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Die Lücke in der Mauer

Die Berge waren fremd, und die Häuser waren fremd, und die Mondblumen hatten das Süßherbe ihres Duftes eingebüßt – so sehr wird die ganze Natur zum Spiegel der eigenen Seele. Das Treiben der Menschen jenseits der Mauer glitt vorüber wie ein Strom, rauschte in die Nacht, flutete in den Tag, warf Wellen und bildete Wirbel, doch sein eigenes Sein staute sich vor dem Damm einer verschwiegenen Tat. Es wurde zu totem Wasser, das in die Tiefen wühlt …

Diese Zeit der Einkehr schnitt in Ataxikitlis Antlitz die unverwischbaren Runen des Leids.

Da indessen nicht einmal das Zeitlose vollen Stillstand bedingt, riß die lautbrandende Gegenwart auch ihn zurück in den Strom, in dem alle schwimmen müssen, die noch stoffliche Verkleidung tragen.

Kaburos Anhänglichkeit hatte ein Licht in Ataxikitli angesteckt, das ihn – so klein es auch war – vor dem Sturz ins Dunkel bewahrt hatte; doch den Stoß in die Furchen des Alltags mit seinen Gewohnheiten zurück verdankte er Arototec, seinem verhaßten Widersacher.

Es war dem Erfinder im Haus der Künste und Wissenschaften geglückt, gewisse, nur durch wenige Arten von Erzen laufende Erdströmungen einzufangen und als Hebel zu benutzen, hoffend, auf diese Weise in Zukunft noch ungeheurere Felsblöcke, schon behauen und mit allen gewünschten Zeichen verziert, Übereinandertürmen zu können, ohne daß etwas am Steingefüge verletzt würde. Diese Erfindung sollte es den Poseidoniern ermöglichen, berghohe Pyramiden zu sternkundlichen Forschungen zu errichten. Von der Kuppel solcher Pyramiden aus hoffte er besser als bisher durch Umstellung der herrschenden Luftschwingungen zu Zeiten der Dürre Regen zu erzeugen oder zu starke Güsse in Erntetagen abzuwenden. Die neue Hebekraft, deren Ursprung und Zahl der Schwingungen er auf der Spur zu sein glaubte, würde ihm viele Menschenhände und viel Zeitvergeudung ersparen und ihm eine Unterlage zu weiteren Entdeckungen und Erfindungen schaffen. Um seine Versuche unbehinderter ausführen zu können, arbeitete er nicht daheim, sondern im großen Hof des Heims der Wissenschaften, in Gegenwart der Fortgeschrittensten seiner Schüler. Zweimal waren verhältnismäßig kleine Blöcke gehoben worden, da versagte etwas und ein gewaltiger Block stürzte – nachdem er schon hoch über dem Erdboden geschwebt hatte – mit donnerähnlichem Geräusch nieder und zerbarst. Alle umliegenden Bauten erbebten in ihren Grundfesten, und ein größeres Felsstück krachte durch die Verbindungsmauer in Ataxikitlis Garten. Der angerichtete Schaden zerstäubte das finstere Grübeln des Einsamen und warf ihn wutzitternd in eine Welt der Tat zurück.

Arototec war sofort durch die Lücke geklettert und besah sich die Verwüstung. Ataxikitli eilte auf ihn zu.

»Ist es nötig, daß die Stadt in ihren Grundfesten erschüttert wird, weil deine Gedanken friedlos umtreiben wie verdrießliche Einzelgängerelefanten, denen der eigene Rüssel oft im Weg ist?« fragte er zornbebend.

»Beruhige dich«, erwiderte der Getadelte mit aufreizender Gelassenheit, »noch hat kein Wandelstern seine Monde verloren, weil deiner Gartenmauer ein Löchlein geschlagen wurde. Meine Sklaven werden den Schaden im Nu wieder gutmachen und für deine beschädigten Sträucher schicke ich dir reichen Ersatz aus meiner Versuchsschule.«

»Ich bedarf keiner Blumen, die Wechselbälge geworden sind«, rief Ataxikitli unwillig. »Du verwandelst alles: Pflanzen, Tiere und Menschen in Mißgeburten. Deine neuen weißen Tiere haben Hälse wie Krughenkel, Ohren wie Poseidons Dreizack und Schwänze wie Grasbüschel …«

Arototec lächelte nur matt belustigt.

