Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Ende des bunten Teppichs

Seit jenem Morgen, an dem Isolanthis nach dem Verbleiben des bunten Teppichs gefragt hatte, mieden sich Vater und Tochter. Auch zwischen ihnen stand trennend der Schatten Haparus. Roxa trug die einfachen Speisen mütterlich sorgend hinter ihrer Herrin her und Kaburo versorgte seinen Gebieter. Abends, wenn alle längst schliefen und die getreue Sklavin zufällig erwachte, glaubte sie aus dem Gemach ihrer Herrin unterdrücktes Weinen zu vernehmen, doch wenn sie den Vorhang zurückschob, lag Isolanthis ruhig da, ihr Haar fiel als Schleier über das der Wand zugekehrte Gesicht. Warum sollte das junge Mädchen auch weinen, da sie der Liebe, die allein Kummer heraufbeschwor, aus dem Wege ging, überlegte Roxa, und wenn nicht von der anscheinend Schlafenden, woher das seltsame Weinen? Lange verweilte die Sklavin indessen nicht, in solches Grübeln versunken, denn Colotli hielt sie in Atem und beschäftigte ihr bekümmertes Mutterherz. Wenn sie mit Kaburo über den Schatten sprechen wollte, der so unerklärlich verdüsternd auf allem lag, fand sie nur Ablehnung.

»Wenn alte Weiber tatenlos sind, sehen sie ihre eigenen Gedanken in Gespensterform auf sich zuschreiten«, hatte er ihr zugerufen, als sie ihm von den merkwürdigen Käfern im Turmgemach erzählt hatte, und seither ging sie stets erhobenen Hauptes an ihm vorüber. Als ob man sie jemals unbeschäftigt fände?

Die Tage flossen unaufhaltsam ins Gewesene.

Ihrem Versprechen getreu, hatte Isolanthis die schüchterne Moani hinaus in die Höhle der müden Herzen geführt. Als sie durch den rasch sinkenden Abend heimschritten, vernahmen sie noch jenseits des dritten Walls zwei Knaben, die sich an den Händen hielten, den uralten Vers singen, der eine Vorhersagung sein sollte, und den die beiden Mädchen als Kinder selbst gesungen hatten. Dennoch lauschte Isolanthis nun mit befremdendem Herzweh den bekannten Worten, als entstiege ihnen neue Bedeutung:

»Wenn ein König kommt aus dunklem Land,
wenn die Krone liegt in Frauenhand,
dann hütet vor Übel Herz und Mund!
da naht eures Landes letzte Stund' …«

Eine mit Furcht gemischte Schwermut bemächtigte sich ihrer und machte jeden Schritt zur Anstrengung.

»Bist du müde, o Isolanthis?« erkundigte sich zärtlich die erschrockene Moani, denn das Gesicht ihrer Begleiterin war von erstaunlicher Blässe. »War der Weg zu weit oder verweilten wir zu lange in den Bergen?«

»Es geht gleich vorüber«, bemühte sich Isolanthis ruhig zu beteuern, »ich weiß selbst nicht, was so unvermittelt über mich hereinbrach. Als ich die Knaben singen hörte, glaubte ich das Dröhnen von Felsen und das Stürzen von Wassern zu hören, und eine unendliche Trauer befiel mich. Nun aber«, und sie zwang ihre bleichen Lippen zu einem Lächeln, »fühle ich mich wieder wohl.«

»Komm und ruhe ein Weilchen im Schatten unserer Bäume«, bat Moani, als sie, schon im ersten Dämmern, den dritten Wall betraten, in dessen Nähe das kleine Elternhaus des lieblichen Menschknöspleins lag, an dessen zarten Schultern noch die bläulichen Flügel zu flattern schienen, und aus dessen strahlenden Augen noch das Glücksahnen der ersten Jugend unverdunkelt brach.

Schon wollte Isolanthis, die sich recht erschöpft fühlte und der es vor der Heimkehr ins Haus der weißen Blumen graute, der Einladung folgen, als ihr wie auch Moani das veränderte Aussehen der Stadt auffiel. Von allen Kuppeln und Türmen flatterten lange weiße Tücher – das Zeichen der Trauer – und von Palast und Tempel wogte ein weißes Flaggenmeer.

