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Das Zeitbuch von Poseidonis

Der Sprühregen aus dem Wasserspeier rieselte an Ataxikitlis hellgelber Haut in feinen Perlenschnüren nieder und brachte Kühlung, wenn nicht Vergessen, denn manche Gedanken sind wie Schlangengift, sie teilen sich dem Blute mit und lähmen alle Tatkraft.

Der treue alte Sklave Kaburo kauerte am Beckenrand und hielt ihm stumm das weiße Tuch aus Llamawolle entgegen. Die gelbe Schwefelwolke über dem Schläfer und dem Schweigsamen, den beiden Feuerbergen unweit der Stadt der goldenen Tore, wurde blutrot im Abendschein, und das Blaugrün der Schlinggewächse an der Umfriedungsmauer verwandelte sich in sattes Tiefblau. Der schwere Duft der Mondblumen und der Becherblüten erfüllte die Brust des Badenden mit unerklärlichem Sehnen. Es war ihm, als stünde er nackt auf der kühlen Handfläche des Schicksals, einer Entscheidung gewärtig. Oder prüfend gewogen und vor eine Wahl gestellt.

Der Sklave, der ihm voran in das einsame Haus gelaufen war, brachte gedünstete Wasserrüben und einen Zinnkrug voll Gerstenbiers. Er überschüttete die Hände seines Gebieters mit lauem Wasser, dem einige Tropfen harzigen Öls beigemengt waren, und beeilte sich, aus dem Nebengemach das mit sinntiefen Verzierungen versehene Zeitbuch herbeizuschleppen, das aus vielen, zum Teil reich bemalten Ledertafeln zusammengesetzt und das Ataxikitlis größter und wohl auch einziger Schatz war.

Der mächtige Band nahm den Großteil des breiten Tisches ein, und sich darüberbeugend, winkte Ataxikitli dem Sklaven, sich zu entfernen. Einer jähen Eingebung gehorchend, rief er ihm nach:

»Im Tal unten, vor den Pyramiden, gibt es Spiel und Tanz zu Ehren der Gäste aus Aere. Geh hinab, wenn du Lust hast.«

Der Sklave zögerte, schien etwas erwidern zu wollen, wagte es nicht und entfernte sich durch das dunkle Tor, das wie ein finster geschlossenes Auge wirkte, weil es nicht, wie alle anderen Eingänge, von einer der strahlenden rotgelben Sonnen – einer Erfindung Arototecs – erhellt wurde.

Ataxikitli strich mit beinahe zärtlicher Gebärde über das prachtvolle Werk, das ein einzelner Mensch kaum zu heben vermochte und das mit den Sinnbildern der gefiederten Schlange, des heiligen Dreizacks, der Wellenlinie, der offenen und der geschlossenen Muschel, der sieben Vögel, des Lebensbaumes und so weiter geschmückt, die Geschichte des Landes von Urzeiten an enthielt, doch nicht immer in zusammenhängender Form, sondern aus unzähligen, oft bruchweisen Abschriften alter Steintafeln zusammengesetzt, denen, ebenso zierlich ausgeführt, viele halbvergessene Überlieferungen, nur noch im Volksmund weiterlebend, alte Sprüchlein, merkwürdige Vorhersagungen und allerlei Aufzeichnungen über die Taten längst verstorbener Helden beigefügt waren. Jedes Blatt dieses kostbaren Zeitbuches war eine dünne Ledertafel, in die mit scharfem Stift die gewundenen Schriftzeichen eingeritzt worden waren. Die Anfangsworte, ja oft ganze Zeilen, waren reich bemalt, und zwar entsprach die Farbe immer genau dem Inhalt: Geistiges, den Glauben und die alte Weisheit betreffend, war in Grün gehalten. Seelisches blau, Heldentaten rot, wärmendes Wissen lichtviolett und düstere Vorhersagungen in dunkelviolettem Ton, so daß man schon an der Farbe die Art des Inhalts zu erkennen vermochte. Seine einzige Tochter Isolanthis hatte mehr als drei Jahre an diesem Buch gearbeitet, hatte alles niedergeschrieben, was im Haus der Wissenschaften auf alten Tafeln stand, und hatte alles zu erlangen versucht, was im Volksmund an Liedern, Sprüchen und Andeutungen auf zukünftige Ereignisse noch nicht verlorengegangen war. Sein Neffe im dritten Grad, der junge und schon sehr gepriesene Künstler Daminophis, hatte die schönsten Verzierungen zum Werk geliefert und ihm den Einband geschenkt, der an und für sich schon hohen Wert hatte. Selbst der König besaß kein derartig ausführliches Buch. Das war dem einsamen Manne heute ein Trost.

