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Wenn der Schläfer erwacht …

Der Himmel lohte. Es war, als stünden der Schläfer und der Schweigsame in Flammen. Schwarze Wolken schossen daher, die Form von Ungeheuern annehmend. Wild rauschte das Meer, und die Wellen wuchsen zu Bergen.

»Das ist das Ende …«, dachte Isolanthis, die vom Haus der lichtlosen Sterne in den Palast zurückkehrte. Ein Krachen ging durch das Becken im obersten Wall, in das aus fernem See das Wasser hochgepumpt zu werden pflegte, und das an und für sich schon eins der Wunder der berühmten Stadt war. Nun schäumten die Wasser über den Tempelhof herüber zum Königsgang, vor dessen Vorhang Tschirito saß. Die künstlichen Sonnen erloschen, das letzte Tageslicht war im Schwinden.

»Du sitzest hier ganz ruhig?« fragte die Erbprinzessin den Wächter, der die Beine hochgezogen hatte und höchst unglücklich aussah.

»Warum soll ich denn stehend sterben, wenn man ebensogut dabei sitzen kann?« erwiderte er zähneklappernd, denn wieder wankte der Erdboden, und eine Feuergarbe stieg aus dem Schläfer himmelwärts.

»Fürchte weder Feuer noch Wasser«, sagte Isolanthis, »sie können das Licht in dir nicht erlöschen.« Sie stand bis zu den Knöcheln im vorbeischießenden Wasser, und der Feuerschein von den Bergen verwandelte es in Blut.

»Das Sterben an und für sich erschreckt mich nicht«, entgegnete Tschirito, die Beine noch höher ziehend, »aber auf einem Ruhelager und in allem Frieden zu sterben, das wäre doch angenehmer; und dann quält mich …«, er hielt inne, denn eine größere Woge schoß donnernd an ihnen vorüber.

»Ist es etwas, wobei ich …?« begann die Erbprinzessin, und der Wächter nickte lebhaft.

»Das Sterben an und für sich macht mir nicht viel aus, denn einmal muß es ja kommen, aber der Gedanke, daß ich in meinen weiteren Leben am Ende ohne Dach über dem Haupt sein werde und arbeiten muß … ich will sagen, so richtig fest anpacken, wie es Sklaven zu tun gezwungen sind, das macht mir das Sterben schwer. Du lachst, o Isolanthis, während wir untergehen, aber du selbst hast mir erzählt, daß unsere Seele bei jeder Wiedergeburt die Ur-Teilchen sammelt, die ungefähr dem früheren Körper entsprechen, insoweit als die neue Rasseform dies gestattet. Ich werde daher im nächsten Sein kaum magerer werden, und da rührt man sich nicht so gern, wie die Leute, deren Knochen nur schwach überzogen sind.« Er seufzte tief auf. »Als mir das Häuschen weggerissen wurde und ich bald da, bald dort Unterkommen mußte, lernte ich Leben und Menschen kennen. Möge mir dieses Wissen ein zweites Mal erspart bleiben …«

»Wenn es weiter nichts ist, o Tschirito«, rief Isolanthis ihm zu, denn das Wasser stieg rasch und sie mußte trachten, die Palaststufen zu erreichen, »so stirb in Frieden! Irgendwo wird es schon einen Vorhang für dich geben …«

»Aber am Ende«, Tschirito rief es ganz ängstlich über die schäumenden Wasser, »bist du dann keine Erbprinzessin und hast keinen geheimen Gang, an dem ich …«

»Ein Dach werde ich wohl auch da haben«, sagte sie mit einem Lächeln, das selbst das Grauen der Zerstörung nicht ganz verwischen konnte, »und da sollst du, wenn du nichts Besseres haben solltest, Unterschlupf finden.«

»Sei gesegnet, o Isolanthis, und mögest du Leben auf Leben immer eine Krone tragen …«

Dann setzte er sich zurück auf die Kiste und erwartete den Tod. Warum hinablaufen zu den andern, die auch sterben mußten, oder hinauf in die Palastgänge, wohin der Tod ebenso gewiß steigen würde? Er würde ihn sitzend empfangen und ruhigen Herzens begleiten. Er hatte die Welt um keine große Tat bereichert, aber er war sich in seiner letzten Stunde auch keines großen Unrechts bewußt.