»König Naxitli ist tot …«, sagte Moani still.

Isolanthis aber war es, als griffe eine eisige Hand nach ihrem Herzen.

»Ich muß heimeilen«, kam es tonlos, »mein Vater bedarf meiner.«

Moanis Dank traf nicht mehr ihr Ohr. Sie lief den Berg hinan und wußte selbst nicht, warum sie so hastete.

Sie drängte die anstürmenden Gedanken zurück und hielt nur einen einzigen fest:

Naxitli der Getreue war tot.

*

Als sie das Haus der weißen Blumen betrat, schlug ihr ein eigentümliches Gemisch von Gerüchen entgegen – Verwesungshauch, brennende Wolle, Moder und Feuchtigkeit, erstickender Qualm – und warf sie beinahe zurück. Was ging hier vor?

Sie rief, doch niemand antwortete. Roxa mußte das Haus verlassen haben, denn das einfache Tuch, das sie über das Haupt zu werfen pflegte, lag nirgends, und Kaburo, der sich sehr selten entfernte, war ebenfalls nicht zu finden.

Und wo war ihr Vater?

Alle Räume schienen ausgestorben, und dennoch durchzog der Qualm das ganze Haus. Isolanthis stieg die Treppe hinauf und nahm mit wachsender Sorge wahr, daß der Rauch aus dem Turmgemach zu dringen schien, und als sie den Vorhang zurückwarf, zeigte sich ihr ein Bild, das sie schreckensstarr auf der Schwelle festhielt, denn was da rauchte und qualmte, war – der vermißte bunte Teppich aus Akozetatl.

»Vater … was tust du?«

Ein Schrei des Entsetzens war's.

Ataxikitli ließ das Ende des feuchten Tuches auf die Flammen sinken und schaute Isolanthis verzweifelt an.

»Ich habe ihn nicht erschlagen … es war … ein Zufall … er besuchte mich mitten in der Nacht … aus dem Haus des Genusses … trunken … und … stürzte. Ich mußte …«, stotterte er kaum hörbar, »die letzte Spur … vertilgen … damit … Thronratgeber …« Die Stimme brach.

Nur mit Mühe erriet Isolanthis die Zusammenhänge.

»Wer … war es?« flüsterte sie trostlos.

»Haparu … aus Kem-kem. Niemand weiß …«

»Der Vater Asenaths …«

»Wenn ich die Krone trage, werde ich …«, begann er eifriger als er bisher gesprochen, die Flamme neuerdings anfachend.

Da wurde in Isolanthis alles klar und still.

»Nie darfst du die Krone tragen, Vater«, erklärte sie entschlossen, »denn ob Zufall, ob … mehr«, sie wandte das Haupt ab, »immer bleibt die Tatsache bestehen, daß Haparu in deinem Hause starb und du ihn … daß du seine Leiche … verschwinden ließest.« Sie machte eine tieftraurige Gebärde. »Diese eine Tatsache ist nicht zu ändern. Auf dir liegt ein Schatten. Die Last deines Geheimnisses mußt du tragen, doch nie die der Krone. Das ist deine Sühne.«

»Sie sind alle tot, bis auf Etelku, und er ist Priester. Ich werde alles, alles sühnen, wenn ich erst … Herrscher bin. Kein Mensch ahnt, was hier geschehen ist … und sieh! Die Spuren«, seine Stimme zitterte, als er auf ein Gefäß zeigte, in das er die Knochenreste der verkohlten Leiche gesammelt hatte, »sind verwischt. Es fehlen alle Beweise …«

»Dein Tun steht im Weltengedächtnis für alle zu sehen, für alle zu lesen, die so weit entwickelt sind …«

Ataxikitli versuchte die einzelnen Tuchstücke zum Verbrennen zu bringen. Die Nacht kroch in das rauchgeschwärzte Gemach, und aus der Lücke, die noch nicht geschlossen war, stiegen Käfer.