Wieder flogen seine Gedanken zum müden welken Greis zurück, der nun als bewunderte Thronpuppe im strahlenden Glanz des hohen Saales die fremden Gäste empfing, doch der nichts als der matte Widerschein seines früheren Ichs war, umdunkelt von seinen hundertundzwanzig Erdenjahren. Mochte die Halle des Entzückens vom blendenden Licht vieler Sonnen erhellt sein – das wärmende Feuer in den Adern des Königs war im Erlöschen wie jenes im Schläfer, über dessen erkaltendem Haupte die Schwefelwolke aus dem Schweigsamen oft regungslos wie ausgetürmter Goldstaub lag.

Um seinen Geist von fruchtlosen Bitterkeiten abzulenken, beugte sich Ataxikitli über das Werk, das nahezu die ganze große Tischplatte einnahm und nur geringen Raum für Krug und Schale ließ, und begann langsam zu lesen:

»Merket euch, die ihr den Weg geht: Jeder Fortschritt ist nur durch Opfer möglich.«

Ob er am Ende Arototec falsch beurteilt hatte? Mußte immer Altes vergehen, um Neues entstehen zu lassen?

Wieder hob er Tafel um Tafel, las flüchtig und seltsam zerstreut diese oder jene Stelle.

»Sie (die Seelen) stiegen durch das nördliche oder Menschtor zur Erde nieder und kehren endlich durch das südliche, die Götterpforte, erlöst vom Zwange der Wiedergeburten, zurück.«

»Ja, unser Weg geht von Krebs zu Steinbock …« murmelte der Lesende und blätterte weiter.

Allmählich gelangte er zur Beschreibung der Weltzeitalter und folgte mühsam den verworrenen Zeichen mit dem Finger, denn dieser Teil war nicht im landesüblichen Toltec geschrieben, sondern teils in der toten Tlavitlisprache und teils im ebenfalls nicht mehr gebräuchlichen Rmoahal, das als beste Sprache für heilige Dinge gewertet wurde, das ihm jedoch nicht sehr geläufig war.

»Mutternacht … der Erde … Frühlingspunkt im Steinbock … Wintersonnenwende in der Waage …«

Ataxikitli seufzte und sann nach. Das waren die Jahrtausende der Vereisung gewesen und die Menschheit fristete ein elendes Sein. Seelen, reifere, ältere Seelen, die ihren Entwicklungsgang auf dem nun erloschenen Monde begonnen hatten, mußten ihn auf der Erde vollenden oder, ihn nicht rechtzeitig vollendend, wieder ruhen, bis auf einem weiteren Wandelstern jene Verhältnisse geschaffen waren, die ein Fortsetzen der Entwicklung ermöglichten.

Er tat einen tiefen Trunk. Das Leben im Stofflichen war schwer, hart der Kreislauf des Seins, unerbittlich die Gesetze. In der Stille des Gemachs über das Zeitbuch geneigt, schien ihm bitter, was ihn sonst begeistert hatte: der weite Ausblick auf unbegrenzte Erfahrungen. Rauh mochte der Weg sein, aber um jede Krümmung lag Neues, und dem Wachstum der Seele war kein Ende gesetzt.

Wieder tat er einen tiefen Zug aus dem Zinnkrug. Er fühlte sich müde, und ihn fröstelte, obschon die Luft sommerlich mild war. Eine quälende Unrast wuchs in ihm, und die Gedanken an die ungeheuren Zeitabschnitte machten ihn erschauern, während sie ihn sonst zu Andacht stimmten.

Er drehte die Tafeln mit flüchtigem, wie nach innen gekehrtem Blick, fand keinen Ruhepunkt für seine Augen und murmelte:

»Als der Frühlingspunkt im Schützen lag, entwickelten sich Jagd und Fischfang, die Menschen hatten keine festen Wohnsitze; sie wanderten dahin wie Tiere, die Nahrung suchen …«

All das war ihm längst bekannt, zu oft blätterte er in diesem Buche, das seiner Rasse Aufstieg in allen Verzweigungen beschrieb, vom Dunkel der Eiszeit bis zum Mondeinfang und vom rauhesten Wandertum bis zur blendenden Entwicklungshöhe der Gegenwart. Sein Herz hing an Rasse, Sippe, Glauben. Was jenseits von diesen dreien lag, galt ihm als nichtbestehend; was sie bedrohte oder gefährdete, mußte vernichtet werden.