»Dennoch sind sie sicherfußiger als Kamele auf schlechten Bergpfaden, hübscher im Aussehen und nicht so eigensinnig im Gemüt, geben bessere Wolle als Ziegen und sind anspruchsloser im Futter, kurz, sie verbinden die Vorteile und zeigen vermindert die Nachteile beider Tierarten.«

»Du willst alles umgestalten«, brummte Ataxikitli unüberzeugt. »Wie es dir eben beliebte, meine Gartenmauer mit deinen wahnsinnigen Versuchen zwecklos zu zertrümmern, so zertrümmerst du Altes in Brauch und Sitte, obschon darin die Wurzel eines Volkes liegt, denn was ist ein Volk als Unterscheidungsbegriff von anderen Völkern? Nichts als die Summe feiner Taten, Überlieferungen, Vorbilder und Höchstbestrebungen?«

»Taten entspringen immer der Bedrängnis der Gegenwart, dem mächtigen Strom des Unmittelbaren, und erst aus glücklich vollbrachten Taten werden Überlieferungen. Man erreicht nichts Neues mit fruchtlosem Rückspähen. Es ist gerade dieses kühne Mit-den-Gedanken-in-die-Zukunft-greifen, womit das geschaffen wird, was man als Fortschritt und Entwicklung bezeichnet.«

»Ein Baum …«

»… beschaut auch nicht seine Wurzel. Er richtet seines Wachstums Augenmerk auf Blüte und Frucht. Die Wurzel ist; Zweck alles Wachsens liegt im Werden und im Fruchten.«

Ataxikitli schwieg. Endlich sagte er seufzend:

»Du möchtest dem Raum und der Zeit gebieten …«, er hielt zögernd inne, halb hoffend, daß der Forscher etwas von seinen Plänen verraten würde, doch Arototec lächelte nur ein sehr frostiges, unendlich überlegenes Lächeln und entgegnete kalt:

»Raum und Zeit sind an das Stoffliche gebunden; sie deuten eine Begrenzung an. Der Geist jedoch ist unbegrenzt …«

»Auch ihm sind Grenzen gezogen«, warf Ataxikitli ein, sich an die schaurigen Vorgänge in der Höhle der dunklen Mächte erinnernd.

»Weitverlaufende …« Es klang versonnen und der harte Blick der glanzlosen Augen schweifte in ungeahnte Fernen. »Sie enden … wo der Wille endet …«

»Sie zu überschreiten ist Vermessenheit …«

»… für den, der furchtgeblendet in der Enge seiner selbstgeschaffenen Welt dahindöst …«

»Deine Welt«, entgegnete Ataxikitli voll Bitterkeit, »ist die Welt der lichtlosen Sterne …«

»Das Reich der erloschenen Sterne oder das, in dem das Licht noch nicht aufgegangen«, sagte Arototec unberührt und schritt langsam der Lücke in der Mauer zu. »Du aber …«, und plötzlich bohrte sich sein Blick zwingend in den Ataxikitlis, »vermagst nur anderen Sternen ihr Licht zu nehmen. Vermagst du auch«, es klang sehr streng, »in dem was nicht mehr oder noch nicht ist, ein Licht zu entfachen?!«

Ehe sich der Gefragte von seinem Erstaunen erholt hatte, war der Forscher ins Haus der Wissenschaften zurückgekehrt.

Was bedeuteten seine Worte? Wußte er? Oder las er die Gedanken eines Menschen, wie man Inschriften von Tafeln abliest?

Sehr beunruhigt zog Ataxikitli sich in das innerste Gemach zurück. Kaburo hielt sich in seiner Nähe auf, denn ihm graute vor dem Alleinsein.

Es war ihm da immer, als taste sich jemand der Mauer entlang bis dicht an ihn heran.

Jemand, der nicht mehr war …


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