Nun sah er der Erbprinzessin nach, die rasch die Treppe zum Palast hinaufstieg, und dachte seufzend:

»Ich glaube beinahe, daß ich sie auch geliebt habe, nicht so glühend wie der schöne Pharao und nicht so tief im Verborgenen wie Arototec, aber aufrichtiger wie der Schleicher Tiritec und wohl so treu, wenn auch nicht mit so viel Unruhe, wie Rotorù. Ich habe mich gefreut, wenn ich den Vorhang für sie heben durfte. Mögen die schicksalsbestimmenden Mächte sie wieder …«

Da barst das Becken vollständig, eine Riesenwelle schoß daher, erfaßte den armen Tschirito samt seiner Kiste und riß ihn den Gang hinab bis zum zweiten Wall, warf ihn gegen die Felswand, spielte noch einige Augenblicke mit dem leblosen Körper und schoß weiter, um sich mit den Meereswogen, die stiegen und stiegen, in grausem Tanz zu vereinen.

*

In der Halle der Erkenntnis kam König Ataxikitli seiner Tochter entgegen.

»Hörst du, wie er mich ruft?« fragte er.

»Der Schweigsame?«

»Nein … nein … Haparu, mein Vetter Haparu aus dem Land der dunklen Erde. Sei gesegnet, o Isolanthis! Ich gehe, seinem Rufe gehorchend.«

Sie hielt ihn nicht zurück. Da wie dort wartete der Tod. Durch die dicken Palastmauern drang immer noch das Dröhnen der Felsen, das Zischen erregter Wasser.

Der Blick der Prinzessin streifte die uralte Weisheit an den Wänden. Da stand alles, was eine Seele wissen mußte, um den Weg zu finden. Auch spätere Rassen würden viel Weisheit durch große Lehrer erfahren, aber immer würde die Weisheit von einem einzigen Strahl kommen: Einmal durch Liebe, dann durch Aufopferung, durch Entsagen, durch die Verehrung von Licht oder Feuer, doch so rein, so klar und so weltraumverbunden wohl nur wieder gegen das Ende der Zeiten.

Sie seufzte tief auf. Diese Bilder und Zeichen, diese tiefe Offenbarung, alles Herrliche an diesen Wänden sollte verloren fein, bis es die Menschheit wieder gelernt hatte, im Weltengedächtnis zu lesen. Manche Stätten hoher Entwicklung bedeckte wirbelnder Sand, über andere wuchs der Urwald, manche verfielen bis auf geringe Spuren, doch was hier im Untergehen war, mußte für alle Zeiten verloren bleiben. Bei diesem Gedanken empfand sie tiefes Herzweh.

Im untersten Wall hielt der Tod längst grausige Ernte, nun hörte man die Wogen tosend den zweiten Wall erstürmen. Furchtbar sprach der Schweigsame, und der Schläfer war erwacht …

Einsam auf seinem Turm stand Sembasa, Ihr Herz zog sie zu ihm, aber sie wußte, daß man von unten her nur die Kuppel des Palastes klar erkennen konnte. Mochten die Sterbenden sie sehen und Trost finden in ihrer Ruhe, denn da oben wollte die Erbprinzessin den Tod erwarten, einsam, ganz einsam, wie es ihr vorhergesagt worden war …

Gang auf Gang, Treppe auf Treppe.

Plötzlich stand Roxa vor ihr, das Gesicht tränenüberströmt, mit verkrampften Händen. Nun sank sie ihr schluchzend zu Füßen und zog den Saum des weißen Gewandes an ihre Lippen.

»Herrin … ach … Herrin …«

Sanft strich Isolanthis über das krause Haar der Sklavin.