Ging nicht jemand unten durch den Torweg? Er lauschte angestrengt, glaubte, sich getäuscht zu haben. Kaburo war beim Feste, und wer sonst sollte seine selbstgewählte und ihm lieb gewordene Einsamkeit stören? Tafel auf Tafel umlegend, kam er zu den im Volksmund erhaltenen, von seiner Tochter emsig gesammelten Vorhersagungen, die meist von den kleinen Kindern beim Spiel gedankenlos gesungen wurden:

»Wenn ein König gelebt über hundert Jahr
und den Sternen Schwänze gewachsen …«

Unwillig blätterte er weiter, fand die Stelle:

»Noch lebt ihr, o Erdenkinder, im Zeitlauf des Zweifels, im vorletzten dieser Weltzeitläufte, doch bereitet euch vor: Es naht der Zeitlauf des Elends und der Zerstörung, der über vierhundert Jahrtausende, so wie wir Menschen sie zählen, dauern wird, eine lange und furchtbare Zeit auf diesem unserem Stern. Darum, o Menschen, bringt eures Wesens Tiefstes in Einklang mit dem Ewigen, denn nur starke Seelen werden siegreich durch den Schlamm von Leid und Verderbtheit schwimmen, wie Fische durch trübes verseuchtes Gewässer …«

Was mochte das sein? Wieder lauschte Ataxikitli angestrengt, sein Lesen und Sinnen jäh unterbrechend. Es war ihm, als erklängen Schritte auf den Fliesen zwischen Gartentor und Eingang, unsichere, zögernde …

Konnte sich ein Tapir von der Ebene heraufverirrt haben? Er lüftete den schweren Vorhang und starrte die Treppe hinab in das Dunkel des Torwegs. Nichts. Wie lautempfindlich und ruhelos er doch war! Verschreckt wie ein Kind, das durch dunklen Raum gehen muß …

Als er wieder auf die Tafel herabschaute, sprang ihm gleichsam ein längstvergessener Kinderreim entgegen, den auch er gesungen hatte, dessen Inhalt ihn jedoch in diesem Augenblick erschauern machte:

»Wenn der Schweigsame spricht
und der Schläfer erwacht;
geschwänzte Sterne einst geben Licht
und Sonnen leuchten um Mitternacht;
wenn silberne Vögel durchkreuzen die Luft
und Leichen steigen aus tiefer Gruft
zu heben Fels und Gestein:
da – wird euer Untergang sein.«

Tief bestürzt hielt er inne. Noch nie zuvor war ihm der tiefere Sinn zum Bewußtsein gekommen. Leuchteten nicht etwa Arototecs blendende Sonnen in jedem Haus, in jedem Torbogen der Stadt? Flogen nicht fischähnliche silberschimmernde Luftschiffe über die Ebene, sehr geschickt aus sehr leichtem Metall zusammengestellt und etwa drei Menschen fassend? Und versuchte der unheimliche Erfinder nicht Leichen in seinen Bann zu zwingen oder Erscheinungen durch Zauber aus Urteilchen wieder zu kurzdauernder stofflicher Form zu vereinen?

Da vernahm er ganz deutlich das Gleiten einer tastenden Hand über Gestein. Kein Zweifel war denkbar, jemand ging unten durch den Torweg und versuchte den Eingang zur Treppe zu finden. Dem Geräusch unsicherer Schritte folgte ärgerliches Gemurmel.

Ataxikitli schloß mit einem Seufzer über die unerwünschte Störung sein geliebtes Zeitbuch und breitete ein goldgesticktes Schutztuch darüber, ehe er den Vorhang lüftete und rief:

»Wer bist du, o Fremdling, der du noch vor der Stunde des Hellwerdens die beschauliche Ruhe meines Hauses störst?«

»Ich bin's, dein Vetter Haparu, aus dem Land der schwarzen Erde.«

»Tritt ein!«

Der nächtliche Besucher stolperte die Stufen empor. Seine Augen blinzelten trübe ins grelle Licht der künstlichen Sonne; aus seinem offenen Mund quoll der Geruch von Palmenwein, und aus seinen Gewändern stieg der süßliche, aufreizende Duft, der dem Heim des Genusses eigen war.

Ataxikitli wich mit einem Ausdruck des Ekels zurück, während der leicht trunkene Gast auf einen der blockartigen Steinsitze sank und undeutlich lallte:

»Laß dich nicht stören – – ich will nicht lange verweilen.«


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