»So Großes habe ich geplant«, sprach er tonlos vor sich hin, »seit Jahren diesen Augenblick herbeigesehnt, und nun …«

»Mußt du verzichten«, sagte sie weich. »Wenn du nicht hier leben willst, können wir nach Aere ziehen oder unter Tehuan leben. Auch das Mondreich hat seinen Zauber.«

»Und unsere Sippe, o Isolanthis?«

Seit Jahrtausenden, nicht nur seit Jahrhunderten, waren aus seinem Stamme die Herrscher des Landes erwählt worden. Reich an Überlieferungen, reich an aufgezeichneten Heldentaten, reich vor allem an Weisheit war dieses uralte Geschlecht, das in seinen Adern rein erhalten war: Blut vom Urblute. Daminophis …

Vater und Tochter wußten in diesem schicksalsschweren Augenblick, daß auch der begabte junge Künstler, der Stolz von Poseidonis, nicht so stark mit der Sippe verbunden war, und beide seufzten.

»Die Thronratgeber werden den Künstler, der seinem Lande mehr durch sein Können nützen kann als durch das Tragen einer Krone, deren Last ihn erdrücken würde, gewiß zurückweisen und dann … bleibt niemand. Hast du daran gedacht, Tochter?«

Sie nickte.

Die Flammen schlugen heller um das alte morsche Gewebe, als ob sie sich endlich entschlossen hätten, alle Spur des Geschehenen und Unabänderlichen zu verwischen, und in das Knistern hinein sprach das junge Mädchen mit leidvollem Klang:

»So muß Etelku auf sein Priestertum verzichten oder Amenavit zurückberufen werden …«

Da rief eine harte Stimme hinter ihnen:

»Ataxikitli selbst muß die Krone tragen! Er ist der letzte Sproß aus dem alten Erbgeschlecht, und alle sieben Leben hat das Schicksal von seinem Pfad entfernt, um ihm seinen Wunsch zu erfüllen.«

»Arototec!« Vater und Tochter riefen es.

»Ja. Ich weiß alles.« Er sah sich prüfend um und zog eine kleine Lampe aus dem Gürtel. »Verbirg nichts!« sagte er spöttisch, als Ataxikitli nach dem Gefäß griff. »Um der Krone willen werde ich selbst jede Spur deiner Tat verwischen.« Er bemächtigte sich des Kruges. »Und du …«

»Nie darf er, der ein Geheimnis solcher Schwere in sich trägt, die heilige zehnzackige Krone tragen!« unterbrach ihn Isolanthis. Hochaufgerichtet stand sie vor ihm.

»Er soll sie auch nicht tragen … er muß sie nur scheinbar tragen, denn das ist seine Strafe. Vor aller Welt gekrönt werden und dennoch macht- und kronenlos sein!« erklärte Arototec finster.

»Lieber will ich sterben, lieber will ich in Verbannung leben, als die Macht in deinen Händen wissen, o Arototec«, rief Ataxikitli, und etwas von seiner früheren Kraft und Würde brach durch.

»Gib die Krone Daminophis!« bat Isolanthis.

Arototec schüttelte das Haupt.

»Nur Starke dürfen eine Krone tragen …«, erwiderte er seltsam bewegt.

»Auch mein Vater ist schwach«, und das junge Mädchen seufzte bitterlich.

»Daher werden durch ihn andere herrschen …«

»Nie du – du Herr der lichtlosen Sterne, den das Volk fürchtet!« rief finster Ataxikitli.

»Nur wir drei wissen um das Vorgefallene«, fuhr Arototec fort, als ob kein Einwand erfolgt wäre, »und wir werden schweigen. Ich werde«, und nun wurde die Stimme von schneidender Kälte, »aus deinem Erinnern Tat und Wort löschen. Deine Lippen werden nie wieder den Namen des Toten zu nennen vermögen, dein Gehirn wird nie wieder sein Bild heraufzaubern, nur das Gefühl seines Schattens wirst du behalten bis an das Ende deiner Tage, bis an die Pforte des nächsten Seins!«

»Sinnbild des Höchsten und des Reinsten ist die Krone –«, klagte Isolanthis, »zwing' sie ihm nicht auf! Besser ist ewige Verbannung als solche Schuld.«

»Er wird die Krone nur als Sinnbild tragen … vor der Welt«, zum erstenmal kam ein Zögern in den harten Tonfall, »In Wirklichkeit

»Suchst du nach willigem Werkzeug? Wird deine Hand …« begann Ataxikitli, doch seine Kräfte waren im Schwinden. Der Umsturz in seinen Verhältnissen, die Freude, der Schrecken, die Augen des Tieres, das Herausnehmen und Verbrennen der Leiche, das ihn umschwärmende Gewürm, das Hoffen und Bangen und nun Arototecs machtvolle Gegenwart verwandelten ihn plötzlich in einen Greis, dessen Geist gefährdet war. Hilflos sank er zu Boden und starrte trübsinnig vor sich hin.