»Fällt dir das Sterben so schwer?« fragte sie mitleidvoll. »Du weißt ja, daß du nur der Wintersonnenwende und damit dem Frühling, das heißt der Wiedergeburt, entgegengehst. Schlimmer ist der Eintritt in dies Sein als der Austritt. Fasse Mut, meine Getreue!«

»Ach, Herrin, mir macht das Sterben nichts aus. Ich bin eine alte Haut ohne Wert oder Willen, der Staub zu deinen Füßen, dein Besitz. Und möge ich es wieder sein … in den noch ungeborenen Tagen, Ach, ich zittere nur um Colotli. Er ist unten, im Haus des Vergessens. Wenn ich durch alle Pein gehen müßte, die es gibt, wenn ich nur seine Schuld auf mich nehmen dürfte, damit er unbelastet vor den Richtern der Unterwelt stünde, wenn man sein Herz zur Prüfung auf die Waage legt … wie dein Pharao es beschrieben hat«, schluchzte sie.

Isolanthis ließ ihre Hand segnend auf dem Haupt der Sklavin ruhen.

»Fürchte dich nicht«, sprach sie weich, sich über die Weinende neigend, »sei überzeugt: Wenn die Richter das Herz Colotlis auf die Waage legen, wird deine Liebe als Tau auf diese Blüte deines Ichs fallen und die Schale deines Sohnes zu seinen Gunsten neigen …«

»Glaubst du es wirklich?« fragte Roxa, beglückt aufschauend, »da will ich getrost sterben …« Ihre Lippen zuckten. »Leb wohl, o Herrin. Von der Freitreppe aus sieht man …«, sie wandte das Gesicht ab und stieg weinend nach unten.

Von da aus sah man den letzten Turm vom Haus des Genusses, wo den Skorpion sein Schicksal ereilt hatte.

Ihn und den Dichter Tiritec.

*

Nun trat Isolanthis nach kurzem Erschauern hinaus auf den Rundgang, der um die Riesenkuppel lief. Sie fühlte die Vorhersagung wahr werden, denn die Nacht zerrte an ihrem Gewande, und der Wind riß an ihrem Haar, löste die Flechten, trieb damit sein wildes Spiel; nur der schwere Goldreif, den sie so lange als Last empfunden, hielt noch das Stirntuch mit den Sinnbildern der Wellenlinie und des heiligen Dreizacks. Schwarze Wolken jagten über den Himmel, immer rasender tobte die Springflut, laut krachten die Felsen, furchtbar wankte der Boden, und durch das Sausen des Windes erklang das Wehgeschrei der Sterbenden. Wie Lampen, in denen langsam das Öl schwindet, erloschen der Schläfer und der Schweigsame, und nur die Erde bebte und der Sturm sang.

Im nahen Turm des Sonnenaufgangs wachte wohl der Weise. Eine Welle tiefer Dankbarkeit flutete ihm zu. Er war ihr Führer auf dem Sternenweg.

Einmal war es ihr, als schimmere etwas Helles auf dem Turm im Haus der lichtlosen Sterne, aber die Finsternis steigender Wogen breitete sich rasch darüber.

Schwarze Wolken wie Ungeheuer, vom Sturm gepeitscht, und dennoch zuzeiten einen einzelnen Stern durchfunkeln lassend. Unter ihr Tod und Verderben, neben ihr Einsamkeit und Grauen, doch über ihr klar und wegeweisend die Sterne …

Nun war er längst in seinem lichten Land, der junge König, der bereit gewesen war, sie in das Strahlenkleid seiner wärmenden Liebe zu hüllen, und den sie gerettet hatte.

Er liebte sie.

Und plötzlich erinnerte sie sich, daß es zwischen Seelen diese unzerstörbare Brücke gab, an der Raum und Zeit zerschellten.

Wenn der Kreislauf des Seins sie wieder ins Stoffliche zwang, würde Ramon Phtha mit all seinem Ungestüm über diese Brücke zu ihr eilen, daher war sie bereit, so ruhig einzuschlafen wie ein Kind, das weiß, es werde beim Erwachen den Raum voll Sonne finden.

Ihre Augen suchten und fanden den aufleuchtenden Stern.

Da fühlte sie, wie der Palast ganz langsam sank, dann schlugen die Wasser über ihr zusammen, und die Stadt der goldenen Tore, das Wunder der fließenden Wasser, war nicht mehr …


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