß die Strickleiter abgerissen und der Strick, der von den Glocken herabhing, viermal zusammengedreht war.

»Das kann nur der Teufel gemacht haben«, sagten die einen.

»Kein Teufel, sondern eine Drude,« entgegneten die andern.

Ein altes Weib, das an der Ochta mit Heringen handelte, hatte mit eigenen Augen die Drude gesehen, wie sie Garn spann.

»Sie war ganz nackt, mager, schwarz, hatte einen Kopf so klein wie ein Fingerhut; der Körper ist aber von einem Strohhalm nicht zu unterscheiden.«

»War es vielleicht ein Kobold?« fragte jemand.

»Kobolde kommen in den Kirchen nicht vor,« entgegnete man ihm.

»Vielleicht war es einer, der sich verirrt hat? Auch die Kobolde werden zuweilen wie die Kühe und Hunde von einer Seuche befallen, und dann sind sie ganz toll.«

»Das kommt nur im Frühjahr vor: im Frühjahr haben die Kobolde die Mauser, das alte Fell fällt von ihnen ab, und dann sind sie ganz ausgelassen.«

»Ob es ein Kobold, ein Teufel oder eine Drude war, jedenfalls war es ein unsauberer Geist!« stimmten alle überein.

Im trübgelben Nebel, vom trübroten Scheine der Fackeln, vor dem die phantastischen Schatten der Riesen und Zwerge herliefen, beleuchtet, erschien der ganze Zug wie ein Blendwerk, wie ein Petersburger Teufelsspuk.

Man teilte sich noch schrecklichere Gerüchte mit.

In der finnischen Vorstadt hatte sich irgendein Pope, »um einen tollen Streich zu begehen«, ein Ziegenfell mit Hörnern über den Kopf gezogen, das sofort an ihn angewachsen war; in dieser Gestalt sollte er noch in dieser Nacht hingerichtet werden. Der Dragonersohn Swarykin hatte seine Seele dem Teufel verschrieben, der am Litejnyj-Hof in Gestalt eines Deutschen erschienen war; den Pakt hatte er mit seinem Blute unterschrieben. Auf dem Friedhofe im Apothekergarten hatten Diebe ein Grab aufgegraben, den Sarg mit den Schaufeln erbrochen und die Leiche an den Füßen herauszuziehen versucht; doch ehe sie sie ganz herausgezogen hatten, bekamen sie Angst und liefen davon; am Morgen hatte aber jemand die Beine bemerkt, die aus dem Grabe herausragten, und nun kam das Gerücht von der Auferstehung der Toten auf. In der Tataren-Vorstadt hinter dem Kronwerk der Festung war ein Kind mit einem Kuhhorn statt einer Nase zur Welt gekommen und in der Gegend des Steueramtes ein Ferkel mit einem Menschengesicht. »In den Städten, wo solches geboren wird, ist nichts gutes zu erwarten!« Irgendwo war ein Hahn mit fünf Beinen aufgetaucht. Am Ladogasee hatte es Blut geregnet; die Erde hatte dabei gebebt und wie ein Ochs gebrüllt, und am Himmel hatten drei Sonnen gestanden.

»Das bedeutet Unheil!« sagten alle.

»Petersburg wird wüst und leer sein!«

»Nicht nur Petersburg, die ganze Welt geht unter! Es ist der Tag des Jüngsten Gerichts! Der Antichrist naht!«

Unter dem Eindrucke dieser Erzählungen begann in der Menge ein kleiner Knabe, den seine Mutter an der Hand führte, plötzlich vor Angst zu weinen und zu schreien. Eine in Lumpen gekleidete Frau mit wahnsinnigem Gesichtsausdruck, wahrscheinlich eine Besessene begann mit unmenschlicher Stimme zu schreien. Man führte sie eilig fort und versteckte sie auf einem benachbarten Hof. Der Zar machte mit den Besessenen wenig Umstände und trieb aus ihnen den Teufel mit der Knute aus. »Der Schweif der Knute ist länger als der Schweif des Teufels!« pflegte er zu sagen, wenn man ihm über ähnliche »Auswüchse des Aberglaubens« berichtete.

Auch unter den Würdenträgern und Senatoren gab es viele erschrockene Gesichter. Unmittelbar vor Beginn der Prozession hatte Schafirow dem Zaren die soeben mit einem Kurier aus Neapel angelangten Briefe Tolstois und des Zarewitsch überreicht. Der Zar hatte die Briefe unerbrochen in die Tasche gesteckt; er wollte sie wohl nicht vor Zeugen lesen. Schafirow hatte aber zugleich einen kurzen Brief von Tolstoi bekommen und wußte bereits die schreckliche Nachricht, die sich im Nu verbreitete:

»Der Zarewitsch kommt her!«

»Peter Tolstoi, der Judas, hat ihn herausgelockt. Der Zarewitsch ist nicht der erste, den er frißt.«

»Man sagt, der Vater hätte ihm versprochen, ihn mit der Afrossinja zu verheiraten.«

»Zu verheiraten? warum nicht gar! Das fällt ihm gar nicht ein. Die Pest erwartet ihn und keine Heirat!«

»Wenn es aber doch zu einer Hochzeit kommt?«

»Die Hochzeit wird im Ziegensumpfe gefeiert werden, Traualtar und Priester werden der Richtblock und das Richtbeil sein!«

»Dieser Dummkopf! Er stürzt sich selbst ins Verderben!«

»Der Stier wird dem Schlachthaus nicht entgehen!«

»Er wird kaum seinen Kopf behalten!«

»Er legt selbst den Kopf auf den Block!«

»Vielleicht wird er ihn doch noch begnadigen? Er ist ja kein Fremder, sondern sein leiblicher Sohn: auch die Schlange frißt ihre Brut nicht auf. Er wird ihm eine ordentliche Lektion erteilen und ihn nachher begnadigen!«

»Er ist nicht mehr jung genug, um etwas zu lernen. Er ist ja dem Kinderhemd entwachsen.«

»Man belehrte ihn nicht, solange man ihn quer über die Bank legen konnte; aber jetzt, wo er zu lang ist, kann man ihn nicht mehr lehren!«

»Komm zu mir in den Mörser, ich will dich mit dem Stößel streicheln, – das ist die ganze Lehre!«

»Man wird das Kindchen so schön einlullen, daß es keinen Laut von sich gibt!«

»Man wird wohl auch uns solch ein Dampfbad einheizen, daß uns der Himmel nicht größer als ein Schaffell erscheinen wird!«

»Es gibt ein Unglück, Brüder, und man kann ihm nicht entrinnen, selbst wenn man zwei Köpfe hat!«

Und in der Schar der Würdenträger ertönten die gleichen Rufe wie in der Volksmenge:

»Es gibt Unheil! Es gibt Unheil!«

Der Zar watete aber durch den Schmutz und schlug die Trommel. Die Trommelwirbel übertönten den Trauergesang: »Er ruhe unter den Heiligen, gib ihm, Herr, ewige Ruhe! . . .«

Der Nebel wurde immer dichter. Alles löste sich in ihm auf, zerfloß und wurde gespensterhaft; es schien, als ob die ganze Stadt, mit allen ihren Häusern, Straßen und Menschen zugleich mit dem Nebel in die Höhen steigen und wie ein Traum zerrinnen würde.


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