»Warum … brichst du ihn?« fragte Isolanthis tonlos, während sie Ataxikitli behilflich war, den Rücken an die kalte Mauer zu lehnen.

»Ich bringe ihm … Wunscherfüllung. Er soll die Krone tragen: die schönste und die mächtigste der Welt …«

»… und auch die schwerste. Er ist ihr nicht gewachsen … nicht mehr …«

»Noch eignet er sich zur Thronpuppe, zum Sinnbild unserer Macht.«

»Ach, unserer Macht!« rief sie bitter. »Du vergißt das Wohl von sechzig Millionen Menschen und die Verantwortung, die auf ihm ruht, der die Krone trägt«, flüsterte sie, denn sie wagte nicht, zu laut zu sprechen, um ihren Vater nicht noch mehr zu erschüttern.

»Du weißt, daß auch mir das Wohl und die Größe unseres Reiches am Herzen liegen«, erwiderte er. »Ataxikitli wird mich morgen zum ersten Thronratgeber ernennen …«

»Wenn du ihm die Krone aufzwingst, die er nicht tragen soll, so werde ich dich bekämpfen«, rief Isolanthis, alle Schwäche und allen Kummer zurückdrängend, »denn in meinen Adern rollt ebenfalls das reine Blut unserer uralten Sippe, und als Erbprinzessin …«

»Aus diesem Grunde erwähle ich ihn zum Könige«, unterbrach Arototec sie ruhig, »denn nur da liegt die Krone von Atlantis in deiner Hand. Er ist … der Schatten. Du bist die Verkörperung. Du wirst herrschen …«

Sie wankte zurück, lehnte gegen die Mauer, schloß die Augen, doch selbst in diesem Augenblick tiefster Erschütterung murmelte sie:

»Ich habe dich immer bewundert, aber ich werde nie dein Werkzeug sein, nie!«

»Aus diesem Grunde sollst du die Krone tragen«, erklärte er sehr ruhig. »Zu deines Volkes Bestem. In manchen Dingen werde ich entscheiden, doch soll das letzte Wort dein Wort sein. Du bist klug und furchtlos.«

Sie murmelte etwas von der erdrückenden Wucht solcher Verantwortung, riet ihm, Etelku zu zwingen oder Daminophis zu wählen.

»Scheust du vor einer Pflicht zurück, weil sie schwer ist?« Staunen lag in seiner Stimme. »Dein Vater«, er machte eine wegwerfende Handbewegung, »ist Schatten geworden, und die beiden anderen würden in der Tat meine willenlosen Werkzeuge sein. Ohne dich wird das ganze Reich« – er legte Nachdruck auf die Worte – »zum Reich der lichtlosen Sterne werden. Das einzige Licht, das leuchten kann und muß, bist du!«

Sie richtete sich langsam auf.

»Geh zum Weisen in den Turm des Sonnenaufgangs und frage ihn um Rat. Er wird dir bestätigen, was ich gesagt habe: Das Wohl deines Volkes liegt künftighin in deiner Hand!«

Er trat auf Ataxikitli zu, strich ihm mehrmals mit der Hand über die Stirn und befahl streng:

»Du mußt vergessen, du hast vergessen! Von heute ab bin ich deine Hand, deine Zunge, die Quelle deiner Entschlüsse. Du sprichst, wenn ich es will, du schweigst, sobald ich es gebiete! Nie steigt der Name des Toten wieder an deine Bewußtseinsoberfläche …«

Isolanthis stand stumm daneben und mußte es geschehen lassen.

Auf hinsterbender Glut verkohlten die letzten Teppichreste.


 << zurück weiter >>